# taz.de -- Blühende Alpen: Schöne Orte guten Lebens | |
> Die traditionelle Kulturlandschaft der Alpen zeigt, dass der Mensch Natur | |
> tiefgreifend verändern kann, ohne sie zu zerstören. Ein Gespräch über | |
> Verödung der Dörfer, Verstädterung und die Gegenbewegungen | |
Bild: Wanderer in den Allgäuer Alpen | |
taz: Herr Bätzing, „Orte Guten Lebens“ ist der Titel Ihres neuesten Buches. | |
Beschreiben Sie uns einen solchen Ort. | |
Werner Bätzing: Ein Ort voller Menschlichkeit, wo nicht das ganze Leben auf | |
das reine Funktionieren reduziert wird und das Funktionieren noch ständig | |
in seiner Effizienz gesteigert wird. | |
Sind Sie Romantiker? | |
Es geht darum, dass die heutige postmoderne Welt diesen Effizienzdrang hat. | |
Die Alternative dazu ist meines Erachtens nicht die Romantik, sondern das, | |
was ich mit dem Begriff Reproduktion bezeichne. Neben der Produktion muss | |
die Reproduktion stehen. Wenn die Produktion verabsolutiert wird im Sinne | |
einer permanenten Effizienzsteigerung, dann geht der Mensch kaputt. | |
Psychisch und körperlich. Er wird dann praktisch nicht mehr kreativ und | |
nicht mehr innovativ. Viele Analytiker der Postmoderne sagen, dass die | |
Menschen von heute keine Widerständigkeit mehr haben. Weil sie überfordert | |
sind, weil sie nervös sind, weil sie hektisch sind, weil sie sich selbst in | |
den ganzen Prozessen nicht finden. Für mich wäre ein Element guten Lebens, | |
wenn eine Distanz zwischen mir und der Welt besteht, die aktiv wahrgenommen | |
wird. | |
In den Alpen haben Sie dieses gute Leben gefunden? | |
Ich habe im Alpenraum viele Orte kennengelernt, wo die Menschen noch auf | |
eine traditionelle Weise langsam arbeiten. Man merkt, dass sie nicht unter | |
dem Stress stehen, ihre Arbeitseffizienz permanent zu steigern. Und das ist | |
für mich ein traditionelles Bild von einem guten Leben. | |
Sie sprechen von einer Kultur der Talregionen, etwa dem abgelegenen | |
Sturatal im Piemont? | |
Mich interessiert die Welt der Alpen, die vom Menschen geprägt ist, wo | |
diese Interaktion zwischen Mensch und Alpen direkt fassbar ist. Zum | |
Beispiel in den südlichen piemontesischen Alpen. Ich hatte dort das Gefühl, | |
da kann man ein Stück weit dieses Mensch-Umwelt-Verhältnis erkennen, ohne | |
dass man erst einmal diese ganzen Geschichten des Tourismus freilegen muss, | |
denn den gab es dort nicht. | |
Wie verstehen Sie dieses Mensch-Umwelt-Verhältnis? | |
Damit meine ich ein nicht-technokratisches Umgehen mit Natur, das von | |
vornherein mit einer gewissen Zurückhaltung und Vorsicht operiert. Der | |
zentrale Punkt ist, dass der Mensch weiß, dass er in die Natur eingreift, | |
aber die letzten Konsequenzen seines Handelns in aller Klarheit nie wissen | |
wird. Er braucht viel Erfahrung, um angesichts dieser Unsicherheit halbwegs | |
so zu handeln, dass die Wirtschaft auf der einen Seite tragfähig ist und | |
andererseits die Konsequenzen berücksichtigt. Auf der gesellschaftlichen | |
Ebene sind damit ganz bestimmte Wertesysteme und auch Kontrollmöglichkeiten | |
verbunden. Dieses Handeln meint die drei Bereiche Gesellschaft, Wirtschaft, | |
Umwelt, die heute als magisches Nachhaltigkeitsdreieck formuliert sind. Die | |
traditionelle Kulturlandschaft der Alpen zeigt, dass der Mensch Natur | |
tiefgreifend verändern kann, ohne sie dabei zu zerstören. | |
Den gelungenen Naturumgang, das Modell, das Sie in der bäuerlichen | |
Landwirtschaft der Vergangenheit gefunden haben, kann das denn auch als | |
Leitlinie angesichts der globalen Entwicklungen funktionieren? | |
Ja, das ist meine grundsätzliche Überzeugung. Bauerngesellschaften haben | |
tief in die Natur eingegriffen und haben die Konsequenzen irgendwo in den | |
Griff gekriegt. Was man daran sehen kann, dass es viele Flächen in den | |
