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# taz.de -- „Alberghi diffusi“ in der Schweiz: Still und fast vergessen
> Das italienische Konzept, einsame Orte durch „verstreute Hotels“
> wiederzubeleben, ist in der Schweiz angekommen. In Corippo soll bald
> wieder was los sein.
Bild: Das Dorf Corippo im Tessiner Verzascatal
Man muss das Dorf Corippo im Tessin erstmal finden. Nach etlichen
Zugverspätungen erwische ich gerade noch den letzten Bus, der sich
spätabends von Tenero am Lago Maggiore aus auf etlichen Serpentinen in die
Höhe schraubt. Nach zwanzig oder dreißig Minuten entlässt er mich an der
Haltestelle Corippo Bivio in die nächtliche Dunkelheit. Würde mich nicht
mein Gastgeber Jeremy Gehring abholen, müsste ich jetzt mit meinem Gepäck
eine unbeleuchtete, kurvenreiche Landstraße hochlaufen.
Im Dorf angekommen, begleitet mich der Wirt in mein Zimmer in einem der
Rustici: dicke Wände, niedrige Decke, ein großes Bett, eine kleine
Nasszelle. Kein Tisch, kein Stuhl oder Schrank. Alles aus soliden
Materialien, geschmackvoll, aber spartanisch. Dafür blicke ich am nächsten
Tag von meinem kleinen Balkon in grüne Vegetation und blaue Berge.
Unten ducken sich Häuser aus Granitblöcken unter Dächern aus
aufeinandergeschichteten Steinplatten. Stille. Nur unterbrochen durch die
häufigen Glockenschläge. Für wen wohl so oft geläutet wird? Früher erfuhren
Angiolina, Martino, Siro oder Luigino, die einst in Corippo lebten und nach
denen die Hotelzimmer benannt sind, auf diese Weise, wie spät es ist. Als
das Dorf noch bis zu 315 Einwohner hatte, Landwirtschaft betrieb, das Leben
aber immer schwieriger wurde, sodass viele nach Kalifornien oder Australien
auswanderten.
Als 2017 ein paar Italiener auf Youtube ein Video vom Verzascatal posteten,
wo sie sich in die smaragdfarbenen Wasserbecken des Gebirgsflusses stürzen,
war es mit der Ruhe in dem Tessiner Tal vorbei. Zigtausende kamen am
darauffolgenden Wochenende, um „Le Maledive di Milano“ – die Mailänder
Malediven, wie sie das kleine Stück Schweiz bei Lavertezzo frecherweise
nannten – zu sehen.
## Fast ausschließlich Tagestouristen
„Der ganze Ort, alles war zugeparkt“, erinnert sich ein älterer Mann aus
dem Dorf. „Es gab ein riesiges Verkehrschaos.“ Mittlerweile hat sich die
Aufregung gelegt. Aber an schönen Sommertagen kommen immer noch unzählige
Abenteuerlustige, um vom Ponte dei salti, der fotogenen Brücke aus dem 17.
Jahrhundert, ins Wasser zu springen, auf den blankgewaschenen Felsen zu
chillen und sich dabei von schwäbischen Reisegruppen bestaunen zu lassen.
Immerhin, sollte man meinen, sei dadurch Leben in das entlegene Tal bei
Locarno gekommen und für das Auskommen der Einwohner gesorgt. Doch weit
gefehlt. Nach Lavertezzo kommen fast ausschließlich Tagestouristen. „Die
bringen sich meist ihr Sandwich von zuhause mit, machen ihre Selfies und
fahren wieder ab“, sagt Jeremy Gehring, der hier eine Alberghi diffuso
betreibt. „An Corippo fahren sie jedenfalls vorbei.“ Dabei gehört das
Nachbardorf nicht nur seiner Meinung nach zu den schönsten Dörfern im
Verzascatal.
Jeremy Gehring und Désirée Voitle sind Anfang 2022 mit ihrem kleinen Sohn
hierherzogen, sie haben damit die Einwohnerzahl um dreißig Prozent erhöht
und gleichzeitig den Altersdurchschnitt im überalterten Ort dramatisch
gesenkt. Sie sind gekommen, um das erste offizielle Albergo diffuso der
Schweiz zu betreiben, das im Frühjahr 2022 eröffnet hat. „Wir wollten schon
seit längerem ein Restaurant oder Hotel haben und haben im Radio von dem
Projekt gehört“, erklärt der gelernte Schweizer Koch. Er hat bereits in
Frankreich, Italien und Peru gearbeitet, während seine aus Lille stammende
Frau einschlägige Erfahrungen im Hotelfach mitgebracht hat.
