| # taz.de -- Geflüchtete in der Westukraine: Neu im eigenen Land | |
| > Russland bombardiert den Westen der Ukraine, der zuletzt sicher war. | |
| > Fliehen jetzt wieder mehr Menschen nach Westeuropa? Die meisten wollen | |
| > bleiben. | |
| Bild: Sich neu sortieren: Im Zentrum für Hilfsgüter in Luzk | |
| LUZK taz | Luzk im Nordwesten der Ukraine ist eine Stadt, in der | |
| überwiegend Ukrainisch gesprochen wird. Doch immer häufiger hört man jetzt | |
| auch Russisch, sei es im Supermarkt, auf dem Markt, an einem Fahrradständer | |
| oder einer Trinkwassersammelstelle. | |
| Es sind die Geflüchteten aus dem Osten, die Russisch mitgebracht haben. | |
| Niemand würde behaupten, dass sich hier alle darüber freuen würden, die | |
| Sprache des Aggressors zu hören. Doch zu Konflikten kommt es nicht. Zwar | |
| steht die Stadt vor großen Herausforderungen, um Tausende Geflüchtete | |
| unterzubringen. Doch diese Menschen sind auch Arbeitskräfte, die Luzk und | |
| die an Polen grenzende Region Wolhynien dringend brauchen. | |
| Auch der [1][Westen der Ukraine] ist von der neuen russischen Offensive | |
| betroffen. In der Stadt Lwiw schlugen mehrmals Raketen ein. In Luzk, 150 | |
| Kilometer nordöstlich von Lwiw, und in anderen Orten der Region herrscht | |
| ständiger Luftalarm. | |
| Der 20-jährige Dmitri Schkrob* trägt einen Bürostuhl in den Eingang eines | |
| mehrstöckigen Wohnhauses. Der Stuhl ist die erste größere Anschaffung an | |
| seinem neuen Wohnort. Am Vortag hat er sein erstes Gehalt in einer | |
| Produktionsfirma von Fahrzeugkabeln erhalten. Nach dem Ausbruch des Kriegs | |
| hat sein jetziger Arbeitgeber den Betrieb für einige Tage eingestellt. Seit | |
| er das Problem mit dem Luftschutzbunker gelöst hat, arbeitet der Betrieb | |
| wieder mit voller Kraft. | |
| „Ich bin mit meiner Mutter und meinem Bruder nach Luzk geflohen, als unser | |
| Heimatgebiet schon besetzt war. Von der Region Cherson über Saporischschja | |
| bis hierher haben wir zwei Wochen gebraucht. Schon als wir noch im Zug | |
| saßen, hat meine Mutter begonnen, Arbeit zu suchen.“ Um Geld betteln oder | |
| von staatlicher Hilfe abhängig sein, das wollten sie nicht. „Die paar | |
| Tausend Griwna, die Geflüchteten gezahlt werden, reichen ja nicht einmal, | |
| um für drei Leute Lebensmittel zu kaufen“, sagt Dmitri. | |
| Warum nicht Europa? | |
| Dmitri und sein Bruder sprechen gut Ukrainisch, ihrer Mutter fiel der | |
| Übergang schwerer. Untereinander reden sie Russisch, aber in dem halben | |
| Jahr, das sie jetzt hier in Luzk sind, hätten sie von den Einheimischen | |
| noch nie despektierliche Bemerkungen gehört, so Dmitri. Er erzählt von den | |
| wenigen Wochen unter russischer Besatzung und von seinem Großvater, der | |
| wegen „Haus und Hof“ geblieben sei. Gedanken, ins Ausland zu fliehen habe | |
| seine Familie nie gehabt. | |
| ## Ausharren, solange es geht | |
| Seit dem Beginn des Krieges war Luzk ein Knotenpunkt, über den die | |
| Ukrainer*innen in die Europäische Union reisten. Aus dem Süden oder | |
| Osten machten sie sich in den Westen des Landes auf und versuchten, hier | |
| einige Tage durchzuatmen oder einfach nur auszuschlafen. Dann fuhren sie | |
| weiter. Jetzt gibt es einige Faktoren, die sie von diesem Schritt abhalten. | |
| „Im Ausland kennen wir niemanden. Und wir werden ziemlich blöd dastehen. | |
| Denn in unserem Dorf im [2][Gebiet Cherson] war es schwierig, eine | |
| Fremdsprache gut zu lernen. In Luzk haben wir schnell eine Wohnung | |
| gefunden, ich und meine Mutter haben eine Arbeit bekommen, und mein Bruder | |
| geht in die Schule. Warum sollten wir jetzt irgendwo anders hingehen?“, | |
| sagt Dmitri. | |
| So denkt auch seine Kollegin Irina, die im selben Betrieb arbeitet. Sie | |
| stammt aus Charkiw und lebt jetzt mit ihrem Mann und zwei Kindern in einer | |
| kleinen Stadt rund 50 Kilometer von Luzk entfernt. Jeden Tag bringt ein Bus | |
| der Fabrik Irina zur Arbeit. Zu Hause bleibt nur noch Zeit, um Essen zu | |
| kochen und zu schlafen. Ihr Mann wurde, bereits an ihrem neuen Wohnort, | |
