# taz.de -- Bürgermeisterin in Berlin-Mitte: Die Chance auf einen Neuanfang | |
> Stefanie Remlinger soll Nachfolgerin des abgewählten Grünen Stephan von | |
> Dassel werden. Die jetzige Schulstadträtin muss die Bezirkspolitik wieder | |
> einen. | |
Bild: Einer Baustelle gleicht derzeit auch die Bezirkspolitik in Mitte. Stefani… | |
BERLIN taz | Einmal im vergangenen Sommer steht Stefanie Remlinger [1][auf | |
einer Schulbaustelle in Mitte]. Es sind noch Ferien, und sie, die an diesem | |
Donnerstag Bürgermeisterin werden soll, ist da erst seit wenigen Monaten | |
Schulstadträtin des Bezirks. Die Grünen-Politikerin hat zum Termin mit der | |
taz gleich noch zwei Leute aus dem Bezirksamt mitgebracht, „damit Sie ein | |
möglichst genaues Bild bekommen, was hier passiert“. Am Ende verlässt man | |
die Baustelle mit dem Eindruck, dass da zumindest eine Schulstadträtin ist, | |
die sich bemüht, und das ist ja schon mal nicht wenig. Eine, der die | |
Missstände tatsächlich Schmerzen bereiten. | |
Da ist zum Beispiel die [2][Anna-Lindh-Schule] in ihrem Bezirk, die wegen | |
verschleppter Sanierung zu einem krassen Havariefall wurde und jetzt wegen | |
massivem Schimmelbefall in ein unzureichendes Bürogebäude ausgelagert ist. | |
Die Lehrkräfte schrieben kürzlich in einem Brandbrief von unhaltbaren | |
Zuständen: „Wir sind erschöpft.“ | |
Angefasst wirkend schreibt die Schulstadträtin zurück, da ist sie | |
eigentlich mit einer Corona-Infektion krank zu Hause: „Bitte seien Sie mit | |
mir optimistisch. Und bitte lassen Sie nicht nach in Ihrem Fordern.“ | |
Auch Remlinger ist eine, die nicht nachlässt. Die einfach immer | |
weitermacht, scheinbar unermüdlich, auch Rückschlägen zum Trotz. Als sie | |
2011 ins Abgeordnetenhaus gewählt wurde, grub sie sich mit viel Energie in | |
die Bildungspolitik hinein, die sie auch schon vorher umtrieb: zunächst | |
noch im politischen Ehrenamt, als Pankower Bezirksverordnete, und ab 2009 | |
als Sprecherin der Landesarbeitsgemeinschaft Bildung bei den Grünen. | |
Remlinger hört man die Heimatgemeinde bei Stuttgart deutlich an. Dabei | |
wohnt sie schon seit 1999 in Berlin. Sie wurde dann bildungspolitische | |
Sprecherin ihrer Fraktion im Abgeordnetenhaus. Man rief sie gern an, wenn | |
man als Journalistin etwas wissen wollte: vor allem zum Schulbau oder wenn | |
es um die Schuldigitalisierung ging, die ihr anderes Steckenpferd ist. Oder | |
einfach zur jüngsten Idee der Bildungssenatorin. Denn klar war: Im Gespräch | |
mit ihr kommt schon ein guter Punkt – auch wenn pointiertes Reden nicht | |
unbedingt ihre Stärke ist. | |
## 2021 nicht erneut ins Abgeordnetenhaus | |
Die Partei dankte ihr das Fachwissen nicht. Aber darauf kommt es bei | |
Machtpolitik ja ohnehin immer am wenigsten an. Bei der Abgeordnetenhauswahl | |
2016 degradierte man sie zur Sprecherin für berufliche Bildung. Die im | |
starken linken Flügel des Landesverbands besser vernetzte Kreuzbergerin | |
Marianne Burkert-Eulitz wurde zuständig für das wichtige schulpolitische | |
Sprecherinnenamt. Bei der Wahl 2021 reichte der Listenplatz 17 für die | |
51-jährige Reala nicht mehr für einen Einzug ins Abgeordnetenhaus. Sie | |
selbst hatte Platz 7 angestrebt – doch dort wollte die Partei lieber eine | |
21-Jährige. | |
Dann aber besann sich Remlingers Partei doch noch auf die nutzbare | |
Expertise der Frau, von der viele sagen, dass sie so verlässlich wie | |
beharrlich zu ihrer Meinung steht, auch wenn sie nicht populär ist. Bei | |
[3][einem Grünen-Landesparteitag zum Thema Bildung] vor vier Jahren etwa | |
warnte sie all jene, die mehr Bildungsgerechtigkeit mit einer erneuten | |
Reform der Schulstruktur verbinden und das Gymnasium am liebsten abschaffen | |
wollten. Das würde zu einem „Schulkrieg“ führen, sagte Remlinger damals, | |