Das Konzept, vom Aussterben bedrohte Orte durch „verstreute Hotels“ oder
Herbergen wiederzubeleben, stammt aus Italien. Als es in Friaul ein
schweres Erdbeben gab, haben viele Einwohner ihre Dörfer verlassen. Die
Häuser verfielen und mit ihnen ein zum Teil beachtliches architektonisches
Erbe. Um die Bewohner dazu zu bewegen, die Gebäude wieder aufzubauen,
schlug man ihnen vor, Ferienzimmer einzurichten. Damit könnten sie einen
Teil der Baukosten finanzieren. Ergänzen sollten sie eine Trattoria, eine
Bäckerei oder ein anderes zentrales Gebäude im Ort, wo die Besucher
verpflegt werden und gleichzeitig in Kontakt mit den Dorfbewohnern kommen.
Längst gibt es Alberghi diffusi in allen möglichen italienischen
Landesteilen. Von den Abruzzen über Umbrien bis Sardinien verteilen sich
die Mitgliedsbetriebe der italienischen Vereinigung Associazione Nazionale
Alberghi Diffusi (ADI). Sie verbinden den Charme historischer, oft
mittelalterlicher Bausubstanz mit einem ganzheitlichen,
ressourcenschonenden Tourismus. In ihrer 20-jährigen Erfolgsgeschichte hat
die Vereinigung stetig neue Mitgliedern gewonnen. Denn während viele
Großstädte aus allen Nähten platzen, hat die Landflucht unzählige Dörfer
entvölkert.
Damit verfällt nicht nur das mitunter reiche architektonische Erbe. Auch
die Lebensqualität der verbleibenden Menschen wird immer prekärer. Ein
Problem, das nicht nur Italien betrifft. Auch in anderen Ländern ist man
auf das italienische Modell aufmerksam geworden. Selbst in Japan gibt es
ein oder zwei assoziierte Mitglieder der Vereinigung. Außerdem wurden in
der Schweiz mehrere solcher Projekte in Angriff genommen. „Allerdings
erfüllen nicht alle die Bedingungen, um das Label der Vereinigung zu
bekommen“, erklärt Marco Molinari, Präsident der Corippo Stiftung. Wobei
der Begriff Albergo diffuso nicht geschützt ist.
## Gute Bedingungen in Corippo
Doch dem italienischen Konzept zufolge muss der betreffende Ort nicht nur
über eine historisch mehr oder weniger erhaltenswerte Bausubstanz verfügen,
sondern auch über eine Osteria, ein Restaurant mit Rezeption, also eine Art
Servicezentrum mit Gemeinschaftsräumen, das von den verstreuten Zimmern
fußläufig zu erreichen ist. So soll gewährleistet sein, dass Gäste und
Dorfbewohner miteinander in Kontakt kommen.
Corippo bot gute Bedingungen dafür. Doch bis es endlich soweit war, zogen
etliche Jahre ins Land. Schon 1976 wurde die Fondazione Corippo, die
Corippo-Stiftung gegründet, um das Dorf zu erhalten und mit neuem Leben zu
füllen. Vorher war es im Europäischen Jahr für Denkmalpflege und
Heimatschutz 1975 als historische Siedlung ausgewählt worden, um die
Schweiz zu repräsentieren. Mit Kapital vom Bund und dem Kanton Tessin
wurden konkrete Projekte wie Abwasseranlagen oder Parkplätze am Ortseingang
finanziert – in der Hoffnung, dass sich junge Familien ansiedeln würden.
„Aber das haben wir nicht geschafft“, räumt Molinari ein. Stattdessen seien
die Einwohner immer älter geworden und weiter abgewandert.
Ende der 1990er Jahre versuchte die Stiftung, aus Corippo ein
Reka-Feriendorf zu machen. Doch das Konzept, das einen Ausbau mit einem
großen Empfangsgebäude und neuen baulichen Elementen vorsah, wäre nicht mit
der architektonischen Tradition vereinbar gewesen und wurde nicht
genehmigt. Daraufhin trat der gesamte Stiftungsrat zurück. Nach einer Zeit
der Ratlosigkeit kam im neuen Stiftungsrat die Idee eines Albergo diffuso
auf und man bemühte sich um Subventionen. Es ging immerhin um eine
Investition von rund vier Millionen Schweizer Franken.
