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# taz.de -- Bezahlte Proteste in Moldau: 20 Euro Demogeld
> Wegen hoher Energiepreise demonstrieren Tausende in der kleinen Republik
> Moldau. Eine prorussische Partei heizt die Stimmung zusätzlich an.
Bild: Manche bekommen Geld von der Șor-Partei: 20 Euro fürs Demonstrieren, 80…
Chișinău taz | Sie rufen „Schande“ und recken ihre Fäuste in die Luft. S…
schwenken blau-gelb-rote Flaggen, Moldaus Farben, und skandieren „Nieder
mit Maia Sandu“. Seit sechs Wochen demonstrieren Tausende Menschen in
Chișinău, der Hauptstadt der Republik Moldau. An manchen Tagen sollen es
sogar Zehntausende Demonstrierende gewesen sein. Sie sind gegen die
proeuropäische Regierung und fordern den Rücktritt der Präsidentin Maia
Sandu.
Die Proteste sind Ausdruck von Unzufriedenheit und der Verzweiflung armer
Menschen, die mit einer Inflation von mehr als 30 Prozent und hohen
Gaspreisen kämpfen. Sie zeigen aber auch, wie prorussische Kräfte
versuchen, Moldau zu destabilisieren und von seinem Westkurs abzubringen.
Denn einige der Demonstrierenden werden bezahlt. Das belegten zunächst
investigative Recherchen einer lokalen Zeitung, inzwischen geben einige
Demonstrierende es offen zu. Rund 20 Euro bekommen sie pro Tag. Wer in
einem der Zelte schläft, die die Protestierenden vor Regierungsgebäuden
aufgeschlagen haben, bekommt [1][bis zu 80 Euro]. Viel Geld: Laut den
aktuellsten Zahlen aus dem Juni liegt der Durchschnittslohn bei umgerechnet
558 Euro im Monat.
Moldau, ein Land mit 2,6 Millionen Einwohnern und etwa der Fläche von
Nordrhein-Westfalen, liegt zwischen Rumänien und der Ukraine. Amtssprache
ist Rumänisch, aber in der ehemaligen Sowjetrepublik sprechen viele
Menschen auch Russisch.
## Protest wegen hoher Energiepreise
Das Land gilt als das ärmste Europas und massenhaft wandern Menschen aus.
Zwar fehlen genaue Zahlen, doch laut Schätzungen leben etwa 45 Prozent der
Moldauer*innen im Ausland. Vor allem junge Menschen verlassen das Land.
Zu dieser ohnehin schon schwierigen Situation kommen nun die überall
schnell steigenden Preise. Bustickets etwa kosten dreimal mehr als noch vor
einem halben Jahr, insgesamt liegt die Inflation bei fast 34 Prozent. Das
treiben unter anderem die enormen Energiekosten an: Moldau ist vollständig
abhängig von russischem Gas. Doch [2][Gazprom hat im Oktober die Gaszufuhr]
um 30 Prozent gesenkt – angeblich wegen zu hoher Schulden Moldaus.
Die Armut und die Angst vor einem kalten Winter treiben die Menschen auf
die Straße – genau das nutzen jetzt prorussische Kräfte. Im Zentrum von
Chișinău sammeln sich an diesem Sonntag schon am frühen Nachmittag
Menschengruppen, um in Richtung des Präsidentenpalastes zu laufen.
Eine von ihnen ist Valentina, eine Rentnerin mit hellblauem Anorak und blau
geblümtem Kopftuch. „Die meisten Menschen in unserem Land finden, dass
unsere Regierung inkompetent ist“, sagt sie. Es gebe eine politische und
wirtschaftliche Krise, das Justizsystem sei korrupt. „Und absolut alle
machen sich Sorgen wegen der gestiegenen Energiepreise“, fügt sie hinzu.
Sie selbst bekomme ungefähr 200 Euro Rente und komme damit gerade so
zurecht. Im Ukrainekrieg nimmt sie Russland nicht als Aggressor wahr. Die
Ukraine sei ein faschistischer Staat.
