# taz.de -- Faschismus in Europa: Die Scheu vor dem F-Wort | |
> Faschismus beim Namen zu nennen ist Teil des Kampfes gegen ihn. Heute | |
> erobert er keine Länder mehr, sondern setzt auf Angst und Ausgrenzung. | |
Bild: Giorgia Meloni läutet ihr erstes Kabinettstreffen ein | |
Lange gab es eine Scheu, das F-Wort zu verwenden. Es war eine Art von | |
Aberglauben dabei: Wenn man das Wort sagte, würde es real werden; besser | |
also, so ging das magische Denken, wenn man nichts sagte, dann konnte auch | |
nicht passieren. Die Scheu gibt es immer noch, in den Medien, in der | |
Politik, in privaten Konversationen. Und die Frage ist, wen man eigentlich | |
schützen will, wenn man es vermeidet, Faschisten Faschisten zu nennen. | |
Anders gesagt: Was ist der Schaden, publizistisch oder politisch, sehr viel | |
genauer und klarer zu sein in der Analyse dessen, was gerade an Faschismus | |
in Europa passiert, von Schweden bis Italien, Polen, Ungarn, Frankreich und | |
andernorts? Apropos Schaden: Man sollte Faschisten auf keinen Fall zu ihrem | |
Wahlsieg gratulieren, wie es Kanzler Scholz gerade getan hat im Fall der | |
[1][italienischen Premierministerin Giorgia Meloni]. | |
Das ist ein fataler Versuch, Ideologie mit den Mitteln der Politik zu | |
immunisieren, und führt nur dazu, Faschismus zu normalisieren. Als meine | |
Tochter den [2][Gratulations-Tweet von Scholz] sah, schrieb sie mir: Der | |
hat doch einen Schaden, kann man doch nicht machen. Ich finde das sehr | |
präzise und prägnant formuliert. | |
Faschismus ist in vielem eine schleichende Krankheit, sie nistet sich ein, | |
sie verbreitet sich langsam, sie verändert die Gesellschaft im Ton, im Tun, | |
im Opportunismus auch, in der Gefälligkeit derer, die die neue Normalität | |
mitmachen. Auch wenn man miteinander arbeiten muss, wie im Fall von Scholz, | |
sollte man jede Gelegenheit nutzen, die Unterschiede zwischen Demokraten | |
und Faschisten deutlich zu machen. | |
## Nicht länger expansiv, sondern kontraktiv | |
Und dabei hilft ein Blick zurück. Der historische Faschismus – in | |
Deutschland und Italien etwa in den 1920er und 1930er Jahren – zeichnete | |
sich unter anderem durch die Verherrlichung einer mythologischen | |
Vergangenheit aus, die Propaganda von „wir“ gegen „die“, einen | |
Antiintellektualismus, den hierarchischen Führerkult, eine Opferrhetorik, | |
die Rede von Sicherheit und Ordnung, von Arbeit und Disziplin; das führte | |
zu einem Weltkrieg und der Ermordung von sechs Millionen Juden. | |
Der Faschismus heute ist anders, und langsam zeigen sich seine neuen Züge. | |
Der Faschismus braucht etwa keine Eroberungen mehr – in Deutschland und | |
Italien in den 1930ern waren diese geopolitischen Raubzüge | |
Kolonialverbrechen mit Verspätung. | |
Heute ist der Faschismus nicht expansiv, sondern kontraktiv, das Land zieht | |
sich zusammen, es schützt sich, merkantilistisch durch eine Handelspolitik, | |
die nationalen Egoismus an die erste Stelle setzt – in Italien heißt das | |
Wirtschaftsministerium nun „Ministerium der Unternehmen und des Made in | |
Italy“, das Landwirtschaftsministerium trägt in seinem Namen die | |
„Souveränität über Lebensmittel“. | |
Die Nation also als Schutzraum vor der Gegenwart – und jedes Individuum | |
Teil eines größeren Ganzen. Denn Faschismus war immer eine Ideologie, die | |