Alpenländern gibt, die seit tausend Jahren genutzt werden und heute immer | |
noch produktiv sind. | |
Aber mit der industriellen Revolution kommt ein ganz anderes Maß an | |
Naturzerstörung und Naturbelastung und auch Naturausnutzung? | |
Ja, und diese müsste man meines Erachtens ganz genauso mit dem Gedanken der | |
Reproduktion verbinden. Das heißt, ich muss die Konsequenzen meines | |
Handelns berücksichtigen und in das Wirtschaften mit einbeziehen. Da aber | |
die Industriegesellschaft nun global geöffnet ist, sind natürlich auch | |
globale Lösungsansätze nötig. Genauso wie die bäuerliche Gesellschaft | |
müsste auch die globale ihre Natureingriffe bewusst gestalten auf der | |
globalen Ebene bis runter zur lokalen Ebene, um unerwünschte Konsequenzen | |
wie Klimawandel und Treibhauseffekt zu verhindern. | |
Diese bäuerliche Kulturlandschaft der Alpen: Wollen Sie die retten oder ist | |
sie für Sie nur strukturelles Element, das heute trotz allem vorbei ist? | |
Ich will nicht die alte, traditionelle Kulturlandschaft retten. Wenn man | |
eine heutige angemessene Landwirtschaft macht, also eine Biolandwirtschaft, | |
und sich auf Regionalprodukte mit hoher Qualität konzentriert, wird die | |
Kulturlandwirtschaft anders aussehen als früher. Es ist aber nicht nur eine | |
ökologische Vielfalt, die mit diesem Wirtschaften verbunden ist, es ist | |
auch eine kulturelle Vielfalt. Diese sieht in den Alpen anders aus als am | |
Mittelmeer. Die anderen Erfahrungen schlagen sich auch in kulturellen | |
Unterschieden nieder. Damit habe ich letztlich auch den Bereich der | |
kulturellen Vielfalt gesichert, der heute mit der Globalisierung | |
kaputtgeht. | |
Und sehen Sie diese Entwicklung? | |
Es gibt viele gute Ansätze, aber insgesamt sind die Ansätze viel zu | |
schwach, um eine Veränderung zu bewirken. | |
Und in den Alpen? | |
Es gibt inzwischen viele relevante Netzwerke, die eine gute Arbeit und | |
Entwicklung machen. Ich würde sagen: seit Entstehen der Alpenkonvention, | |
als zum ersten Mal so etwas wie ein gemeinsames Dach des gesamten | |
Alpenraums entstanden ist, gibt es eine Vernetzung untereinander, die es | |
zuvor nicht gab, weil der Alpenraum sehr stark durch nationale Grenzen | |
untergliedert war. Und da hat man etwa gesehen: die Transitgruppen am | |
Gotthard haben die gleichen Probleme wie die am Brenner oder dem | |
Montblanc-Tunnel. Da sind eine ganze Reihe von Querverbindungen entstanden | |
in der Landwirtschaft, im Tourismus, im Handwerk, Transitverkehr. Aber | |
trotzdem sind solche Netzwerke die absolute Minderheit. In der Hauptsache | |
werden die Alpen durch Verstädterung einerseits und durch Entleerung ganzer | |
Regionen geprägt. Die Gegenbewegungen sind wie ein Tropfen auf dem heißen | |
Stein. | |
Beispielsweise Ihr Projekt Grande Traversata delle Alpi (GTA). Welche | |
Chancen für einen GTA-Tourismus sehen Sie? | |
Es wird mehr Regionen dafür geben. Das ist meine Analyse. 21 Prozent der | |
Alpenfläche entsiedeln sich, das sind Gebiete, wo die GTA durchführt, und | |
24 Prozent der Alpenfläche sind Gebiete, die wirtschaftliche Probleme haben | |
und von denen ein Teil von der Entwicklung abgehängt werden wird. Hier | |
könnte ein Tourismus in der Art der GTA Impulse geben. Insofern sehe ich | |
dafür noch größeren Bedarf. Wobei es wichtig ist, den Tourismus mit anderen | |
wirtschaftlichen Optionen zu koppeln. | |
Welchen Fortschritt möchten Sie in den Alpen erleben? | |
In jedem Fall muss die Landwirtschaft aufgewertet werden. Einen Teil der | |
Produkte kann man an die Wanderer verkaufen, der größere Teil muss an die | |
benachbarten Städte vor den Alpen verkauft werden. | |
Welche Zukunft wünschen Sie sich für die Alpen? | |
Ich würde mir wünschen, dass die Alpen Lebens- und Wirtschaftsraum bleiben. | |
