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# taz.de -- Rechte Anschlagserie in Berlin-Neukölln: Terroropfer gibt der AfD …
> Ferat Koçak sagt im Untersuchungsausschuss aus: Der Abgeordnete liefert
> sich Wortgefechte mit der AfD und kritisiert mangelnde Öffentlichkeit.
Bild: Ferat Koçak vor der ersten Sitzung des Untersuchungsausschusses Neukölln
Berlin taz | Es ist der Moment, vor dem sich Ferat Koçak gefürchtet hat.
2018 haben mutmaßlich Neonazis im Verlauf einer [1][jahrelangen
rechtsextremen Terrorserie], dem sogenannten Neukölln-Komplex, auch Koçaks
Auto direkt vor seinem Elternhaus angezündet. Vier Jahre später sitzt dafür
auch ein ehemaliger Kreisvorstand der AfD Neukölln auf der [2][Anklagebank]
des Amtsgerichts. Und nun, an diesem Freitag in der vierten Sitzung des
parlamentarischen Untersuchungsausschusses zur Neuköllner Terrorserie, soll
Koçak als Zeuge Fragen eines AfD-Mitglieds beantworten.
Der AfD-Abgeordnete Antonín Brousek scheint die Situation zu genießen. Als
Erstes fragt er nach den Vornamen von Koçaks Eltern, weil er diese
angeblich auch als Zeugen hören wolle. Koçak, der gerade erklärt hat, seit
dem Brandanschlag traumatisiert zu sein und dass seine Mutter ein paar
Wochen nach dem Anschlag einen Herzinfarkt hatte, sagt nur: „Das will ich
nicht beantworten.“
Dann als, Brousek direkt wieder ansetzen will, um nachzubohren, wird Koçak
etwas lauter: „Soll ich auch sagen, warum?“, fragt er wütend und holt dann
aus: „Auf der Anklagebank sitzt jemand, der zur Tatzeit im Vorstand der AfD
Neukölln war, mit Verbindungen zu zahlreichen anderen AfDlern – auch in
Uniform.“
In zahlreichen Skandalen des Neukölln-Komplexes spiele die AfD eine Rolle,
so Koçak, die AfD selbst sei Untersuchungsgegenstand: „Mir macht es Angst,
als Opfer eines rechten Brandanschlages jetzt Fragen zu beantworten von
jemandem einer rechten Partei mit Faschisten in ihren Reihen!“
Eindrücklich hat Koçak am Freitag in dem [3][Untersuchungsausschuss
Neukölln] über zwei Stunden lang die Geschichte geschildert, die ihn seit
mehr als vier Jahren heimsucht. Wie er im Februar 2018 nachts um drei
zufällig aufwachte und das Feuer vor seinem Elternhaus bemerkte. Wie er
schreiend seine Eltern weckte, seine Mutter zitterte und sein Vater
verzweifelt war. Wie er gerade noch mit einem Feuerlöscher verhindern
konnte, dass das Feuer auf das Haus übergreift. Wie ein Feuerwehrmann zu
ihm sagte, dass es fünf Minuten später für ihn und seine Eltern eng
geworden wäre.
## „Wir hatten Todesangst“
„Wir hatten alle Todesangst. Meine Eltern hätten sterben können, weil ich
mich politisch und gegen rechts engagiere“, sagt Koçak. Und er erzählt
davon, wie die Polizei noch in der Tatnacht nach einem möglichen
türkisch-kurdischen Konflikt als Hintergrund fragte, weil Koçak kurdische
Wurzeln habe. Und wie ihm die mangelnde Aufklärung der Terrorserie weiter
zugesetzt habe: Seinen Schock, als er erst durch die Presse erfuhr, dass
Tonbandaufnahmen existieren, die belegen, dass die Sicherheitsbehörden
wussten, dass er im Vorfeld des Anschlags von den mutmaßlichen
Täter*innen observiert wurde – und die Behörden ihn trotzdem nicht
warnten.