wohl wissend, dass sie für diese Wortwahl von anderen Delegierten heftig | |
kritisiert werden würde. | |
Remlinger, die Diplom-Kulturwirtin, wurde Schulstadträtin in Mitte. Und | |
auch wenn sie diesen Job im Prinzip einer Niederlage zu verdanken hat, | |
merkt man ihr das zumindest nicht an, wenn man sich mit ihr zum | |
Baustellenrundgang verabredet. Sie macht einfach weiter, bringt ihre Leute | |
mit, geht ins Detail, erklärt Baupläne. | |
Sie könne Schwachstellen aufdecken und Probleme sehr direkt benennen, sagt | |
eine, die mit ihr lange eng im Abgeordnetenhaus zusammengearbeitet hat. | |
Remlinger habe wirklich Ahnung von den Untiefen der Schulbauoffensive, und | |
sie, die auch im Haushaltsausschuss saß, könne mit Finanzen umgehen. Sollte | |
sie am Donnerstag als Nachfolgerin [4][des in Bezirksparlament abgewählten | |
Stephan von Dassel] zur Bezirksbürgermeisterin gewählt werden, ist das von | |
Vorteil. Das Finanzressort in den Bezirken liegt stets beim Bürgermeister | |
beziehungsweise der Bürgermeisterin. | |
Was Remlinger vielleicht manchmal fehlt, bei aller Beharrlichkeit und | |
„Vision“, wie eine andere langjährige Wegbegleiterin sagt, ist Strahlkraft. | |
Die Fähigkeit des großen Auftritts. Ihre Ausführungen wirken manchmal ein | |
bisschen vernuschelt. Es fehlt, um ein gerade in Mode geratenes Wort zu | |
benutzen, ein klein wenig Wumms. Fachlich mögen ihre Ideen mitreißend sein, | |
aber das muss man eben auch erst mal verstehen. „Sie wird am Amt wachsen“, | |
sagt die politische Wegbegleiterin. | |
„Sie wird den Bezirk nach vorne bringen“, sagt eine andere. Ihre | |
Entscheidung, den ausgewiesenen Schulbauexperten Mark Rackles zu ihrem | |
Chefberater für die kaputten Schulen in Mitte zu machen, sei so klug wie | |
pragmatisch gewesen: Rackles hat zwar ein SPD-Parteibuch. Aber er hat bis | |
2019 als Staatssekretär in der Senatsbildungsverwaltung die | |
Schulbauoffensive verantwortet. Eine rot-grüne Koalition auf Arbeitsebene, | |
mehr der Sache als dem Parteibuch verpflichtet. | |
Ob sie den zerrütteten, vom Von-Dassel-Trauma geschüttelten Kreisverband | |
der Grünen wieder einen kann? „Sie ist jemand, die auf Ausgleich bedacht | |
ist, und das kann in dem neuen Amt sicher nicht schaden“, hatte der | |
FDP-Bildungspolitiker Paul Fresdorf der taz gesagt, als die Grünen | |
Remlinger im September für das Bezirksbürgermeisterinnenamt nominierten. | |
## Auf einen Realo folgt eine Reala | |
Klar ist: In ihrem neuen Job wird sie mehr Probleme auf den Tisch bekommen | |
als Schulbau. Ein Verbot von Straßenprostitution, die Vertreibung von | |
Obdachlosen am Leopoldplatz: Der Ultra-Realo von Dassel hatte sich mit | |
seinen harten Positionen im linken Berliner Landesverband keine Freunde | |
gemacht. | |
Und Remlinger, die Reala, was wird sie machen, wenn die eigene Position der | |
Harmonie entgegensteht? Ist sie dann der Sache verpflichtet, wie bisher oft | |
zu beobachten, oder doch dem Ausgleich? Man wird es sehen. So ihr denn Zeit | |
bleibt, es zu zeigen – vermutlich steht Berlin im Februar ja die | |
Wiederholung der Wahl von 2021 ins Haus. | |
Möglich wäre auch – nach jetzigem Umfragestand der Grünen –, dass Remlin… | |
doch noch ein Mandat gewinnt und zurück ins Abgeordnetenhaus gehen könnte. | |
Doch warum die Hebel, wirklich etwas zu bewegen, für eine Nebenrolle in | |
einer linksdominierten Fraktion loslassen? Ginge sie wieder, wäre das eine | |
verlorene Chance auf einen guten Neuanfang der Bezirkspolitik in Mitte. | |
20 Oct 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Probleme-beim-Schulbau-in-Berlin/!5865647 | |
[2] /Berliner-Schulbauoffensive/!5498836 | |
[3] /Landesparteitag-der-Berliner-Gruenen/!5550139 | |
[4] /Abwahl-des-Buergermeisters-von-Mitte/!5880988 | |
## AUTOREN | |
Anna Klöpper | |
Stefan Alberti | |
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