den ganzen Menschen wollte – er bedeutet eine Dominanz des Lebens über das | |
Leben. Es gibt keine Trennung von privatem und öffentlichem Ich im | |
Faschismus, sondern es gibt nur das eine Subjekt, das zum Volk gehört. | |
Damit ist eine wesentliche Errungenschaft und Vereinbarung der liberalen | |
Demokratie aufgehoben – die individuelle Freiheit als Grundlage der | |
öffentlichen Ordnung. | |
## Auf Angst und Ausgrenzung setzende Rhetorik | |
Der Faschismus ist, obwohl Faschisten immer von Sicherheit und Ordnung | |
reden, das Gegenteil dieser Ordnung. Die Rhetorik ist eine von Angst und | |
Ausgrenzung, die Programme beschreiben eine bedrohte Ordnung und | |
formulieren simplifizierende Lösungsversprechen. Zentral für den Faschismus | |
ist es, die Komplexität der Welt radikal zu reduzieren. Das funktioniert am | |
besten, wenn man auf Emotionen setzt statt auf Rationalität. Die | |
faschistische Ordnung ist damit eine grundsätzlich andere. | |
Sie wird verordnet, sie will sittlich oder im Fall von Italien christlich | |
sein: Moral geht vor Recht. Eine prototypisch faschistische Maßnahme etwa | |
ist das, was die [3][neue Regierung in Schweden] gerade vorhat, ein rechtes | |
Bündnis, das nur an der Macht ist, weil die faschistische Partei der | |
Schwedendemokraten sie unterstützt: Menschen ohne schwedischen Pass droht | |
die Abschiebung, wenn sie, wie es heißt, einen „mangelhaften Lebenswandel“ | |
pflegen oder sich „in einer Weise verhalten, die der Bevölkerung | |
missfällt“. | |
Die Sicherheit des Rechts, das die Bürger*innen ja auch voreinander und | |
vor dem Staat schützt, wird dadurch ausgehebelt. Der Volkswille regiert. | |
Denunzianten gegen Demokraten. Und so funktioniert der Faschismus heute oft | |
weniger über sichtbare und mehr über unsichtbare Machtausübung oder besser: | |
Gewalt. Die Werte mögen die gleichen sein, Gott, Familie, Vaterland, wie es | |
die faschistischen Brüder Italiens von Giorgia Meloni formulieren, ganz im | |
Geist von Benito Mussolini – die Wirkweisen aber sind andere. | |
Es ist bislang eine Art Trickle-down-Faschismus, der sich langsam seinen | |
Raum nimmt in den Gesellschaften, eine Grundhaltung des Verdachts statt des | |
Vertrauens. Die Faschisten von heute haben gelernt, die Prinzipien der | |
liberalen Demokratie zu benutzen, um sie auszuhöhlen und abzuschaffen. Das | |
Recht etwa oder die Rechtsprechung, das sie als antiliberales Mittel | |
entdeckt haben, die USA sind dafür ein Beispiel. | |
Ein mir bekannter Professor an einer akademischen Institution erhielt | |
neulich eine Anfrage von der AfD, wie viel Geld für die Forschung zur | |
[4][Critical Race Theory] verwendet wird. Er lehnte es ab, sich zu äußern. | |
Andere werden es nicht tun. Das sind Grenzen der Freiheit der Forschung. | |
Wenn sie einmal eingerissen sind, ist es schwer, weiteren | |
Grenzüberschreitungen zu widerstehen. Diese Grenze ist der Faschismus – um | |
ihn zu bekämpfen, muss man ihn benennen. | |
26 Oct 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Politologin-ueber-Giorgia-Meloni/!5879216 | |
[2] https://twitter.com/bundeskanzler/status/1583906804630949889 | |
[3] /Wahlergebnisse-in-Schweden/!5881812 | |
[4] /Critical-race-theory-in-den-USA/!5816079 | |
## AUTOREN | |
Georg Diez | |
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