# taz.de -- Jewrovision in Berlin: Party unter Polizeischutz | |
> Die Berliner „Jewrovision“ ist einer Feier jüdischer Identität. Und | |
> verbreitet unmissverständliche politische Botschaften. | |
Bild: Von der Jugend für die Jugend: die „Jewrovision 2022“ in Berlin | |
BERLIN taz | Die Show hat noch gar nicht begonnen, da ist die riesige | |
Veranstaltungshalle des Hotels Estrel im Berliner Bezirk Neukölln bereits | |
ein Hexenkessel. Grüppchen Jugendlicher brüllen auf Kommando „Frankfurt!“ | |
oder „München!“, und als der Warm-up-DJ „Seid ihr alle da?“ fragt, wir… | |
verrückt gekreischt. | |
Was hier am vergangenen Freitagnachmittag gerade startet, ist die | |
Jewrovision, ein Gesangswettbewerb jüdischer Jugendlicher in Deutschland. | |
Wie beim Original, [1][dem Eurovision Song Contest], ist auch hier das | |
Ziel, mit Gesang und bestechender Choreografie zu überzeugen. Doch vor | |
allem geht es bei der dreitägigen Veranstaltung darum, das eigene jüdische | |
Jugendzentrum zu repräsentieren, für das man antritt. | |
12 dieser etwa 60 Einrichtungen, die es in Deutschland gibt, konkurrieren | |
in diesem Jahr miteinander. Am Ende entscheiden eine Fachjury und die | |
Leiter der Jugendzentren mit ihren Votings, wer der Sieger wird. | |
Was man hier geboten bekommt, ist eine Mischung aus teilweise wirklich | |
guter und professioneller Show und einer Feier jüdischer Identität in | |
Deutschland. Bei all dem Spaß und der Freude, die zum Ausdruck gebracht | |
wird, schwingt das Thema Antisemitismus freilich immer mit. Sei es in den | |
teils ziemlich politischen Texten, die vorgetragen werden, oder in den | |
Videos und Selbstpräsentationen, die jedes Jugendzentrum seinen | |
Performances voranstellt und die extra prämiert werden. | |
## Es gilt, Standpunkte zu besetzen | |
Und dass es notwendig ist, vor dem Hotel und im Veranstaltungssaal | |
[2][Polizisten zu positionieren], obwohl hier nur Kinder und Jugendliche | |
ein großes Fest feiern, sagt auch einiges aus. | |
Die Jewrovision wurde vor 20 Jahren geboren. Sie entstand bei einer | |
Jugendfreizeit und wurde mit den Jahren immer größer. Inzwischen wird sie | |
vom Zentralrat der Juden in Deutschland veranstaltet und gilt als größtes | |
Kulturereignis, das sich an jüdische Jugendliche richtet, in diesem Land. | |
Yael Kupferberg, die bis vor Kurzem am Zentrum für Antisemitismusforschung | |
lehrte und derzeit am Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt in | |
Berlin tätig ist, sagt über die Rolle, die der Zentralrat als Ausrichter | |
spielt: „Für diesen ist es eine gute Gelegenheit, nicht nur als Korrektiv | |
auftreten zu müssen, sondern vor allem jüdische Standpunkte zu festigen, | |
jenseits von Zwängen.“ | |
In den letzten beiden Jahren konnte die Jewrovision wegen Corona nicht | |
stattfinden, weswegen das Motto in diesem Jahr trotzig lautet: „The show | |
must go on.“ Und sie wird in Berlin ausgetragen, weil das hiesige jüdische | |
Jugendentrum Olam 2019 gewonnen hatte. | |
Um die 3.000 Besucher hat die diesjährige Jewrovision nach Angaben der | |
Pressesprecherin des Zentralrats der Juden. Und mehr als 1.000 Jugendliche | |
aus dem ganzen Bundesgebiet sind angereist, um auf der Bühne zu performen | |
oder die Show-Acts anzufeuern. Sie sind nicht nur für den Event im Hotel | |
Estrel in Berlin, sondern auch, um ein Wochenende lang gemeinsam die Stadt | |
zu erkunden, an Workshops teilzunehmen und einen Schabbat-Gottesdienst zu | |
feiern. | |
Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden, beschreibt im | |
Gespräch, das man mit ihm führen darf, als Ziel der Jewrovision, „auch in | |
kleineren jüdischen Gemeinden den jüdischen Jugendlichen zu zeigen, dass | |
sie, auch wenn sie nicht viele in ihrer Gemeinde sind, überregional und im | |
Bundesgebiet doch viele sind. Und dass sie hier ein Forum haben, um sich | |
auszutauschen und neue Bekanntschaften zu schließen.“ | |
## Für den Nachwuchs | |
Alles kreist hier im Hotel Estrel um sie, um die jungen Jüdinnen und Juden | |
in Deutschland. Im Foyer hat die JSUD, [3][die Jüdische Studierendenunion | |
Deutschland], einen Stand aufgebaut, genau wie die Hochschule für Jüdische | |
