# taz.de -- Boom von Online-Dating: Zufall oder Schicksal | |
> Manche wollen in der Liebe das Schicksal erkennen, andere vertrauen auf | |
> den Zufall. Dating-Apps profitieren in jedem Fall. | |
Bild: Durch Online-Dating können Singles täglich hunderte von Leuten „kenne… | |
[1][Treue Liebe, toller Sex] – und das bitte öfter als nur „Tausendundeine | |
Nacht“ lang. Wer sich verliebt, ersehnt sich den ganz großen Jackpot bei | |
der Partnerwahl. Verkupplungs-Methoden reichen von Empfehlungen im | |
Freundeskreis bis zu arrangierten Ehen. In ultraorthodoxen jüdischen | |
Gemeinden werden Gentests genutzt, um die Kompatibilität in Sachen | |
Fruchtbarkeit sicherzustellen und genetische Erkrankungen beim Nachwuchs | |
auszuschließen. Hier überlässt man nichts dem Zufall. | |
Rationale vor romantische Kriterien bei der Partnersuche zu stellen, hat | |
Tradition. In kulturellen, sozialen Gemeinschaften wird oft auf | |
vergleichbare Eigenschaften beim Gegenüber bestanden. Nur wer den Test | |
besteht, kommt als geeigneter Kandidat in Frage und in der Regel aus dem | |
bekannten sozialen und auch lokalen Umfeld. Viele Vertrauen deshalb dem | |
Netz: OkCupid und Grindr oder Internetportale wie Parship bedienen die | |
Hoffnung, einsamen Singles zu einer glücklichen Partnerschaft zu verhelfen. | |
Rund 24 Prozent der Deutschen lernen ihre Partner mittlerweile online | |
kennen. Neben [2][kostenpflichtigen Partnerbörsen] beherrschen seit gut | |
zehn Jahren Gratisapps (mit kostenpflichtigen Zusatzfunktionen) den Markt. | |
Bis 2024 soll der Branchenumsatz hierzulande auf stolze 58 Millionen Euro | |
anwachsen. Kein Wunder, in Deutschland leben derzeit mehr als 22 Millionen | |
Erwachsene ohne feste Beziehung. Tendenz steigend. | |
Sebastian Matkey von Lovoo betont das Anliegen, nicht nur | |
Matching-Mechanismen zu verfolgen. „Wir setzen seit jeher erfolgreich auf | |
das Umgebungsprinzip – und bringen Menschen in der Nähe zusammen. | |
Algorithmen spielen da eher eine untergeordnete Rolle.“ Auch andere | |
Partnerportale bedienen häufig das schicksalhafte Ideal romantischer Liebe, | |
fernab der Algorithmen. Aber gelingt ihnen das? | |
## Jeder Klick wird analysiert | |
Start-ups für mobiles Dating wie Lovoo oder Tinder nutzen, neben dem | |
Matchmaking auf Basis selbstlernender Algorithmen, Funktionen wie den | |
Live-Radar, eine spielerische Kontaktsuche per App in Echtzeit. Sind | |
potenzielle Partner in der Nähe, erfolgt eine Benachrichtigung für den | |
spontanen Flirt in der analogen Welt. Die Idee zu einem technologischen | |
Datingprogramm, das der heutigen Funktionsweise nahe kommt, stammt aus den | |
USA. Ende der 1950er Jahre entwickelten zwei Elektroingenieure den | |
„Marriage Planning Service“. Ziel war es, auf Grundlage ähnlicher | |
Interessen und Eigenheiten möglichst viele Paare zu bilden. Dazu teilten | |
die Wissenschaftler Fragebögen aus und ließen Computer Übereinstimmungen | |
berechnen. | |
Ausgangspunkt der algorithmischen Herangehensweise bildet die | |
Wirtschaftsmathematik. Erneut waren es US-Forscher, die Lösungen suchten, | |
um Akteure verschiedener Märkte automatisiert miteinander zu verbinden. Der | |
eingesetzte Algorithmus entwickelte Systeme, um medizinisches Personal | |
besser auf Krankenhäuser zu verteilen oder gezielt Spenderorgane zu | |
vermitteln. Statt Zufallsbegegnung herrscht auf den Datingportalen | |
kalkulierte Marktmentalität. Sie erzeugen ein kapitalistisches | |
Konsumverhalten in der Liebe und vermitteln das Gefühl, nicht nur Sex, | |
sondern tiefe Zuneigung ließe sich planen. | |
Jeder Klick wird analysiert, Neigungen gespeichert. Die schmeichelhafte | |
Big-Data-Maschinerie in Hosen- oder Handtasche hinterfragen Nutzer kaum. | |
Bei Tinder können täglich unbegrenzt viele Personen durch links oder rechts | |
‚swipen‘ beurteilt werden, anderswo nur ein Kontakt. Das Feedback anderer | |
beeinflusst den individuellen Attraktivitätswert. Je nach eigener | |
Anziehungskraft werden einem vergleichbare Matches präsentiert. Und | |
umgekehrt. Wer als gut aussehend erachtet wird, darf auf eben solche | |