Seine komplette Darstellung des Anschlags und der mangelhaften Aufklärung
der Terrorserie liest Koçak ab. Nach der Befragung sagt er der taz, dass er
mit den Tränen kämpfen müsse, wenn er das alles frei erzähle. Trotzdem
schafft Koçak es während seiner Aussage und den anschließenden Nachfragen
und Antworten, ruhig und gefasst zu bleiben – auch wenn er darüber spricht,
dass die Befragung für ihn retraumatisierend sei und er bis heute schlecht
oder gar nicht schlafe. Seinen Alltag habe er nach behördlichen
Sicherheitsansprachen wegen der rechten Bedrohungen und ständigen Ängste
umgekrempelt. Ebenso gebe es mittlerweile mehrere Sicherheitsvorkehrungen
an seinem Elternhaus.
72 rechtsextreme Straftaten zählt die Polizei seit 2016 in Neukölln,
darunter 23 Brandstiftungen. Die Taten richteten sich größtenteils gegen
politisch Engagierte. Die Opfer engagieren sich zivilgesellschaftlich: in
Gewerkschaften, Parteien oder für Geflüchtete. Ein Teil der Taten seit 2016
wird derzeit vor Gericht verhandelt. Darüber hinaus rechnen
Aktivist*innen auch zwei Mordfälle zur Serie, von denen einer bis heute
komplett unaufgeklärt ist.
Naziterror gibt es in Süd-Neukölln allerdings schon deutlich länger. Nach
zahlreichen offenen Fragen und Ungereimtheiten hat das Abgeordnetenhaus vor
allem nach viel Druck von Betroffenen und antifaschistischen Initiativen
sowie anhaltenden Skandalen im Frühjahr den Untersuchungsausschuss Neukölln
eingesetzt, um Versäumnisse der Behörden aufzuklären. Zudem soll er sich
strukturell mit der Neonazi-Szene Neuköllns und deren überregionalen
Verbindungen beschäftigen.
## Viele Ungereimtheiten
Die gröbsten Versäumnisse neben der fehlenden Warnung des ausgespähten
Opfers Koçak: ein Staatsanwalt, der wegen mutmaßlicher AfD-Nähe vom Fall
abgezogen wurde. Ein in unmittelbarer Umgebung lebender Polizist mit
AfD-Mitgliedsausweis, der Polizeiinterna auch an einen der
Hauptverdächtigen durchgestochen hat. Ein vom Verfassungsschutz
beobachtetes Treffen zwischen einem Polizisten und einem der mutmaßlichen
Haupttäter. Und viele weitere sich scheibchenweise herausschälende
Versäumnisse, Missstände und Ungereimtheiten.
Koçak sagt am Freitag, dass für ihn vor allem vier Fragen entscheidend
seien: „Was hat der Staatsanwalt F. gemacht oder nicht gemacht, dass die
Aufklärung nicht vorangegangen ist?“ Wie sei der Vorfall in der Kneipe
Ostburger Eck zu erklären, wo der Verfassungsschutz einen Hauptverdächtigen
im Gespräch mit einem LKA-Beamten gesehen haben soll? Und: „Warum wissen
wir trotz Überwachung durch den Verfassungsschutz nicht, was die
Hauptverdächtigen in der Tatnacht gemacht haben?“ Und zuletzt: „Warum wurde
ich nicht gewarnt?“
Während die Abgeordneten der demokratischen Parteien sich von Koçaks
eindrücklichen Schilderungen sichtlich beeindruckt zeigten und respektvoll
nachfragten, war dem AfD-Abgeordneten Brousek die Frage nach Koçaks Eltern
noch nicht genug Provokation. In der zweiten Fragerunde beantragte der
AfD-Politiker sogar noch ein Ordnungsgeld für Koçak, weil dieser Brouseks
Frage zu seinen Eltern nicht beantwortet habe.
Dann beschimpft der AfD-Abgeordnete die übrigen Parlamentarier*innen
als „Laienschauspielertruppe“ und den Untersuchungsausschuss als
„McCarthy-Ausschuss“. Der Ausschuss-Vorsitzende Florian Dörstelmann (SPD)
zieht daraufhin das Wort an sich und antwortet Brousek, dass er nicht sehe,
dass Koçak gezwungen sei, die Frage nach seinen Eltern zu beantworten,
ebenso wenig die Verhängung eines Ordnungsgeldes. Daraufhin verzichtet
Brousek beleidigt auf weitere Fragen.
