# taz.de -- Deutsche Siedler in der Republik Moldau: Dörfer, die nach Hoffnung… | |
> Deutsche Siedler sollten die Region Bessarabien am Schwarzen Meer einst | |
> bewohnbar machen. Später fielen sie Stalins Deportationen zum Opfer. | |
Bild: Pjotr Feller und seine Frau Lydia vor ihrem alten Haus in einem Dorf in B… | |
Marianca de Sus taz | Ein dichter Grauschleier liegt über Marianca de Sus. | |
Zwölf Häuser bilden das Dorf, verteilt auf zwei Reihen, die sich | |
gegenüberstehen. Dazwischen: ein überwachsener Pfad, der das Dorf in seiner | |
ganzen Länge durchzieht. Hinter jedem Grundstück liegen weite Kartoffel- | |
und Maisfelder, die sich mit ihrem abgeernteten Erdbraun vom Himmel | |
absetzen. Ruinen von Gebäuden am Wegesrand lassen erahnen, dass es einmal | |
mehr Nachbarn gegeben haben muss. | |
Wo einst ein Haus stand, grasen nun ungestört Kühe. Gemeinsam mit Hühnern, | |
Gänsen und Hunden übertreffen sie die Zahl der Dorfbewohner:innen. An | |
diesem Morgen werkelt einzig Pjotr Feller in seinem Garten, der letzte | |
Deutsche in Marianca de Sus. | |
Marianca de Sus liegt in der historischen Region Bessarabien im Südosten | |
der heutigen [1][Republik Moldau]. Mit Beginn des russischen Angriffskriegs | |
auf die Ukraine ist der Landstrich in den öffentlichen Fokus gerückt: Eine | |
halbe Stunde vom Dorf entfernt, östlich des Flusses Dnjestr, liegt [2][das | |
von Moldau abtrünnige Transnistrien]. Russland hat seit 30 Jahren Truppen | |
in dem international nicht anerkannten De-facto-Staat stationiert und | |
versteht sich als regionale Schutzmacht. | |
Bessarabien war in der Vergangenheit schon häufig Schauplatz für Konflikte | |
zwischen europäischen Großmächten. Die Bevölkerung war dabei nur | |
Verhandlungsmasse. Je nach Machthaber wurden Menschen deportiert, fanden | |
zeitweise Zuflucht oder eine neue Heimat. Darunter auch Zehntausende | |
Deutsche. | |
## Fruchtbare Steppe | |
Bis zum Zweiten Weltkrieg war für Marianca de Sus der deutsche Name | |
Mariewka geläufig. Es war nur eines von Dutzenden Dörfern, die deutsche | |
Siedler:innen in Bessarabien aus dem Boden stampften. Als das Gebiet am | |
Schwarzen Meer nach dem Russisch-Türkischen Krieg 1812 dem russischen Reich | |
zufiel, war die fruchtbare Steppe als langjährige Pufferzone nur noch dünn | |
besiedelt. Zar Alexander I. ersann einen Plan, nach dem deutsche | |
Siedler:innen das Land wieder urbar machen sollten. | |
In Baden und Württemberg stieß er damit auf offene Ohren: Geschröpft von | |
den napoleonischen Kriegen und den Anfängen der industriellen Revolution | |
sowie diskriminiert wegen ihres protestantischen Glaubens machten sich | |
Tausende auf den Weg. Mit der Aussicht auf ein eigenes Stück Land und | |
Religionsfreiheit gründeten sie in ganz Bessarabien Siedlungen mit | |
verheißungsvollen Namen wie Hoffnungstal, Pharanowka oder Neu-Paris. | |
Über welche Umwege Pjotr Fellers Vorfahren ins Russländische Reich kamen, | |
kann er nicht mehr genau nachvollziehen. Durch den Hinterhof führt er | |
vorbei an Gänsen und Hühnern in sein Haus. Der hellblau gestrichene Bau | |
stammt noch aus den Anfangstagen des Dorfs Ende des 19. Jahrhunderts. | |
Fließendes Wasser gibt es nicht – der Nuschnik, ein Plumpsklo, leistet | |
immer noch seine Dienste. | |
Pjotr und seine Frau Lydia Feller bewohnen die drei Zimmer des Hauses | |
mittlerweile alleine. Ihre Kinder und Verwandten haben das Dorf verlassen, | |