## Parteivorsitzender Ilan Șor
Ein paar Meter weiter wartete Igor darauf, dass sich der Demonstrationszug
in Bewegung setzt. Er gibt freimütig zu, dass er bezahlt worden sei, um
heute am Protest teilzunehmen. Ungefähr 20 Euro bekomme er dafür. „Es geht
uns schlecht“, erklärt er. „Es ist unmöglich, von der Rente zu leben.“
Seine eigene betrage rund 100 Euro, sagt er. „Ich muss Strom und Gas
bezahlen und dann bleibt nichts mehr übrig. Und ich muss ja auch noch
essen.“
Hinter der Organisation der wöchentlichen Proteste steht die oppositionelle
Șor-Partei. Im [3][Juli 2021 bekam sie bei den Wahlen] 5,7 Prozent der
Stimmen und damit 6 der 101 Plätze im Parlament. Ihr Vorsitzender ist Ilan
Șor, ein Oligarch auf der Flucht. Interpol sucht ihn und angeblich hält er
sich in Israel auf.
Șor gilt als Mastermind des „Jahrhundert-Bankraubs“: 2014 verschwand rund
eine Milliarde US-Dollar aus den drei größten moldauischen Banken. Das
entsprach 12 Prozent des moldauischen BIPs und stürzte das Land in eine
wirtschaftspolitische Krise. Șor war da erst 27 Jahre alt.
2017 wurde er zu siebeneinhalb Jahren Haft verurteilt – wegen der Berufung
steht die Strafe aber noch aus. Șor soll das Land verlassen haben, um der
Haft zu entgehen. Obwohl er nicht physisch anwesend ist, beeinflusst er
offen die Politik in Moldau. Bei mehreren Mitgliedern seiner Partei fand
die Polizei in Moldau vergangene Woche etwa 180.000 Euro Bargeld. Damit
bezahlten sie offenbar die Protestierenden.
In der Hauptstadt Chișinău ist der Demonstrationszug am Sonntagnachmittag
inzwischen vor dem Gebäude der Staatsanwaltschaft angekommen. Einige
Protestierende bauen sofort Zelte auf. Mehrere Dutzend Menschen kampierten
durchgehend an anderer Stelle vor dem Präsidentenpalast. In der Nähe stellt
jemand einen großen Bildschirm auf, über den sich kurze Zeit später
Parteichef Ilan Șor zuschaltet. Doch das Internet spielt nicht mit: Mehr
als ein „Guten Tag“ auf Rumänisch und Russisch dringt nicht durch, dann
bricht die Verbindung ab.
Ilan Șor verkauft sich als verlässlicher Partner Russlands in Moldau. Seine
guten Beziehungen könnten für niedrige Energiepreise sorgen. Er stellt sich
so als das Gegenteil der proeuropäischen Maia Sandu dar, die in Russland –
besonders seit dem Angriff auf die Ukraine – eine zunehmende Bedrohung
sieht. Seit Juni ist [4][Moldau offiziell EU-Beitrittskandidat.]
Ein paar hundert Meter entfernt von der Menge lehnt Valerij an einem
Hauseingang und beobachtet das Geschehen. Er wohnt in der Nähe und will
wissen, wer gekommen ist. Valerij sieht die Aktionen kritisch. „Ilan Șor
hat uns allen diese Milliarde gestohlen, wie können diese Leute das
unterstützen?“, fragt er. Für die Armutsbetroffenen habe er Verständnis.
Aber dass die Șor-Partei deren Angst ausnutze und Menschen für Proteste
bezahle, finde er schlimm: „Mir tut das weh und es macht mich wütend.“
25 Oct 2022
## LINKS
[1] https://www.dw.com/de/moldau-proteste-f%C3%BCr-eine-handvoll-euro/a-63428810
[2] https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/gas-gazprom-droht-moldau-mit-gasabsc…
[3] /Parlamentswahl-in-Moldau/!5784895
[4] /EU-Kandidatenstatus-fuer-die-Ukraine/!5863018
## AUTOREN
Isolde Ruhdorfer
## TAGS
Russland
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