## Kritik an mangelnder Öffentlichkeit
Eine Randnotiz bei der Befragung am Freitag dürfte insbesondere den
Täter*innen wenig schmecken: Mit ihrem Terror wollten sie mutmaßlich
politische Gegner einschüchtern. Bei Koçak, der inzwischen für die Linke im
Abgeordnetenhaus sitzt, hat es das Gegenteil bewirkt, wie er am Freitag
sagt: „Meine Art, damit umzugehen, war, in die Offensive zu gehen.“
Eigentlich hatte er vor dem Anschlag für sich beschlossen, sich politisch
ein bisschen zurückzuziehen, sich mehr auf Privates zu konzentrieren.
Danach aber habe er eine Verantwortung gespürt, die Anschläge in die
Öffentlichkeit zu tragen. „Im Prinzip haben die Täter bewirkt, dass ich
noch aktiver geworden bin: Je mehr Hass ich erlebte, umso aktiver wurde
ich.“
Nach der Befragung sagt Koçak, dass diese anstrengend für ihn gewesen sei.
Er finde es schlimm, dass die AfD seine Eltern einladen wolle. „Damit
wollen sie mir eins reinwürgen.“ Er habe immer versucht, seine Eltern aus
der Öffentlichkeit herauszuhalten. Das Vorgehen zeige, dass die AfD
versuche, den Ausschuss zu sabotieren, so Koçak.
Umso dankbarer sei er für Solidarität auf zahlreichen Demos und in
Petitionen sowie die Unterstützung von Betroffenenorganisationen wie Reach
Out und der mobilen Beratung gegen Rechts, ohne die für ihn vieles schwerer
gewesen wäre. Auch am Freitag gab es eine kleine Kundgebung für Aufklärung
vor Beginn des Ausschusses.
Anlass dafür war im Vorfeld der Befragung auch erneute Kritik am Prozedere
des Untersuchungsausschusses: Zusammen mit weiteren Betroffenen hat Koçak
in einem offenen Brief bemängelt, dass der Ausschuss im Berliner
Landesparlament nur halb-öffentlich tagt. Unterschrieben haben das
Schreiben antifaschistische Aufklärungs-Initiativen,
Betroffenenorganisationen, zivilgesellschaftliche Bündnisse sowie nicht
zuletzt die Opfer der rechten Terrorserie selbst.
Im Schreiben fordern sie: „Die Öffentlichkeit im Untersuchungsausschuss
muss hergestellt werden.“ Wegen der Coronavorschriften dürfen
Bürger*innen und Journalist*innen den Ausschuss nur über einen
Stream in einem anderen Saal des Abgeordnetenhauses verfolgen. So lasse
sich nicht das gesamte Geschehen im Befragungsraum beobachten. Das
Abgeordnetenhaus verweise auf die Coronaregeln, da nur begrenzte Plätze für
den Saal zur Verfügung stünden.
Die Befragten und Betroffenen müssen sich den Abgeordneten alleine stellen;
mitbringen dürfen sie nur einen Rechtsbeistand, wird im Brief kritisiert.
Der AfD-Abgeordnete Brousek hat am Freitag bewiesen, inwiefern das
problematisch sein kann. In dem offenen Brief heißt es: „Nachdem Polizei
und Strafverfolgungsbehörden die Betroffenen des rechten Terrors in
Neukölln jahrelang allein gelassen hatten, sind diese jetzt gezwungen, sich
alleine den Fragen des Ausschusses zu stellen.“
16 Sep 2022
## LINKS
[1] /Rechter-Terror-in-Berlin-Neukoelln/!t5612550
[2] /Prozess-zur-Neukoellner-Terrorserie/!5874887
[3] /Neukoelln-Untersuchungsausschuss/!5878887
## AUTOREN
Gareth Joswig
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