# taz.de -- Ungarische Minderheit in der Ukraine: Uschhorods Bewährungsprobe | |
> Gut 100.000 Menschen in der Westukraine gehören zur ungarischen | |
> Minderheit. Sie sehen sich nun mit neuen Gesetzen zu Bildung und Sprache | |
> konfrontiert. | |
Bild: Blick aus dem Zug auf dem Weg von Kiew nach Uschhorod | |
USCHHOROD taz | Wer im Nachtzug von Kiew nach Uschhorod kurz vor dem | |
Sonnenaufgang einen Blick aus dem Fenster wirft, wird für sein frühes | |
Aufstehen belohnt. Bäche, die sich im Morgennebel durch bewaldete Täler | |
schlängeln, kleine Dörfer mit Holzhäuschen und gepflegten Gemüsegärten, ab | |
und zu mal ein Auto, das sich über eine mit Schlaglöchern übersäte enge | |
Straße plagt, und dann nur Wald und Wald und Wald. Kein Wunder, dass es | |
viele Menschen in der Ukraine in ihrem Urlaub in die Karpaten zieht. | |
Ein Hauch von Österreich empfängt den Besucher beim Gang durch Uschhorod. | |
Schuhmacherwerkstätten, Blumengeschäfte, eine „Kramnitza“, also ein | |
Kramladen, in dem es billige Kugelschreiber, „Papir“ und Plastikspielzeug | |
gibt, säumen die engen Gassen. Uschhorod ist inzwischen eine der | |
beliebtesten Städte der Ukraine. Zwar heulen auch hier täglich die Sirenen, | |
doch eingeschlagen hat eine russische Rakete während des Krieges nur ein | |
einziges Mal. | |
Über hundert Firmen aus der Ostukraine haben sich inzwischen im relativ | |
sicheren Uschhorod angesiedelt. Doch diese neue Popularität der Stadt hat | |
ihren Preis. Seit Kriegsbeginn sind die Mieten auf dem Wohnungsmarkt | |
beträchtlich angestiegen. Eine Dreizimmerwohnung kostet inzwischen 1.000 | |
Dollar. Und wer im Zentrum der Stadt am Ufer des Usch schlendert, bezahlt | |
für eine Kugel Eis zwischen 1 und 2 Euro. Und so kann hier nur gut leben, | |
wer Geld und einen Job hat. | |
Wer das nicht vorweisen kann, muss mit Hunderten in einer der | |
Massenunterkünfte in Sporthallen und Schulen leben. Bis zu 50.000 | |
Binnenflüchtlinge waren zeitweise in dieser 100.000-Einwohner-Stadt, | |
berichtet Josif Borto, Abgeordneter im Bezirksrat von Uschhorod, der taz. | |
## Unterkunft in der Universität | |
Auf einem großen Platz vor dem Institut für Wirtschaft und Handel der | |
Universität Uschhorod tollen Kinder. Sie haben in der Universität erst mal | |
eine Bleibe gefunden. Vorerst. Wie es nach dem 1. September, wenn die | |
Universität wieder ihren Lehrbetrieb aufnimmt, weitergehen wird, wird sich | |
zeigen. Alle sind sie ganz aufgeregt, scharen sich um eine Frau, Julia Dub, | |
die mit ihnen Spiele macht – mal wird gesungen, mal ein Ball geworfen, mal | |
wird über ein Rätsel nachgedacht. Keines dieser Kinder ist freiwillig nach | |
Uschhorod gekommen. Der Krieg hat sie ihrer Wohnungen beraubt, sie alle | |
sind mit ihren Eltern geflohen. | |
Mit mehreren Dutzend Freiwilligen hat Julia Dub angefangen, sich um | |
Flüchtlinge und vor allem deren Kinder in Uschhorod zu kümmern. Am Sonntag | |
hatten sie ein großes Fest veranstaltet, zu dem die Stadtbevölkerung und | |
die Flüchtlinge eingeladen waren. Gemeinsam wurden in Workshops praktische | |
Fragen des alltäglichen Lebens besprochen. | |
Die Anbindung der Binnenflüchtlinge an die einheimische Bevölkerung von | |
Uschhorod ist Julia Dub wichtig. Denn die erste Begeisterung, mit der man | |
die Flüchtlinge aufgenommen hat, ist vorbei. Und auch die Freiwilligen, die | |
Julia Dub unterstützen, werden weniger. Waren sie vor einigen Monaten noch | |
40 Freiwillige, sind sie jetzt nur noch 10, sagt Julia Dub. | |
Auf Dauer könne man in einer teuren Stadt eben nicht kostenlos arbeiten, | |
sagt sie und zeigt Verständnis für die Kolleginnen, die inzwischen wieder | |
gegangen sind. Dabei werden die Probleme eher mehr werden. Neben der | |
offenen Unterbringungsfrage ab Anfang September werden spätestens mit | |