Studien Heidelberg. Und für die ganz Kleinen gibt es eine Ecke mit | |
jüdischen Kinderbüchern zum Vorlesen, die „Josef und der Schabbat-Fisch“ | |
oder „Bagels von Benny“ heißen. | |
In der Show werden dann mit großer Lust bunte Kostüme auf der Bühne gezeigt | |
und mal besser, mal schlechter Lieder geschmettert. Aber auch hier kreist | |
alles um die eigene Identität. In den Liedern geht es um den Schabbes und | |
jüdische Tradition und um Stolz. Steh zu dir selbst, ist eine oft gehörte | |
Botschaft. | |
„Rassisten und Antisemiten sollen verstehen, wir lassen uns unsere | |
Lebensfreude nicht nehmen“, heißt es etwa im Beitrag der Gruppe aus Bochum. | |
Yael Kupferberg sagt: „Veranstaltungen wie diese strahlen vor allem nach | |
innen aus. Sie sollen das jüdische Selbstverständnis stärken, die jüdische | |
Gemeinschaft.“ | |
Wie wichtig und ernst die Jugendlichen ihre Auftritte bei der Jewrovision | |
nehmen, zeigt sich nicht zuletzt im Backstage-Bereich. Aufgekratzte Gruppen | |
üben zum letzten Mal ihre Choreografien, Hektik und Lampenfieber sind | |
überall spürbar. | |
Robert aus Gelsenkirchen hat seinen Auftritt bereits hinter sich gebracht | |
und sagt, er habe „ein sehr gutes Gefühl“. Marie und Emma aus Köln, beide | |
12 Jahre alt, die mit ihren rot-weißen Kostümen bezaubernd aussehen und gar | |
nicht genug davon bekommen können, für Fotografen zu posieren, gehen den | |
Wettbewerb mit dem Olympia-Motto an. | |
„Das Wichtigste ist, dass es Spaß gemacht hat“, sagt Marie. Und das habe | |
es, obwohl sie vor dem Betreten der großen Bühne ziemlich nervös und | |
aufgeregt gewesen sei. Marie und Emma sind Freundinnen, sagen sie. Ohne ihr | |
Jugendzentrum, in dem sie sich jede Woche sonntags treffen, würden sie sich | |
gar nicht kennen. | |
## Pop gegen Antisemitismus | |
Der Gewinner der diesjährigen Jewrovision wird [4][das Jugendzentrum | |
Amichai] aus Frankfurt. „Klartext“ heißt sein Song und vermittelt auch am | |
klarsten von allen Liedern seine politischen Botschaften. Um angegriffene | |
Rabbiner geht es und den antisemitischen Anschlag in Halle. „Lasst | |
gemeinsam etwas ändern – Deutschland, es reicht!“, wird gefordert. | |
Zvi Bebera, der das Jugendzentrum Amichai als Jewrovision-Leiter zum Sieg | |
in Berlin geführt hat, schildert, wie es zu dem Song kam: „Wir haben wie | |
jedes Jahr ein Jewrovision-Komitee gebildet, das sitzt Wochen, wenn nicht | |
Monate zusammen. Dann wird erst einmal über den Text diskutiert: Welches | |
Thema soll der haben und wie sehr wollen wir politisch sein.“ In den Jahren | |
davor habe man die Beiträge zur Jewrovision bewusst nicht politisch | |
ausgestaltet. „Dieses Mal aber wollten wir Klartext reden“, sagt er. | |
Und er kann auch gut erklären, warum. Er erzählt, dass die Teilnehmer der | |
diesjährigen Jewrovision zwei Tage nach der Show, am Sonntag, noch zum | |
Fotoshooting ans Brandenburger Tor gefahren sind. Begleitet von einer | |
riesigen Polizeikolonne. „Genau darum geht es auch in unserem Lied: Wir | |
wünschen uns, als normal angesehen zu werden. Ohne dass wir von der Polizei | |
begleitet werden müssen.“ | |
Er klingt fast wütend, wenn er dann noch ganz normale deutsche Zustände | |
beschreibt: „Wir machen einen Kippa-Day nach antisemitischen Vorfällen, und | |
alles ist wieder okay und vergessen. Aber es ist nicht vergessen. Wir | |
wollen unseren Davidstern tragen und unsere Kippa, selbstbestimmt. Das | |
sagen wir auch in unserem Text: Ich möchte frei leben. Aber wenn man mir | |
die Freiheit raubt, anziehen zu können, was ich möchte, dann haben wir | |
keine echte Demokratie.“ | |
Am besten bei der diesjährigen Jewrovision kam also ein Lied an, das den | |
Antisemitismus samt Entschuldigungsritualen in Deutschland anprangert. | |
Damit geht eine klare und wichtige Botschaft von der jüdischen Gemeinschaft | |
aus. Auch wenn sie nur auf einem Gesangswettbewerb formuliert wurde. | |
4 Jun 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Ukraines-Sieg-beim-ESC/!5852387 | |
[2] /Liegestuetze-auf-dem-Berliner-Holocaust-Mahnmal/!5813047 | |
[3] https://www.jsud.de/ | |
[4] https://www.amichai.de/cms/ | |
## AUTOREN | |
Andreas Hartmann | |
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