Dass sie einerseits nicht komplett entsiedelt werden und auf der anderen | |
Seite nicht zu Vororten der außeralpinen Metropolen wie Wien oder München | |
oder Mailand werden. Dass sie ein relativ eigenständiger Lebens- und | |
Wirtschaftsraum in Europa bleiben. An der Basis: dass die Landwirtschaft | |
aktiv bleibt und dass sich auf dieser Landwirtschaft spezielle Handwerke | |
und industrielle Arbeitsplätze ansiedeln. Ich bin sehr für industrielle | |
Arbeitsplätze, denn das sind teilweise hoch qualifizierte Arbeitsplätze. | |
Und wenn bei modernen Industrien gewährleistet ist, dass sie nicht | |
umweltzerstörend wirken und Gifte absondern, bin ich durchaus dafür, dass | |
wir in den Alpen Industriearbeitsplätze haben. Ich denke mir einen | |
wirtschaftlich multifunktionalen Wirtschaftsraum Alpen. | |
Mit wandernden Urlaubern? | |
Die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise verunsichert die Leute. Die | |
Prognosen gehen dahin, dass im nächsten Sommer sehr viele Deutsche im | |
Nahbereich Urlaub machen und nicht mehr so weit wegfahren wie bisher. Und | |
dadurch, dass jetzt der Nahbereich immer attraktiver wird und die Menschen | |
durch die Krise verunsichert sind, wächst meine Hoffnung, dass sie wieder | |
vermehrt anfangen im Urlaub wieder eigene Erfahrungen zu machen, anstatt | |
sich ein komplettes, fertiges Urlaubserlebnis zu kaufen. | |
Alpeninitiativen | |
Alpenkonvention ist das Dach einer nachhaltigen Alpenpolitik. Sie ist ein | |
Staatsvertrag zwischen allen acht Alpennationen, 1995 trat sie in Kraft. | |
Die Konvention gibt die politische Richtschnur vor. Die | |
Durchführungsmaßnahmen sind in „Protokollen“ für einzelne Bereiche | |
(darunter Verkehrs- und Raumpolitik, Naturschutz, Energie und Tourismus) | |
festgelegt. Ein wichtiger Effekt der Alpenkonvention ist der Auftritt des | |
Alpenraums als eigenständige Region innerhalb der EU. | |
[1][www.alpenkonvention.org] | |
Cipra (Commission Internationale pour la Protection des Alpes, gegründet | |
1952) ist Informationsdrehscheibe und das wichtigste Netzwerk der meisten | |
Initiativen im Alpenraum. [2][www.cipra.org] | |
Alparc ist das Netzwerk zur Umsetzung der Alpenkonvention. | |
[3][www.alparc.org] | |
Regionalentwicklung fördert seit 1997 der Verein Alpenstadt des Jahres. Man | |
will beweisen, dass sich die Bereiche Ökologie, Ökonomie und Soziales | |
zukunftsweisend ergänzen. [4][www.alpenstaedte.org] | |
Die Kampagne „So schmecken die Berge“ der Alpenvereine zielt direkt auf den | |
Erhalt der Almen- und Bergbauernbetriebe. In derzeit rund 70 Berghütten | |
werden bewusst nur Lebensmittel aus der Region aufgetischt. | |
[5][www.alpenverein.de] | |
Pro-Vita-Alpina Das Netzwerk alpiner Kulturen ist untrennbar mit der Person | |
des umtriebigen Schriftstellers und Volkskundlers Hans Haid verbunden. | |
[6][www.cultura.at] | |
Alpeninitiative Um die Alpen vor dem Verkehr zu schützen, setzt sie auf | |
einen Gütertransit per Bahn und initiiert alljährlich spektakuläre | |
Aktionen. [7][www.alpeninitiative.ch] | |
Via Alpina gilt offiziell als Beitrag zur Umsetzung der Alpenkonvention. | |
Via Alpina meint fünf, insgesamt über 5.000 Kilometer lange Wanderwege in | |
den acht Ländern der Alpenregion mit 342 Tagesetappen. | |
[8][www.via-alpina.org] | |
5 Dec 2009 | |
## LINKS | |
[1] http://www.alpenkonvention.org/ | |
[2] http://www.cipra.org/ | |
[3] http://www.alparc.org+/ | |
[4] http://www.alpenstaedte.org/ | |
[5] http://www.alpenverein.de/ | |
[6] http://www.cultura.at/ | |
[7] http://www.alpeninitiative.ch/ | |
[8] http://www.via-alpina.org | |
## AUTOREN | |
Christel Burghoff | |
Edith Kresta | |
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Reisen in Europa | |
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