Einbruch des Winters auch wieder neue Flüchtlinge aus dem Osten kommen. | |
Wenige hundert Meter weiter verteilt Margarita Artjuchowa Mittagessen. | |
Artjuchowa lebt vegan, sie koordiniert im ganzen Land das Projekt „Die | |
vegane Küche der Ukraine“. In acht ukrainischen Städten haben inzwischen | |
Privatleute ihre Küchen zur Verfügung gestellt, in denen täglich für das | |
Projekt gekocht wird. Jeden Tag geben sie einmal vor der Philharmonie von | |
Uschhorod Essen aus, veganes und vegetarisches. Und sie beliefern Soldaten | |
und Binnenflüchtlinge mit veganer Nahrung. Daneben halten sie Vorträge und | |
geben Kochkurse. | |
Zwischen 200 und 400 Mahlzeiten verteilen sie täglich landesweit. „Es ist | |
nicht leicht, in der Stresssituation des Krieges für eine vegane | |
Lebensweise zu werben“, sagt Artjuchowa. „Aber wir machen weiter unsere | |
Angebote. Und so kommen immer wieder neue Leute zu uns.“ Finanziert werde | |
ihre Arbeit von Stiftungen. | |
Wieder einige hundert Meter weiter startet die Aktivistin Galina Jarzewa | |
die [1][Aktion „Big City Ride“]. Mit Rockmusik, einer Radtour, dem Verkauf | |
von Getränken und Speisen und mit Spenden wird für die Armee und die aus | |
Transkarpatien stammenden Einheiten gesammelt. Mehrere hundert | |
Bürger:innen der Stadt begleiten die Aktion. | |
## Warten auf Kochtöpfe und Pfannen | |
Auch am Schupanatska-Platz versammeln sich mehrere hundert Menschen neben | |
der reformierten Kirche von Uschhorod. Die Gottesdienstzeiten sind in | |
ungarischer und ukrainischer Sprache angeschrieben. Geduldig warten die | |
Menschen in der Hitze, bis sie an der Reihe sind. Die Wartenden sind fast | |
ausschließlich Frauen. und sie wollen zur Ausgabestelle des Roten Kreuzes. | |
Jede erhält hier zwei Kochtöpfe, eine Pfanne, eine Kochplatte und zwei | |
Decken. Hier wird nur Russisch gesprochen. | |
Gut 100.000 Einwohner:innen von [2][Transkarpatien] gehören zur | |
ungarischen Minderheit, berichtet Josif Borto der taz. Er ist der Chef der | |
KMKS, der Partei der Ungarn der Ukraine, im Gebiet Transkarpatien, | |
stellvertretender Vorsitzender der Gesellschaft für ungarische Kultur im | |
Gebiet Transkarpatien und stellvertretender Fraktionsvorsitzender der | |
Partei der Ungarn der Ukraine im Bezirksrat Transkarpatien. | |
Immer wieder fällt der Name Uschhorod, wenn es um die | |
ungarisch-ukrainischen Beziehungen geht. So sorgten ein Sprachen- und | |
Bildungsgesetz, das die ungarische Sprache im öffentlichen Raum | |
zurückdrängt, zwei Brandanschläge auf das ungarische Kulturzentrum in | |
Uschhorod im Februar 2018 und die Ausgabe ungarischer Pässe an | |
ungarischstämmige ukrainische Staatsbürger für Konfliktstoff. Ebenso wie | |
der ungarische Premierminister [3][Viktor Orbán], der sich gegen die | |
antirussischen Sanktionen ausspricht und keinen Hehl aus seinem guten | |
Verhältnis zu Putin macht und der mit seiner Rhetorik einer | |
„Rassenvermischung“ polarisiert. Für viele Ukrainer:innen ist das ein | |
rotes Tuch. | |
Einem, dem es nicht gefällt, dass man beim Gespräch über die | |
ungarisch-ukrainischen Beziehungen immer wieder sofort auf Viktor Orbán zu | |
sprechen kommt, ist Dmytro Tuzhanskyj vom Uschhoroder Institute for Central | |
European Strategy. Wenn man über die ungarisch-ukrainischen Beziehungen | |
rede, so Tuzhanskyj, müsse man die Beziehungen der Ukrainer zu den Ungarn | |
in der Ukraine, der ungarischen Gesellschaft in Ungarn und der ungarischen | |
Regierung getrennt behandeln. | |
Es sei nicht richtig, so Tuzhanskyj, dass mit dem neuen Schulgesetz, das im | |
Herbst 2023 in Kraft treten soll, die ungarische Sprache aus den Schulen | |
der ungarischen Minderheit verschwinde. Von der ersten bis zur vierten | |
Klasse können alle Kinder in den Schulen der ungarischen Minderheit | |
weiterhin alle Fächer in ungarischer Sprache lernen. Ab der fünften Klasse | |