Als die Finanzierung stand, begannen 2020 unter der Leitung des inzwischen
verstorbenen Architekten Fabio Giacomazzi die Bauarbeiten. Sie verzögerten
sich nochmal durch die Pandemie, doch im April 2022 konnte das Albergo
diffuso schließlich öffnen. Dafür wurden zwölf Gebäude aufgekauft, zehn
Zimmer mit 22 Betten eingerichtet, denen weitere folgen sollen. Die vormals
geschlossene Osteria hat man zu einem Restaurant mit Rezeption umgebaut,
die alte Mühle und die Steinterrassen restauriert. Doch bei dem
ganzheitlichen Konzept geht es auch um die Landschaftspflege.
Marco Molinari erzählt von weiteren Vorhaben. Der Kastanienwald soll wieder
hergestellt und Obstbäume gepflanzt werden. „Wir wollen ja auch die
Landwirtschaft und die traditionelle Kultur wiederbeleben und einen
Produktionszyklus in Gang setzen“, blickt er in die Zukunft. Neben Mais
könne man zum Beispiel Roggen pflanzen, der in der alten Mühle zu Mehl
gemahlen und danach im restaurierten Backofen zu Brot verarbeitet wird.
Außerdem möchte die Stiftung eine private Dörrhütte aufkaufen, um darin
wieder Kastanien haltbar zu machen, die zu den traditionellen
Nahrungsmitteln der Gegend gehören.
Doch erstmal muss sich das Albergo diffuso bewähren. Nach Aussagen der
Betreiber ist es besser angelaufen als erwartet. Viele Schweizer seien
durch die Berichterstattung in den Medien neugierig geworden, aber auch
Gäste aus Deutschland, Italien, ja sogar eine Familie aus Indien sei
gekommen. „Durch die Pandemie wollen einfach immer mehr Menschen Urlaub
abseits der Zivilisation machen“, ist Jeremy Gehring überzeugt. „Doch die
Herausforderung ist der Winter. Wir wollen ja mehr oder weniger das ganze
Jahr offenbleiben, auch um unseren Mitarbeitern Arbeit zu geben“, ergänzt
seine Frau.
## Wandern, baden, mountainbiken
Und was machen die Gäste in Corippo? „Wandern, baden, Mountainbike fahren,
lesen, die Ruhe genießen …“, zählt der Gastronom auf. Ohne sein
hervorragendes Essen zu erwähnen, das sicher für viele wichtig ist. Ebenso
wie das Postauto, das fast stündlich die übrigen Orte des Verzascatals und
Locarno am Lago Maggiore ansteuert. Dabei ist die Benutzung der
öffentlichen Verkehrsmittel für Übernachtungsgäste im ganzen Tessin gratis.
So kann ich ohne Auto das wilde Gebirgstal entdecken. Wobei es viel schöner
ist, sich zu Fuß auf den Weg zu machen. Ich laufe gleich von Corippo aus
los, steige auf dem Wanderweg neben der Verzasca über Lavertezzo nach
Brione auf. Hier da und alte Rustici, die typischen Steinhäuser,
Wasserfälle, tiefe Schluchten und bizarre Granitfelsen, zwischen denen sich
das türkisgrüne Wasser des Gebirgsflusses hindurchschlängelt. Irgendwann
komme ich in Sonogno an, dem letzten archaischen Dorf im Tal mit einem gut
gemachten kleinen Museum.
Ja, doch: Das Konzept des Albergo diffuso überzeugt mich. Aber was sagen
die Anwohner? Manche, höre ich, sind skeptisch. Erst haben sie nicht
geglaubt, dass das Projekt, von dem jahrelang geredet wurde, tatsächlich
verwirklicht wird. Dann waren sie von den Bauarbeiten genervt. Ein älterer
Herr, der vor über einem Jahrzehnt aus Luzern nach Corippo gezogen ist,
freut sich indessen, dass er jetzt endlich in der Osteria seinen Wein
trinken und so gut essen kann. Aber ob das Albergo diffuso auf Dauer
funktioniert, müsse sich noch zeigen. Für den Standard, den die Zimmer
bieten, seien die Preise, die bei rund zweihundert Euro beginnen, doch
recht hoch. „Ansonsten ist es herrlich hier“, lautet sein Resümée. „Man…
alles, was man braucht. Es gibt ja das Internet und wenn man Kultur will,
ist man schnell in Locarno, Lugano oder Mailand.“
24 Sep 2022
## AUTOREN
Ulrike Wiebrecht
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