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# taz.de -- Ukrainische Gegenoffensive: Rückkehr mit Vorsicht
> Ukrainische Truppen befreien um Charkiw immer mehr Städte und Dörfer.
> Dort stoßen sie auf Minen und andere schreckliche Überraschungen.
Bild: Explosionen in Charkiw am frühen Morgen des 8. Oktober
Charkiw taz | Seit rund einem Monat läuft im Gebiet Charkiw die
Gegenoffensive der ukrainischen Streitkräfte. Seitdem wurden nach Angaben
der lokalen Behörden 525 der insgesamt 576 ehemals russisch besetzten
Siedlungen in der Region befreit. 51 Siedlungen im Osten des Gebietes
stehen noch unter Kontrolle der russischen Armee und damit 2,9 Prozent
aller Siedlungen des Gebietes. Die Russen kontrollieren vor allem das
Gebiet östlich der Stadt Kupjansk. Der Norden des Gebietes Charkiw ist
vollständig befreit.
Die militärische und politische Führung der Ukraine hatte nie die Absicht,
die Grenze nach Russland zu überschreiten. Darum kontrolliert die
ukrainische Armee jetzt zwar Grenzübergänge, ist aber nicht weiter auf
russisches Gebiet vorgestoßen. Die Russen jedoch beschießen weiterhin
Charkiw und Umgebung, wenn auch nicht mehr so intensiv. Sie benutzen dafür
vor allem Raketen, meist umgerüstete sowjetische Boden-Luft-Raketensysteme
vom Typ S-300 und in Iran hergestellte Shahed-Kamikaze-Drohnen.
So hat am 10. Oktober die Armee von Wladimir Putin von russischem
Staatsgebiet aus fünf Raketenangriffe auf Charkiw und einige weitere auf
das rund 60 Kilometer südlich der Stadt gelegene Kohlekraftwerk Smijiw
verübt. Alle Raketen zielten [1][auf Objekte der Energieversorgung und der
kritischen Infrastruktur (Hochspannungsleitungen, Umspannwerke,
Heizkraftwerke u. ä.]). Öffentlichen Angaben zufolge wurde dabei kein
einziges militärisches Objekt beschädigt bzw. war überhaupt Ziel russischer
Angriffe. Infolge des Angriffs war die gesamte Region Charkiw etwa 12
Stunden lang [2][ohne Strom, Telefonverbindung und Wasserversorgung]. Es
dauerte insgesamt zwei Tage, bis alles wieder funktionierte.
Die ukrainische Armee hat mittlerweile die wichtigsten Städte im Gebiet
Charkiw – Wowtschansk, Kupjansk, Balaklija, Borowa, Isjum – sowie die
Dörfer Kosatscha Lopan, Petschenihy und Welykyj Burluk zurückerobert. In
allen größeren Ortschaften bietet sich nach der Befreiung das gleiche Bild.
Überall haben die Russen Gefängnisse und Folterkammern für pro-ukrainische
Bürger, Aktivisten und Ex-Angehörige der Anti-Terror-Operation (ATO)
eingerichtet. In der Nähe sind auch immer [3][Grabstätten für ermordete
ukrainische Staatsangehörige].
## Gefesselte Leichen
So fand die Polizei in der vergangenen Woche drei an den Händen gefesselte
Leichen in Zivilkleidung, die Anzeichen eines gewaltsamen Todes aufwiesen,
unweit der Stadt Borowa in einer Ferienanlage. Dort war zuvor eine Einheit
der russischen Armee stationiert. Nach Aussagen zahlreicher Bewohner der
befreiten Regionen im Gebiet Charkiw haben russische Soldaten zudem im
großen Maßstab geplündert.
Auch die humanitäre Lage in den zurückeroberten Orten ist bedrückend. Die
Menschen in den besetzten Gebieten haben seit sieben Monaten keinen Lohn
mehr bekommen, Apotheken und Geschäfte waren fast überall geschlossen.
An den Kiosken, die immerhin noch Waren aus Russland erhielten, waren die
Preise um ein Vielfaches höher als der ukrainische Durchschnitt. So kostete
z.B. in Borowa ein halber Liter in Russland produzierte Coca-Cola 70
Hrywnja, umgerechnet 1,75 Euro. In normalen ukrainischen Supermärkten
hingegen ist er für nur 25 Hrywnja, also etwa 60 Cent zu haben.
Im Verlauf von zwei, drei Wochen hat die ukrainische Verwaltung in den
befreiten Orten die Strom- und Wasserversorgung sowie die
Telefonverbindungen wieder hergestellt. Am 13. Oktober wurde die Stadt
Isjum, in der eine der größten Gruppen russischer Soldaten stationiert
gewesen war, wieder ans Stromnetz angeschlossen. Die Ukrainische Post,
Ukrposhta, über die die Menschen Zahlungen wie Rente und Gehälter bekommen,
nimmt in den Dörfern und Städten die Arbeit wieder auf. Zurzeit warten die
Menschen noch darauf, dass die Gasversorgung wieder funktioniert, damit sie
bis zum Winter in ihre Häuser zurückkehren können.
Doch nach wie vor ist es auch in den Regionen Gebietes Charkiw, in denen
man aktuell von dem Beschuss nichts mehr mitbekommt, gefährlich. Wegen der
fortgesetzten Raketenangriffe, aber auch, weil die abziehenden Russen ihre
ehemaligen Stellungen sowie die Dörfer fast alle vermint haben, um den
Vormarsch der ukrainischen Armee zu verlangsamen. Das Gebiet Charkiw gilt
heute als eine der am stärksten verminten Regionen der Ukraine. Darum rufen
die Behörden die Menschen dazu auf, erst nach der vollständigen
Minenräumung nach Hause zurückzukommen. Eine überstürzte Rückkehr kann hier
immer noch lebensgefährlich sein.
Aus dem Russischen [4][Gaby Coldewey]
13 Oct 2022
## LINKS
[1] /Energievorraete-in-der-Ukraine/!5887592
[2] /Verschaerfte-russische-Angriffe/!5883965
[3] /Mutmassliche-Kriegsverbrechen/!5882057
[4] /Gaby-Coldewey/!a23976/
## AUTOREN
Juri Larin
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Lesestück Recherche und Reportage
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