gen Russland oder Deutschland. „Meine Familie kam 1963 aus Sibirien. Meine | |
Urgroßmutter war nach dem Krieg zufällig hier gelandet und schließlich | |
entschied mein Vater, dass wir alle herkommen sollten“, erklärt Pjotr | |
Feller, während er alte Fotos und Postkarten aus einer Blechkiste in seinem | |
Wohnzimmer zeigt. | |
Lachend kommt seine Frau hinzu und weist stolz auf die Kaffeedose in ihrer | |
Hand, die einen deutschen Schriftzug trägt: „Selbst unser Kaffee ist hier | |
deutsch!“ | |
## Sogenannte Auslandsdeutsche | |
Zu Hochzeiten lebten über 500 Menschen in Mariewka. In den 1920er Jahren | |
entstand gar ein Ablegerdorf unter dem Namen Neu-Mariewka einen Kilometer | |
weiter östlich. Nur wenige Jahre später waren die meisten Höfe verlassen | |
und die Felder überwuchert. Während des Zweiten Weltkriegs war das | |
strategisch günstig liegende Bessarabien – damals Teil des [3][Rumänischen | |
Königreichs] – zum Spielball der Großmächte geworden. | |
In einem geheimen Zusatzprotokoll des deutsch-sowjetischen | |
Nichtangriffspakts ordneten Hitler und Stalin die Sphären ihres Einflusses | |
in Osteuropa neu. Dabei wurde vereinbart, dass die sogenannten | |
Auslandsdeutschen im Baltikum, der Westukraine und Bessarabien ins Deutsche | |
Reich umgesiedelt werden sollten. | |
Für die Sowjets war damit der Weg frei, diese Territorien in die Union | |
einzugliedern. Die Deportation Hunderttausender Deutscher aus Osteuropa | |
propagierten die Nationalsozialisten unter dem Titel „Heim ins Reich“: | |
Dabei wurden die „Auslandsdeutschen“ weder in offizielles Reichsgebiet | |
umgesiedelt, noch war ihre Heimat so eindeutig – immerhin hatten die | |
Familien teilweise schon mehr als ein Jahrhundert in Bessarabien gelebt. | |
Statt ins Reich kamen die meisten von ihnen ins besetzte Westpolen, wo sie | |
ihre Pioniererfahrung in der Landwirtschaft einbringen sollten. | |
Buchstäblich von einem Tag auf den nächsten ließen sie ihre akkurat | |
bestellten Felder, Höfe und Tiere am Schwarzen Meer zurück – als | |
Entschädigung winkten den Bessarabiendeutschen große Landgüter im | |
Warthegau. Deren polnische Besitzer:innen kamen ins Konzentrationslager | |
oder wurden zu Knechten gemacht. | |
In der heutigen Republik Moldau muss man genau hinschauen, um noch Spuren | |
der deutschen Geschichte zu entdecken. Dorin Lozovanu, Geograf an der | |
Akademie der Wissenschaften in Chișinău, hat zu den deutschen Dörfern im | |
Land geforscht und sie kartografiert. Auf aktuellen Karten seien die | |
ehemals deutschen Strukturen noch gut zu erkennen, sagt er. | |
## Entstalinisierung | |
Deutsche Besiedlungen seien meist als strenges Straßendorf angeordnet | |
worden, in dem die Höfe im gleichen Abstand von einer Hauptstraße abgehen. | |
„Nach dem Zweiten Weltkrieg verschwanden viele Dörfer einfach von der | |
Landkarte; in anderen siedelten sich Menschen aus allen Teilen des Landes | |
an“, sagt Lozovanu. Erst im Zuge der Entstalinisierung ließen sich auch | |
wieder deutschstämmige Sowjetbürger:innen nieder. | |
Einer davon war Pjotr Feller. Seine Eltern waren Wolgadeutsche, die | |
ursprünglich in der Westukraine lebten. Kurz nach dem Überfall des | |
nationalsozialistischen Deutschlands auf die Sowjetunion 1941 fielen sie | |
als Angehörige der deutschen Volksgruppe der stalinistischen | |
Deportationspolitik zum Opfer und wurden nach Sibirien geschickt. „Meine | |
