# taz.de -- Energieversorgung in der Ukraine: Angst vor der Kälte | |
> Die Stadt Wowtschansk war von Russen besetzt, wurde befreit – und muss | |
> nun wieder zittern. Denn es kommt kein Gas mehr an. | |
Bild: Die Menschen in der Ukraine bereiten sich auf einen kalten Winter ohne Ga… | |
WOWTSCHANSK taz | Das Zentrum der ostukrainischen Stadt Wowtschansk ist an | |
diesem Tag wie ausgestorben. Auf den langen geraden Straßen tauchen nur hin | |
und wieder versprengte Gestalten auf, einige davon haben offensichtlich | |
schon reichlich Alkohol intus. Es ist Mittag, aber schon jetzt haben alle | |
Läden zu. | |
Wowtschansk ist die Stadt in der [1][Region Charkiw], die der russischen | |
Grenze am nächsten liegt – etwa fünf Kilometer. Daher ist die Siedlung auch | |
nach der [2][Rückeroberung durch ukrainische Truppen] täglich Ziel von | |
[3][Angriffen]. Bis zum Ausbruch des Krieges lebten hier rund 17.000 | |
Menschen, davon sind schätzungsweise bis zu 5.000 übrig. Mit den | |
umliegenden Gemeinden sind es 36.000 Einwohner. Wowtschansk ist die einzige | |
Stadt in der Ukraine, die bislang direkt Gas aus Russland bezog. Doch seit | |
Ende Oktober fließt das Gas nicht mehr. | |
Die wenigen Passanten geben sich wortkarg. Die Angst, etwas „Falsches“ zu | |
sagen, ist deutlich spürbar. Viele hier haben Verwandte in der russischen | |
Grenzregion Belgorod. Und wer weiß schon, ob die Russen nicht versuchen | |
werden, Wowtschansk ein zweites Mal zu besetzen. | |
Eine Frau geht langsam die Hauptstraße entlang. Sie ist bereit zu reden, | |
möchte ihren Namen jedoch nicht nennen. Sie ist sich sicher, dass die | |
Gasleitung nicht durch Kampfhandlungen beschädigt worden sei. Die Russen | |
hätten das Gas absichtlich abgestellt. | |
## „Das Atmen ist leichter geworden“ | |
„Aber ich lebe in einem Privathaus mit Feststoffbrennkessel. Ich werde | |
trotzdem heizen können.“ Die Behörden hätten versprochen, denjenigen, die | |
es brauchen, Brennholz zu geben. Sie wolle hier bleiben, auch im Winter. | |
Schließlich habe sie noch eine Arbeit und auch während der russischen | |
Besatzung habe sie in der Stadt ausgeharrt. | |
„Die Russen haben die Bevölkerung hier normal behandelt. Aber die | |
Atmosphäre war bedrückend, vor allem, wenn die Soldaten uns anlächelten. | |
Das alles war so niedrig und ekelhaft. Ich war einfach nur angewidert“, | |
erzählt die Frau. Auf die Frage, was sich seit der [4][Rückkehr der | |
ukrainischen Truppen] nach Wowtschansk geändert habe, sagt sie: „Das Atmen | |
ist leichter geworden.“ | |
Bei dem 60-jährigen Rentner Aleksei Meschkow wird es kalt werden, obwohl | |
auch er in einem Privathaus lebt. Er überlegt, nach Charkiw in die Wohnung | |
seiner Tochter zu ziehen, die ins Ausland gegangen ist. | |
Es kursieren Gerüchte über eine kaputte Pipeline in Belgorod in Russland. | |
„Ein Freund hat mich angerufen. Die Leitung sei unterbrochen, auf der | |
anderen Seite. Anscheinend eine Granate. Angeblich haben Reparaturarbeiten | |
begonnen. Aber ob dann auch Gas fließt?“, fragt sich der Rentner. „Ich habe | |
mir das Pipelineschema angesehen. Zu uns führt nur eine Leitung, das war’s. | |
Die kann von dort auch einfach gesperrt werden.“ | |
Mit der Verschiebung der Front gen Norden und damit in Richtung der Grenze, | |
erzählt Meschkow, hätten viele Menschen aus Furcht vor Angriffen | |
Wowtschansk verlassen und seien auch nach Russland, zu Verwandten, | |
gegangen. „Ich selbst stamme aus dem Gebiet Belgorod, aber ich bin | |
geblieben. Und ich denke auch nicht daran, wegzugehen. Warum sollte ich? | |
Wer wird mich da ernähren? Hier habe ich wenigstens eine kleine Rente“, | |
sagt Meschkow. | |
In der Ferne ist das Grollen von Artillerie und Granaten zu hören. Tamaz | |
Gambaraschwili, der am 27. Oktober 2022 von Präsident Wolodymyr Selenski | |
zum Leiter der Militärverwaltung von Wowtschansk ernannt wurde, erzählt, | |
dass die Gasversorgung der Stadt schon lange zu schaffen mache. | |
Vor Jahren sei auf ukrainischer Seite ein Projekt für den Bau einer | |
Gaspipeline nach Wowtschansk entwickelt worden. Das Projekt wurde jedoch | |
nie umgesetzt, weil die Menschen die Verlegung von Röhren auf ihren | |
Grundstücken nicht zugelassen hätten. „Wir setzen jetzt unsere ganze | |
Hoffnung auf Stromnetze und feste Brennstoffe. Dennoch wird der nächste | |
Winter für die Bevölkerung hier extrem hart werden“, sagt er. | |
Gambaraschwili erzählt, dass Stiftungen, Freiwillige und die | |
Regionalregierung von Charkiw humanitäre Hilfe für die Stadt leisten. „Aber | |
um den Winter zu überstehen, brauchen wir jetzt Dickbauchöfen, elektrische | |
Konvektoren, Elektroherde zum Kochen, Gasflaschen, Öfen, warme Kleidung | |
und Decken.“ | |
## Hochhäuser sollen evakuiert werden | |
Das größte Problem der Stadt, sagt Gambaraschwili, sei die Nähe zur Grenze. | |
Die Russen könnten die Stadt praktisch mit jeder Art von Waffen angreifen. | |
Es sei sehr schwierig, zum normalen Leben zurückzukehren und den | |
Dienstleistungssektor wieder in Gang zu bringen. Offiziellen Angaben | |
zufolge haben derzeit fast 9.000 Häuser in Wowtschansk und 16 umliegende | |
Dörfer kein Gas. | |
Auch Elena Schapoval, Pressesprecherin der Gebietsverwaltung von Charkiw, | |
hält es für unmöglich, die Gasversorgung von ukrainischem Territorium aus | |
vor dem Einbruch der Kälte wieder aufzunehmen. „In den Hochhäusern wird es | |
keine Heizung geben“, sagt sie.„Ein Termin für die Evakuierung wird | |
demnächst bekannt gegeben.“ | |
Aus dem Russischen: Barbara Oertel | |
9 Nov 2022 | |
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## AUTOREN | |
Juri Larin | |
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