Bekanntschaften hoffen. | |
Beobachtet wurde dabei, dass asiatische Männer und schwarze Frauen weniger | |
häufig Anfragen bekommen. Infolgedessen sinkt ihr Attraktivitätswert und | |
führt dazu, dass sie anderen Singles seltener empfohlen werden. Weiße | |
Menschen werden dagegen öfter geliked und angezeigt. Was Stereotypen und | |
Ungleichgewichte verstärkt. | |
## Dating wird diverser | |
US-Studien zeigen allerdings auch, dass Nutzer von Dating-Apps inzwischen | |
vermehrt außerhalb ihrer gewohnten sozialen Reichweite nach Kontakten | |
suchen. Nach dem Launch digitaler Partnervermittlungen ließ sich ein | |
Anstieg der Diversität in Ehen feststellen, zum Beispiel zwischen | |
afroamerikanischen und weißen Personen in den USA. | |
Welche Gemeinsamkeiten für eine stabile Verbindung ausschlaggebend sind? | |
Äußerlichkeiten als Parameter kommt bei Dating-Apps eine besonders | |
gewichtige Rolle zu. Die Orientierung an inneren Werten scheint | |
zweitrangig. | |
Studien der Uni Lausanne bestätigen den Reiz unterschiedlicher Gen-Pools. | |
So sollten in einem Experiment Probandinnen an T-Shirts riechen und die | |
Anziehung des Trägers anhand des Geruchs bemessen. Zuvor hatten männliche | |
Teilnehmer drei Tage und Nächte lang dasselbe T-Shirt getragen – ohne sich | |
zu waschen, Deo oder Parfüm aufzutragen. Fazit: Schweiß riecht attraktiv. | |
Je attraktiver jemand eingestuft wurde, umso mehr unterschieden sich | |
bestimmte Gene voneinander. | |
Die 2022 am besten bewertete [3][Partnervermittlung Parship] hebt die | |
Einstellungen ihrer Mitglieder hervor. Kommunikationsstil und | |
Alltagsgestaltung werden abgefragt. „Das Matching zeigt das Ergebnis des | |
Vergleichs der Partnerschaftspersönlichkeiten“, erklärt PR-Managerin | |
Jeannine Kock. „Beginnend bei der stimmigsten Balance aus Gemeinsamkeiten | |
und Ergänzungen objektiver Persönlichkeitsmerkmale.“ Es gelte die Prämisse: | |
„So viel Ähnlichkeit wie möglich, so viel Unterschied wie nötig.“ | |
## Ausschauhalten nach dem Optimum | |
Nutzung und Gewichtung von Merkmalen und Angaben bleiben am Ende in sehr | |
vielen Fällen vollkommen unklar. Ein auf die Standortbestimmung basierendes | |
Prinzip hat den Nachteil, dass selbst seriöse Dating-Apps Informationen | |
verwerten und ohne explizite Zustimmung an andere Nutzer oder soziale | |
Netzwerke weitergeben können. [4][Oder dass der passende Partner] im 600 | |
Kilometer entfernten Ort aus App-Sicht irrelevant ist. Ein Reiz von | |
Online-Dating ist dabei nicht wegzureden: der Faktor Selbstbestimmung. | |
App-Kunden geben sich im Glauben daran der Illusion hin, in ihren | |
Entscheidungen nicht gelenkt zu werden – falls doch, dann natürlich nur zum | |
eigenen Vorteil. Auch wenn dem irgendwann der eigene Marktwert im Weg zum | |
Traumpartner steht. | |
Hauptsache ist, dass dank Generationenwandel Suchen und Finden in der Liebe | |
nicht mehr fremdbestimmt im quasi rechtsfreien Raum ablaufen muss. Zwar hat | |
sich das Ideal der “freien Liebe“ in den 1960er-Jahren mit Blick auf die | |
Familienplanung bürgerlichen Konventionen gebeugt. Gleichzeitig gilt im | |
Westen ein rigoroses Einmischen bei der Partnerwahl heute als absolut | |
inakzeptabel. | |
Mitbestimmen dürfen dabei Zufall oder Schicksal, wobei Letzteres gefühliger | |
anmutet. Wer will schon [5][oversexed and underfucked warten, bis einen | |
endlich der Zufall] mit dem vagen Versprechen einer langlebigen und | |
wunderschönen Beziehung küsst? | |
Besser ist, wenn die „glückliche Fügung“, fast wie bestellt, in Form einer | |
App erscheint. Verkrampftes Ausschauhalten nach dem Optimum (#couplegoals) | |
da draußen weicht beim Online-Dating lockerem, bequemem Zeitvertreib. | |
Willkommener Nebeneffekt: Mit einer Rechenformel für das perfekte Match | |
soll auch die Angst vor Ablehnung ausgeschaltet werden. Und für den Fall, | |
dass Erwartungen trotzdem nicht erfüllt werden, hilft bestimmt die nächste | |
App weiter. | |
24 Jul 2022 | |
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## AUTOREN | |
Christa Roth | |
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