| # taz.de -- Der Siegeszug des Fahrrads in Utrecht: Die Rad-Megacity | |
| > Radfahren in Utrecht ist eine Art Besuch im Paradies. Erkenntnisse über | |
| > die Autorepublik Deutschland gibt es gratis dazu. | |
| Bild: Breite rote Bänder überall – die Häuser und Autostraßen scheinen in… | |
| Utrecht taz | Die gemeinsame Tour geht gleich mit einem Fehler los. „Sie | |
| fahren vor?“, frage ich. Ronald Tamse guckt etwas irritiert. Der 55-Jährige | |
| ist Utrechts Generalverkehrsplaner und Entwickler der Radinfrastruktur, | |
| seit 25 Jahren. In den Niederlanden, sagt er, fahre man selbstverständlich | |
| nebeneinander, „man will sich doch unterhalten, oder?“ Und er zeigt auf die | |
| vielen anderen ringsum. Klar, antwortet ertappt der Besucher aus dem | |
| Fahrrad-Drittweltstaat Deutschland und weiß sogleich, wie konditioniert er | |
| ist: Daheim müssen RadlerInnen immer aus dem Weg, auf die Seite, sich klein | |
| machen. | |
| Breite rote Bänder überall – die Häuser und Autostraßen scheinen in Utrec… | |
| nur dazu da, um den Raum zwischen den endlosen Radwegen auszufüllen. Gleich | |
| geht es über einen zentralen Platz, Vredenburg. 35.000 RadfahrerInnen sind | |
| hier täglich unterwegs, erzählt Tamse, „im Durchschnitt“. Können also au… | |
| mal über 50.000 sein. Alle Radpisten sind immer sicher abgetrennt, mit | |
| eigenen Ampelanlagen, mit intelligenten Wegeführungen an komplexeren | |
| Kreuzungen, auch beim Linksabbiegen. Das funktioniert? „Die Schaltungen | |
| tüftelt ein Kollege aus. Ich halte ihn für einen Magier.“ | |
| [1][Radwege] planen und bauen, sagt Tamse, dürfe „keine Ideologie sein. | |
| Radwege sind ein Werkzeug.“ Er zeigt unterwegs mehrere umgebaute Kreuzungen | |
| und Wegeführungen, immer anders. Es komme jeweils auf die Gegebenheiten an, | |
| auf Fußgängerströme, und wie man Autos leite und wegleite: Mit anderen | |
| Straßenbelägen, weißen Strichen, etwas höher gelegten Parkplätzen neben der | |
| Fahrbahn und Begrenzungen, die nicht wie solche wirken. „Manchmal sind es | |
| kleine psychologische Tricks. Wir bauen ja alles für die Leute.“ | |
| Der weite Platz vor dem Dom ist eine Art shared space geworden. Radler und | |
| Fußgänger sind die eine Strömung, die wenigen Autos fahren wie von | |
| Geisterhand gelenkt einen Bogen, sehr langsam sowieso, weil ein paar runde, | |
| flache Steine in der Mitte stehen. „Man muss immer von den Menschen her | |
| denken, wer verhält sich wie?!“ Wieso hier überhaupt Autos fahren dürfen? | |
| Nur Lieferverkehr, Sonderausweise, sagt Tamse. Und grundsätzlich: „Man | |
| kommt auch in Utrecht mit dem Auto überall hin.“ Dann zeichnet er mit den | |
| Händen eine Art Labyrinth in die Luft. Heißt: Oft halt über verschachtelte | |
| Wege. Das ist zu komplex, also lassen es viele bald. | |
| ## Radfahren ist Kultur | |
| Auch die Niederlande waren mal Autoland, auch Utrecht war nach dem Krieg | |
| für Blechdosen vielspurig ausgebaut worden und zuasphaltiert. Dann | |
| passierte zweierlei fast gleichzeitig: die Ölkrise Anfang der 70er Jahre | |
| und heftige Proteste, vor allem in der City von Amsterdam: „Stoppt den | |