soll dann der Anteil des Unterrichts in Ukrainisch von 20 Prozent auf 40 | |
Prozent steigen. Und von der sechsten bis zur neunten Klasse auf einen | |
Anteil von 60 Prozent. | |
## Bilungualer Unterricht wäre gut | |
Tuzhanskyj sieht die Probleme bei der Umsetzung des Gesetzes. Er fragt | |
sich, wie das in der Praxis funktionieren solle, dass zwischen 20 und 40 | |
Prozent des Unterrichts in ukrainischer Sprache gehalten werden sollen. | |
„Heißt das, dass pro Unterrichtseinheit von 45 Minuten 9 beziehungsweise 18 | |
Minuten auf Ukrainisch gehalten werden und der Rest auf Ungarisch (oder | |
Slowakisch, Rumänisch et cetera)?“ Letztendlich werde es in der Praxis so | |
ablaufen, dass der Unterricht bilingual abgehalten werde, glaubt er. „Und | |
Bilingualität ist eine gute Sache.“ | |
Gleichzeitig bedauert Tuzhanskyj, dass es nicht genügend Kontakte zwischen | |
ukrainischer und ungarischer Zivilgesellschaft gebe. Regelmäßige Treffen | |
von Journalist:innen, verschiedenen Berufsgruppen beider Länder und | |
Aktivist:innen würden erheblich zur Entspannung der Lage beitragen. | |
Am schwierigsten sei sicherlich der Kontakt auf höchster Ebene, übernehme | |
Orbán doch in vielen Fragen das russische Narrativ. Aber auch da gebe es | |
erfreuliche Entwicklungen. So hat die ungarische Regierung erklärt, sie | |
werde für die Dauer des Krieges die Sprachenfrage nicht mehr ansprechen. | |
Außerdem hat Ungarn sich in jüngster Zeit, das heißt nach dem 24. Februar, | |
nicht mehr gegen eine Zusammenarbeit von Ukraine und Nato ausgesprochen. | |
Noch einmal zurück zu Josif Borto, dem Abgeordneten aus Uschhorods | |
Bezirksrat. Im Gespräch mit der taz legt er dar, dass die transkarpatischen | |
Ungarn auf eine tausendjährige Tradition des friedlichen Zusammenlebens mit | |
den anderen fast hundert Nationalitäten zurückblicken können. „Und dieses | |
Zusammenleben war und ist von Toleranz geprägt.“ | |
Gleichzeitig bedauert er gewisse Einschränkungen für die | |
Minderheitensprachen. „Ja, wir hatten das Recht, Ungarisch zu lernen und | |
Ungarisch in allen Bereichen des öffentlichen Lebens zu sprechen – nicht | |
nur zu Hause, sondern überall. Dieses Recht galt früher, die Ukraine hat es | |
garantiert, die Verfassung garantiert es. Die neuen Gesetze der Ukraine zu | |
Bildung und Sprache schränken dieses Recht ein.“ | |
## Kritik steht hintan wegen des Krieges | |
Doch mit dem russischen Angriffskrieg habe man sich entschieden, Kritik | |
hintanzustellen. „Russland ist der Aggressor, wir verteidigen die Ukraine“, | |
sagt er fest entschlossen. Die karpatischen Ungarn unterstützen die | |
ukrainische Armee, einige Ungarn kämpften in der ukrainischen Armee, die | |
ungarische Community in den Karpaten helfe den Binnenflüchtlingen aus dem | |
Osten des Landes. | |
Gleichzeitig lobt er die Zusammenarbeit mit Ungarn. So hätten die | |
regionalen ukrainischen Behörden mit ungarischen Behörden vereinbart, dass | |
ukrainische Binnenflüchtlinge in Ungarn arbeiten können, aber die Steuern | |
nach Transkarpatien gehen. Außerdem helfe Ungarn der Ukraine beim Export | |
von Getreide. So gebe es jetzt Transporte über Ungarn in den Hafen von | |
Split. | |
Am nächsten Abend geht es wieder mit dem Nachtzug zurück nach Kiew. „Ich | |
darf mal kurz um Ihre Aufmerksamkeit bitten“, wendet sich der Zugbegleiter | |
mit lauter Stimme an seine Fahrgäste. „Bitte werfen Sie keine Gegenstände | |
in die Toiletten. Sollte der Zug beschossen werden, legen Sie sich sofort | |
auf den Boden. Sollte der Zug evakuiert werden, dürfen Sie nur Ihre | |
Wertsachen mitnehmen. Die Koffer bleiben im Zug. Angenehme Fahrt.“ | |
15 Aug 2022 | |
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## AUTOREN | |
Bernhard Clasen | |
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