| eingezogen. | |
| Irina sagt, sie hätten sich absichtlich dafür entschieden, nicht in einer | |
| großen Stadt zu leben – dort koste das Leben mehr und es sei schwieriger, | |
| eine Wohnung zu finden. „Wir haben von einer Flucht nach Europa Abstand | |
| genommen, als wir Geschichten gehört haben, wie schwierig es ist, sich | |
| registrieren zu lassen und eine Unterkunft zu bekommen.“ | |
| Zwar seien die Deutschen und Tschechen sehr freundlich und hilfsbereit. | |
| „Aber wir haben beschlossen, in der Ukraine bis zum letzten Moment | |
| auszuharren. Im Ausland gibt es doch so viel Unbekanntes. Die Bedingungen | |
| hier und die Schönheit der Westukraine … im Vergleich mit unserem | |
| bombardierten Charkiw fühlt sich das hier wie das echte Europa an“, sagt | |
| Irina. | |
| Ella Libanowa, Direktorin des Instituts für Demografie und Sozialforschung | |
| (IDSS) in Kyjiw, sagt, dass rund 9 Millionen Ukrainer*innen ihr Land | |
| verlassen hätten – Menschen, die vor dem Krieg geflüchtet seien, oder sich | |
| im Ausland ein neues Leben aufbauen wollten. Männern zwischen 18 und 60 | |
| Jahren ist die Ausreise während des Kriegs untersagt. | |
| „Vor allem Bewohner*innen aus Großstädten wie Kyjiw und Charkiw sind | |
| ins Ausland gereist. Menschen aus kleineren Städten sind in die Westukraine | |
| gegangen. Das ist vielleicht die einzige positive Folge dieser Katastrophe. | |
| Wären die jungen Leute aus dem Donbass früher einmal nach Lwiw und Luzk | |
| gefahren und ihre Altersgenoss*innen aus Transkarpatien nach | |
| Tschernihiw und Luhansk, hätten sich der Osten und der Westen der Ukraine | |
| besser kennen gelernt“, sagt Libanowa. | |
| Die meisten Industriebetriebe in Luzk leiden massiv unter dem Krieg. Da | |
| sind nicht nur Unsicherheit und die Angst vor russischen Raketenangriffen, | |
| sondern auch die Abwanderung von Arbeitskräften ins europäische Ausland. | |
| Viele Männer im wehrfähigen Alter sind in der Armee, einige von ihnen sind | |
| im Krieg umgekommen. | |
| ## Durchschnittseinkommen: 230 Euro | |
| Der Mangel an Männern, die arbeiten können, ist in der Region Wolhynien vor | |
| allem auf dem Land spürbar. Bauern waren gezwungen, Erntehelfern 40 bis 60 | |
| Prozent mehr Lohn zu zahlen, damit sie diesen Job annehmen. | |
| Anna Stachornaja ist aus der russisch besetzten Stadt Enerhodar in den Ort | |
| Kowel im Gebiet Wolhynien gekommen – sie musste sich beruflich neu | |
| orientieren. In ihrer Heimatstadt war sie in der Verwaltung eines | |
| medizinischen Betriebs tätig. Nach ihrem Umzug musste sie den Umgang mit | |
| einer Strickmaschine lernen, um Arbeit in einer Näherei zu bekommen. | |
| Das sei typisch, heißt es dazu aus dem zuständigen Arbeitsamt. Derzeit sind | |
| in der Region Wolhynien, einer der kleinsten der Ukraine, 1.500 Stellen | |
| vakant. Gesucht werden vor allem Arbeitskräfte im Handel und im | |
| Dienstleistungsbereich sowie für technische Anlagen und Maschinen. | |
| Ein Problem: Das Durchschnittseinkommen liegt monatlich bei umgerechnet 230 | |
| Euro. Deshalb gehen die am besten qualifizierten Menschen auch weiterhin | |
| ins Ausland. Libanowa glaubt, dass die ukrainischen | |
| Arbeitsmigrant*innen nur nach Hause zurückkehren, wenn sie dort nicht | |
| weniger verdienen als im Ausland. Angaben des IDSS zufolge lebten und | |
| arbeiteten vor Beginn des Krieges zwei bis drei Millionen Ukrainer*innen | |
| im Ausland. | |
| „Mit der Rückkehr aller ist nicht zu rechnen, aber wenn mindestens | |
| eineinhalb Millionen kommen, ist das schon ein hervorragendes Ergebnis für | |
| unser Land“, sagt Libanowa. „Wir müssen eng mit den Emigranten in Kontakt | |
| bleiben, damit sich die Menschen als Ukrainer*innen und nicht vergessen | |
| fühlen.“ | |
| * Name geändert, da seine Verwandten in den besetzten Gebieten leben, und | |
| nicht gefährdet werden sollen | |
| Aus dem Russischen von Barbara Oertel | |
| 15 Oct 2022 | |
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| Juri Konkewitsch | |
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