| # taz.de -- Plattenbau Ost als Kunstobjekt: Projektionsfläche Platte | |
| > Die Architektur in DDR war ambivalent. Platte gilt nicht als schön, aber | |
| > war in der DDR verheißungsvoll und könnte es wieder werden. | |
| Bild: „Gross Klein 1983“ heißt diese Fotomontage von 2020, wie das Viertel… | |
| Ob Leipzig-Grünau, Jena-Lobeda, Berlin-Marzahn: Plattenbauviertel der DDR | |
| waren für die Menschen, die in ihnen wohnten, Sehnsuchtsort und Fluch | |
| zugleich. Sie bedeuteten einerseits Lebensqualität, andererseits Wohnen im | |
| Einheitsformat. | |
| Der Antagonismus dieser seriellen Architektur kommt jetzt wieder in den | |
| Sinn, wenn Bundesbauministerin Klara Geywitz verspricht, jedes Jahr 400.000 | |
| neue Wohnungen bauen zu lassen. Schnell, günstig, vor allem in den Städten | |
| soll gebaut werden. Kommt die Platte – wie die Bauten mit vorgefertigten | |
| Wänden genannt werden – nun etwa wieder? Und auch die Vorbehalte ihr | |
| gegenüber? | |
| Mit ihrer Ausstellung „Utopie auf Platte“ widmet Künstlerin Wenke Seemann | |
| dieser Architektur der Moderne in der Kunsthalle Rostock eine ambivalente | |
| Liebeserklärung. | |
| Ab Mitte der 1960er Jahre entstanden im Nordwesten der Ostseestadt große | |
| Neubauviertel, Häuserblocks mit 40.000 Wohnungen für über 100.000 Menschen: | |
| Lütten-Klein, Evershagen, Schmarl, Groß Klein und Lichtenhagen, das wegen | |
| rechtsradikaler Ausschreitungen im August 1992 bittere Bekanntheit | |
| erlangte. | |
| ## Chronist eines der größten Bauprojekte | |
| Der Schiffsbauer Detlef Seemann, der Vater der Künstlerin, hielt mit seiner | |
| privaten Fotokamera das Entstehen der Siedlungen fest. Damit wurde er zum | |
| Chronisten eines der größten Bauprojekte der DDR. Zehn Umzugskartons mit | |
| Negativen und Abzügen hinterließ er nach seinem Tod im Jahr 2018. Die alten | |
| Aufnahmen bilden nun das Ausgangsmaterial für Seemanns Auseinandersetzung | |
| mit der Platte, dem Leben mit und in ihr. | |
| In der Rostocker Kunsthalle ergänzt Seemann die Zeitdokumente ihres Vaters, | |
| collagiert sie zu weiten Ansichten der Siedlungen und fügt ihnen Dinge aus | |
| dem Alltag hinzu, darunter Stücke von Tapeten, die damals in den Wohnungen | |
| verklebt wurden, mit großblumigen Mustern in Braun, Orange, Weiß. | |
| ## Dachzimmer mit Kohleofen und ohne Bad | |
| Die historischen Fotografien schicken die Betrachterin in Wenke Seemanns | |
| Kindheit. Die heute 44-Jährige ist in Lichtenhagen und in Groß Klein | |
| aufgewachsen, ehe sie vor gut zwanzig Jahren nach Berlin zog. „Für meine | |
| Eltern ist die Aussicht auf eine Neubauwohnung in Groß Klein mehr als | |
| verheißungsvoll“, notiert sie zu einem Foto der Baustelle von Groß Klein, | |
| das als letztes der neuen Wohngebiete ab 1979 entsteht. Zu diesem Zeitpunkt | |
| lebten sie und ihre Eltern noch im Haus der Großeltern, in eineinhalb | |
| Dachzimmern mit Kohleofen und ohne Bad. | |
| 1982 zog die Familie in eine der damals begehrten Wohnungen. Bis aus den | |
| Baustellen bewohnbare Viertel mit befestigten Straßen, Kaufhallen und | |
| Schulen wurden, „standen die Straßenzüge wortwörtlich in Schlamm und | |
| Dreck“, schreibt Seemann weiter. „Die sich wandelnden Baustellen waren | |
| unsere Abenteuerspielplätze. In den Schlammpfützen haben wir Dämme gebaut | |
| und Kaulquappen gefangen. Nur die elterlichen Pfiffe oder Rufe zum Essen | |
| unterbrachen unser Spiel.“ Aufwachsen im Neubaugebiet war überall in der | |
| DDR eine kollektive Erfahrung. | |
| ## So jung, trotzdem eine Bedrohung | |
| Die Architekt:innen planten die DDR-Plattenbauten durchaus im Sinne der | |
| Menschen. „Der städtebauliche Anspruch war damals, jedem Neubaugebiet, auch | |
| aus soziologischen Überlegungen heraus, eine eigene Identität zu geben, die | |
| es erkennbar macht und den Bewohnern ermöglicht, es als ihres zu | |
| definieren“, zitiert Seemann in der Ausstellung den [1][Architekten Michael | |
| Bräuer], der in den 1970er und 1980er Jahren die Rostocker Neubaugebiete | |
| mitplante. Auf großen Tafeln mit den Grundrissen der Viertel bildet Seemann | |
| jetzt die einzelnen Gebäude in den verschiedenen Originalfarben der | |
| einstigen Häuserfassaden ab. | |
| Bis sie den Nachlass ihres Vaters sichtete, war Wenke Seemanns Sicht auf | |
| „die Platte“ verhalten. Denn nach dem Mauerfall löste die Erfahrung einer | |
| sozialen Segregation in Rostocks Neubauvierteln die heiteren | |
| Kindheitserinnerungen ab. [2][Beliebte Kleidungsstücke waren plötzlich | |
| Lonsdale-Shirts und Bomberjacken] – die Zeichen der Neonazis. „Kid-Glatzen | |
| haben wir damals gesagt, weil viele, die in diesen Klamotten steckten, noch | |
| so jung und trotzdem eine Bedrohung waren“, erzählt Seemann im | |
| taz-Gespräch. So schillernd wie die Erinnerungen an die Platte ist bis | |
| heute die Architektur selbst. In Berlin wohnt Seemann übrigens in einem | |
| Plattenbau. | |
| 15 Aug 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://de.wikipedia.org/wiki/Michael_Br%C3%A4uer | |
| [2] /Romane-ueber-Jugend-in-Ostdeutschland/!5833587 | |
| ## AUTOREN | |
| Simone Schmollack | |
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