# taz.de -- Energievorräte in der Ukraine: Mit Wolldecke und Dieselgenerator | |
> Weil sie im Winter mit mehr russischen Angriffen auf die Infrastruktur | |
> rechnen, sorgen Ukrainer*innen vor. Dabei sind sie überraschend | |
> optimistisch. | |
Bild: Reicht für ein paar warme Stunden: Diese Menschen aus Izjum haben derzei… | |
LUZK taz | Seit diesem Dienstag verkauft die Ukraine keinen Strom mehr. Das | |
Energieministerium teilte mit, dass der Stromexport Europa geholfen habe, | |
den Verbrauch russischer Energieressourcen zu reduzieren, und dass die | |
Ukraine in den Herbstmonaten bis zu einer Milliarde Griwna (umgerechnet | |
rund 28 Millionen Euro) mit Stromexporten verdient habe. | |
Doch nun muss das Land selbst sparen. Nach den Raketenangriffen vom 10. | |
Oktober, bei denen auch Wärmegeneratoren und Umspannwerke, wie das | |
[1][Wärmekraftwerk Burschtyn] in der Westukraine, getroffen wurden, wandte | |
sich der Bürgermeister von Luzk, Igor Politschuk, an die Bevölkerung mit | |
dem Aufruf, Strom einzusparen. Und obwohl in Luzk keine Raketen | |
eingeschlagen sind, versteht jeder, dass der Strom jetzt in anderen | |
Regionen dringender benötigt wird. | |
„Besorgen Sie sich zusätzliche Decken und Schlafsäcke. Bevorraten Sie sich | |
mit Feuchttüchern – mit denen kann man sich auch reinigen, wenn es keine | |
Dusche gibt. Kerzen sind empfehlenswert – sie geben nicht nur Licht, | |
sondern wärmen auch ein bisschen. Auch Powerbanks, Rundfunkempfänger und | |
viele Batterien sind unerlässlich. Wenn Ihnen kalt ist, können Wärmesalben | |
Sie schnell wieder aufwärmen. Man sollte sie auf den unteren Rücken | |
auftragen.“ Das sind Ratschläge, die Ukrainer aktuell im Internet zu Beginn | |
des Winters erhalten. | |
Gas sollte den Ukrainern ausreichend zur Verfügung stehen, davon sind | |
Experten und Verwaltungsbeamte überzeugt. Das Problem ist ein anderes. Seit | |
dem 24. Februar wurden in der Ukraine 322 Kesselanlagen, 10 | |
Energieschaltzentralen und zwei Wärmekraftwerke beschädigt. Und die Liste | |
wird jeden Tag länger. | |
## Mehr Gas, als sie brauchen | |
Einer der Gründe für die notwendige Zwangsevakuierung der Menschen aus dem | |
Osten des Landes war, dass es nicht mehr möglich war, sie dort mit Wärme zu | |
versorgen. Alle Strom- und Gasleitungen waren zerstört. Die Behörden | |
bereiten das Land auf russische Terroranschläge auf Kesselanlagen, | |
Kraftwerke und Energieschaltzentralen vor. | |
Im Energieministerium ist man der Ansicht, dass die Ukraine in diesem | |
Winter 11,7 Milliarden Kubikmeter Gas benötigt, 40 Prozent weniger als im | |
letzten Winter. In den unterirdischen Gasspeichern der Ukraine sind jetzt | |
noch 13 Milliarden Kubikmeter und zu Beginn der Heizperiode werden es 14,4 | |
Milliarden sein. | |
Der Konzernchef des staatlichen ukrainischen Gas-Netzbetreibers, Serhij | |
Makohon, hält es für realistisch, mit diesen Vorräten einen nicht allzu | |
kalten Winter zu überstehen, da der Gasverbrauch aufgrund der | |
kriegsbedingten Zerstörungen stark zurückgegangen ist. | |
Der Vorsitzende des parlamentarischen Energieausschusses, Andrij Gerus, | |
erwartet russische Raketenangriffe vor allem in den kältesten Monaten, von | |
November bis März. Die Regierung hat für den Fall des Beschusses mobile | |
Wasseraufbereitungsanlagen, Tanklastwagen, diesel- und gasbetriebene | |
Stromgeneratoren und Festbrennstoffkessel gekauft. | |