Familie sprach nie über die Deportationen. In Sibirien brachte mir aber | |
meine Großmutter zumindest noch Deutsch bei. In Marianca de Sus wurde dann | |
nur noch Russisch gesprochen“, sagt Feller. | |
Im Jahr 1963 durfte die Familie das Exil verlassen, kam aber nicht in die | |
Westukraine zurück. Kein Einzelfall, erklärt Forscher Lozovanu: „In einigen | |
Interviews, die ich mit deutschen Nachkommen geführt habe, war von der | |
sogenannten Kilometerregel die Rede. Das heißt, die Menschen mussten in | |
eine Gemeinde umsiedeln, die mindestens 50 Kilometer von ihrem eigentlichen | |
Heimatort entfernt war.“ Die verlassenen und nur spärlich wiederbesiedelten | |
ehemals deutschen Dörfer hätten sich dafür angeboten. | |
Neben den Fellers kamen noch weitere Familien mit deutschen Wurzeln aus der | |
Verbannung nach Marianca de Sus. „Nach und nach reisten die Menschen aber | |
Richtung Deutschland weiter“, sagt Pjotr Feller. Geht man mit ihm und | |
seiner Frau durchs Dorf, sind die Leerstellen sichtbar. Von den meisten der | |
einst über 80 Häuser ist nicht einmal das Fundament geblieben. | |
In den 90er Jahren seien Abbruchunternehmer gekommen, hätten unbewohnte | |
Häuser bis zum letzten Stein abgetragen und als Baumaterialien | |
weiterverkauft. An einem grasbewachsenen Hügel macht Lydia Feller Halt: | |
„Hier war die Kirche, in der wir geheiratet haben.“ Heute verweilt dort | |
eine Kuh zwischen zwei übriggebliebenen Betonsäulen. | |
## Heute gehen Menschen den umgekehrten Weg | |
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erging es Marianca de Sus wie vielen | |
Orten in der ländlichen Peripherie des unabhängigen Moldaus: Wer konnte, | |
zog in die Großstädte oder gleich ins Ausland. Für den Forscher Lozovanu | |
besteht darin ein Paradoxon der Geschichte: „Im 19. Jahrhundert kamen die | |
Menschen aus Deutschland, Österreich und sogar der Schweiz, um ihr Glück in | |
Bessarabien zu suchen. Heute gehen die Menschen den umgekehrten Weg.“ | |
Darauf angesprochen, was ihn im Dorf hält, antwortet Pjotr Feller: „Ich bin | |
der letzte Deutsche im Dorf. Es würde mich traurig machen, alles | |
zurückzulassen. Andere gehen einfach, ich kann das nicht.“ Das Ehepaar | |
bezieht eine kleine monatliche Rente vom Staat, ansonsten lebt es von dem, | |
was es selbst anbaut. Die nächste Bushaltestelle liegt rund eine Stunde | |
Fußweg entfernt im Nachbardorf Zaim. | |
An einer Stelle in Marianca de Sus werden die von den deutschen Siedlern | |
angelegten Hofreihen von einem Pfad durchschnitten. Der Weg führt hinauf | |
zum Friedhof – dem einzigen Ort im Dorf, der in den letzten Jahrzehnten | |
gewachsen ist. Die zahlreichen Grabsteine geben einen Hinweis auf die | |
bewegte Geschichte und wechselnde Bevölkerungsstruktur. | |
Im vorderen Teil befinden sich Gräber aus der Zeit seit der Unabhängigkeit, | |
teils mit Bilderreliefs und gepflegten Blumen. Dahinter folgen karge | |
sowjetische Gräber, oftmals nur mit Kreuzen aus zwei verschweißten | |
Aluminiumrohren verziert. Zuletzt liegen verwitterte Grabsteine über ein | |
Feld verstreut. Auf einigen ist noch Frakturschrift zu erkennen: Daten um | |
die Jahrhundertwende mit verblichenen Namen wie Wilhelm, Hermann und | |
Margarete. | |
20 Sep 2022 | |
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## AUTOREN | |
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