| Kindermord.“ Über 400 Kinder waren damals durch Autos zu Tode gekommen, | |
| jedes Jahr. Die Menschen wollten sichere Städte. Es begann also von unten. | |
| Machen denn alle BürgerInnen heute alles mit? Na ja, sagt Tamse, „Menschen | |
| mit Angst vor Veränderung gibt es auch bei uns. Auch wir haben Nimbys.“ | |
| Nimby heißt: Not in my backyard. Ja, gerne die Stadt lebenswerter umbauen, | |
| aber nicht an Gewohnheiten und Bequemlichkeiten rütteln und meinen | |
| Parkplatz vor der Haustür lassen! „Aber das legt sich immer schnell“, sagt | |
| Tamse. „Radfahren ist bei uns Kultur, ein Sozialverhalten.“ | |
| Das kulturlose Deutschland hat drei schwere Lasten: Es ist Erfinderland des | |
| Automobils, hat eine fatale Schumacher-Vergangenheit und immer noch kein | |
| Tempolimit (Niederlande: tagsüber Tempo 100 auf Autobahnen). Eine Riege | |
| tatenloser deutscher Verkehrsminister tat ihr Übriges. Und es sei auch | |
| sonst manchmal seltsam in Deutschland, erzählt Tamse: Im Juli war er als | |
| Referent bei der Eurobike-Messe in Frankfurt. „Sie hatten mir ein Hotel | |
| ziemlich außerhalb gebucht, aber direkt an einer Autobahn-Auffahrt.“ Echt, | |
| die Radmenschen? „Ja, aber wahrscheinlich haben sie es gut gemeint. Und es | |
| gab auch eine Straßenbahn.“ | |
| In den Niederlanden, erzählt Tamse, radeln auch die Kinder des Königs, | |
| Ministerpräsident Rutte kommt zu Terminen auf dem Zweirad. Alle tun es, | |
| zumindest zeitweilig. Und weil alle wissen, wie es auf dem Rad ist, wissen | |
| auch alle beim Autofahren, wie sich die vor und neben einem fühlen und | |
| verhalten. Das macht das Miteinander kooperativer und sicherer. Einen | |
| Fahrradhelm trägt hier niemand. | |
| ## Unter Magiern | |
| Utrechts Zahlen sind spektakulär: 94 Prozent der Haushalte haben ein oder | |
| mehrere Fahrräder, insgesamt sind es in der 360.000-Einwohner-Stadt mehr | |
| als eine Million. Jeder 3. Haushalt hat kein Auto. Auf 1.000 EinwohnerInnen | |
| kommen 302 Autos, bei uns sind es 580. Knapp 60 Prozent der Utrechter | |
| fahren per Rad in die Innenstadt, 51 Prozent nehmen das Rad für den | |
| Schulweg oder zur Arbeit (hierzulande sind schon 15 Prozent modal split ein | |
| hoher Wert). 132 Euro pro Bürger gibt die Stadt pro Jahr für | |
| Radinfrastruktur aus (an die 250 Millionen seit 2015), in Deutschland sind | |
| es je nach Gemeinde 2-10 Euro per annum, selten 20. | |
| Und dann ist da Utrechts neues [2][Fahrradparkhaus], 2019 eröffnet, gleich | |
| am und unter dem Bahnhof. Es hat 12.500 Stellplätze, Weltrekord. Noch mehr | |
| als die Zahl wirkt das Gebäude, wenn man es durchradelt. Die Stellplätze | |
| sind auf drei Stockwerken jeweils in zwei Etagen untergebracht, | |
| stellenweise geht es bis zu 250 Meter geradeaus, nichts als | |
| Speichengefährte neben einem. Digitale Anzeigen verraten die aktuelle | |
| Auslastung und wo freie Plätze sind. Die ersten 24 Stunden sind umsonst. | |
| Die Ausfahrten führen gleich zu den Gleisen oder in die autofreie | |
| Innenstadtzone. | |
| Allein im Bahnhofsviertel gibt es 21.000 bewachte Radparkplätze. Trotzdem | |