## Kommunistische Energiepreise | |
Energieminister Herman Haluschtschenko hat noch auf ein anderes Problem | |
aufmerksam gemacht: Wenn Russland im Winter den Gas-Transit durch die | |
Ukraine vollständig einstellt, wie es das nach den Sabotageakten an den | |
Nordstream-Pipelines versprochen hat, bräuchte Kyjiw zusätzliches Gas. Das | |
ist nötig, damit die Kompressoren den Druck im Gasleitungssystem | |
aufrechterhalten, damit dort weiter Gas transportiert werden kann. | |
Dabei ist Gas für die Bevölkerung der Ukraine nicht teuer, wenn man es mit | |
den Gaspreisen in Europa vergleicht. Im August hatte Präsident Selenski ein | |
Gesetz unterzeichnet, mit dem die Erhöhung der Preise für die Dauer des | |
Kriegszustandes und die ersten sechs Monate nach Kriegsende gedeckelt | |
werden: eine Erhöhung der Preise für Strom, Wärme, Warmwasser und Gas ist | |
somit nicht erlaubt. | |
So verkauft zum Beispiel der staatliche Monopolist Naftogaz im Oktober Gas | |
für 8 Hrywnja (umgerechnet 19 Cent) pro Kubikmeter. Das ist ein echt | |
„kommunistischer“ Preis, aber die Regierung hat ihn wegen der | |
katastrophalen Einkommensverhältnisse der meisten Ukrainer festgelegt. | |
In allen ukrainischen Großstädten hat Naftogaz die Versorgung um 10 Prozent | |
im Vergleich zum Vorjahr gesenkt. Einfacher ausgedrückt: in den Wohnungen | |
wird es kälter, weil, um Gas zu sparen, das Wasser in den Heizkörpern nicht | |
mehr so stark erwärmt wird. An den kältesten Tagen ist eine Absenkung der | |
Temperatur in den Wohnungen auf 16 Grad möglich. Oder auch eine | |
vollständige Abschaltung der Warmwasserversorgung. | |
## Folie statt Fensterscheiben | |
In Saporischschja – die Stadt liegt zurzeit direkt an der Frontlinie – hat | |
die Stadtverwaltung schon jetzt die zentrale Warmwasserversorgung | |
eingestellt. Jetzt muss jede Familie selber sehen, wie sie ihre Wohnung mit | |
Warmwasser versorgt. Damit kann die Stadt 15 Prozent ihres bisherigen | |
Gasverbrauchs einsparen. | |
Die lokalen Energieversorger bereiten sich auch auf den schlimmsten Fall | |
vor: dass die Heizkessel im Winter aufgrund von Gas- oder Strommangel und | |
niedrigem Wasserdruck ausfallen. Dann wird das Wasser aus den Leitungen | |
abgelassen, damit es nicht in den Rohren einfriert. | |
Boris Filatow, Bürgermeister der Frontstadt Dnipro, zieht verschiedene | |
Szenarien für das Verhalten der russischen Armee in Betracht. „Es wird | |
schwierig für sie, alle Heizkraftwerke und Wasserentnahmestellen der Stadt | |
gleichzeitig zu zerstören, und die Stadt hat ein System zur | |
Stromumschaltung“, so Filatow. Dnipro kauft derzeit | |
Hochleistungsgeneratoren, die bei Bedarf die Unternehmen bei der Wärme- und | |
Wasserversorgung unterstützen. | |
In der Hafenstadt [2][Mykolajiw] gibt es wegen des Dauerbeschusses in | |
vielen Häusern keine Fensterscheiben mehr. Die Behörden versuchen, diese | |
durch Folie zu ersetzen. „Dies mindert den Wärmeverlust für die Bewohner“, | |
sagt Bürgermeister Oleksandr Senkewitsch. Er hat versprochen, dass auf | |
jeden Fall die Heizkessel in Betrieb genommen werden, aber bittet die | |
Menschen sich im Falle eines Beschusses zu gedulden: Die Reparaturen | |
brauchen Zeit, in der die Einwohner von Mykolajiw zumindest nicht erfrieren | |
sollten. | |
## Heizkessel aus Deutschland | |
Andrij Sadowij, Bürgermeister der westukrainischen Großstadt Lwiw, rät den | |
Menschen, sich mit Brennholz zu bevorraten. Die Stadtverwaltung hat ein | |
Video aufgenommen, in dem die [3][Katze, die im Büro des Bürgermeisters | |
lebt], erklärt, wie man leichter durch den Winter kommt. | |
Und Kyjiws Stadtoberhaupt Vitali Klitschko rät zur Anschaffung warmer | |
Kleidung und Wolldecken. Die Behörden der Hauptstadt haben mobile | |
Heizkessel für den Notfall angeschafft und werden auch Wärmehallen | |
einrichten. Die Heizkessel und Generatoren haben sie beim deutschen | |
Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit angefordert. | |
In der Hauptstadt kann man zudem Büros schließen, die in der Heizsaison | |
ausschließlich durch ein Zentralheizungssystem versorgt werden. | |
Georgi Nikolajiw, Experte der Consultingfirma CBRE Ukraine, sagt, dass die | |
Stadt im Winter vorrangig Wohnungen, Krankenhäuser, Kindergärten und | |
Schulen heizen muss. Daher kann es passieren, dass Büroangestellte bei | |
strenger Kälte ins Homeoffice wechseln müssen, so wie sie es während des | |
Coronalockdowns getan haben. | |
In Schulen und Universitäten spricht man inoffiziell schon davon, dass | |
Schüler und Studierende nicht mehr lange offline lernen werden. Auch sie | |
werden wieder zu Homeschooling und Online-Lernen zurückkehren, um bei der | |
Beheizung von Bildungseinrichtungen zu sparen. | |
## Aus dem Land herrscht Zuversicht | |
Bereits im Sommer haben die Ukrainer damit begonnen, Dieselgeneratoren zu | |
kaufen, um sich zu Hause selber mit Strom versorgen zu können. Die Bewohner | |
von Mehrgeschossern, die vor 30 oder 50 Jahren gebaut wurden und nicht mit | |
eigenen Heizkesseln ausgestattet sind, kaufen elektrische Heizungen. Dabei | |
besteht allerdings die Gefahr, dass die alten Leitungen überlastet werden. | |
Sie müssen jetzt überprüft werden. | |
Orest Holjak, Mitarbeiter des Unternehmens Wolhynoblenergo, meint jedoch | |
beruhigend: „Wenn die Russen irgendwas zerstören, dann wird nach höchstens | |
ein paar Stunden der Strom aus einer anderen Ecke der Ukraine kommen.“ | |
Soziologen haben überraschend festgestellt, dass die Ukrainer dem kommenden | |
Winter optimistisch gegenüberstehen: 70 Prozent der Anfang September | |
befragten Bürger gaben an, dass sie mehr oder weniger auf mögliche | |
Heizprobleme vorbereitet seien. Am optimistischsten sind zu Beginn der | |
Kälterperiode diejenigen, die nicht in Städten leben. | |
Die Ukrainer bereiten sich auf den Plan B vor – wenn die Energieversorgung | |
für einen längeren Zeitraum unterbrochen wird. Die einen isolieren ihre | |
Wohnungen, andere treffen Absprachen mit Bekannten, die auf dem Land leben | |
und einen Ofen haben. | |
Neben dem Notfallrucksack für den Fall eines Luftalarms kann jede | |
städtische Familie einen weiteren Rucksack für die kalte Jahreszeit haben, | |
der Lebensmittelvorräte, eine Powerbank, Thermounterwäsche, eine | |
Taschenlampe, einen Gaskocher, Trockenbrennstoff, Kerzen und Streichhölzer | |
enthält. | |
Aus dem Russischen [4][Gaby Coldewey] | |
11 Oct 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.b92.net/eng/news/world.php?yyyy=2022&mm=10&dd=10&na… | |
[2] https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-08/ukraine-mykolajiw-krieg-beschus… | |
[3] https://www.tiktok.com/@lvivcitycat | |
[4] /Gaby-Coldewey/!a23976/ | |
## AUTOREN | |
Juri Konkewitsch | |
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