| glauben 47 Prozent der Innenstadtbewohner, dass das noch zu wenig ist. | |
| Wir radeln weiter zum weitläufigen Uni-Campus, wo die Radwege in | |
| Regenbogenfarben gestaltet sind. Bald macht sich Enttäuschung breit. Auch | |
| hier kein Stau. Also, wo ist mal ein Fahrradstau? Ronald Tamse winkt ab: | |
| Jetzt im Sommer seien Ferien, zudem viele Studierende woanders. Auf | |
| Youtube, sagt er, finden sich Sequenzen, wie sich RadlerInnen zu vielen | |
| Dutzend binnen Sekunden vor einer Ampel zusammenknubbeln und manchmal erst | |
| mit der zweiten Grünphase über die Kreuzung kommen. | |
| Tamses Philosophie heißt: Nicht einfach möglichst viele Radkilometer bauen. | |
| Sondern intelligent gucken, wo was passt. „Verkehre trennen, aber immer | |
| zusammen denken. Wir fragen vorher Geschäfte und Anwohner nach ihren Ideen | |
| und Wünschen. Wir wissen übrigens schon lange, dass Fußgänger und Radfahrer | |
| mehr Geld in die Geschäfte bringen als Autofahrer. Die fahren ja meist | |
| durch.“ | |
| [3][Utrecht] ist auch jenseits des Daseins als Fahrrad-Megacity eine | |
| maximal relaxte Gemeinde. Da ist die nette Altstadt, der gotische Dom und | |
| pittoreske Grachten, die keinen Vergleich mit dem völlig überlaufenen und | |
| überteuerten Amsterdam scheuen müssen. In den typischen Utrechter | |
| Werftkellern sind direkt am Wasser Cafés und Restaurants untergebracht. Und | |
| diese Ruhe, plätscherndes Wasser statt Autobrumm! Dennoch: | |
| Tourismus-Kampagnen gibt es kaum, man lässt sich lieber entdecken. | |
| Selbstbewusste Radler | |
| Ronald Tamse zeigt mir einen weiten Kreuzungsbereich in einer | |
| 30er-Jahre-Siedlung mit viel Platz daneben, auf dessen Umbau er | |
| offensichtlich richtig stolz ist. Alles fließt, die Schwärme an Fußgängern, | |
| Radlern und langsamen Autos kommen sich nicht ins Gehege. „Das klappt gut. | |
| Vielleicht bin ich ja auch ein Magier.“ Um gleich einzuschränken: „Wir | |
| haben auch schon so viele Fehler gemacht und mussten nachkorrigieren, sogar | |
| hier. Und es gibt auch Stellen, wo wir nicht recht weiterkommen. Ich könnte | |
| auch den ganzen Tag herumfahren, nur an Wegen, mit denen ich noch nicht | |
| zufrieden bin.“ | |
| „Wie breit sollte denn ein Radweg sein?“, fragt er dann und antwortet | |
| gleich: „Mindestens drei Meter, zwei fahren nebeneinander und einer kann | |
| überholen.“ Drei Meter! Bei uns kämpfen Radinitiativen für zwei Meter | |
| breite Bike Lanes. Und die aufgepinselten „Sicherheitsstreifen“ sind | |
| manchmal nur 80 Zentimeter breit. Mit Sicherheit haben diese Malerarbeiten | |
| auf Asphalt nichts zu tun: Rechts gehen zack die Autotüren auf, links rasen | |
| die Blechdosen eng vorbei. Auf Niederländisch heißen diese hilflosen | |
| Streifen übrigens Moordstrookjes: Todesstreifen. In Utrecht: Fehlanzeige. | |
| Auch keine Autos, die auf einem Radweg parken, nirgends. Dann hätte, sagt | |
| Tamse, „schnell mal ein Radfahrer seinen Schlüsselbund in der Hand“. Und | |
| ratsch. | |
| 30 Aug 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Bernd Müllender | |
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