# taz.de -- Volksabstimmung in Kasachstan: Echte Reform oder bloß Taktiererei? | |
> Im Juni stimmen die Kasachen über zahlreiche Änderungen der Verfassung | |
> ab. Die Zeiten eines „Super-Präsidenten“ sollen der Vergangenheit | |
> angehören. | |
Bild: Mohnfeld bei Almaty: Kommt auch ein politischer Frühling nach Kasachstan? | |
BERLIN taz | Der kasachische Präsident Kassim-Schomart Tokajew dreht am | |
ganz großen Rad. In der vergangenen Woche kündigte er für den 5. Juni ein | |
Referendum über weitreichende Verfassungsänderungen an. Es gehe darum, ein | |
„[1][neues Kasachstan]“ zu schaffen, sagte er in einer Fernsehansprache. | |
Die bevorstehende Volksabstimmung werde eine Demonstration der Loyalität | |
des zentralasiatischen Staates gegenüber demokratischen Prinzipien sein. | |
Von diesem Credo war in der Vergangenheit in dem an Öl- und Gasvorkommen | |
reichen 18,7-Millionen-Einwohnerstaat eher wenig zu bemerken – vor allem im | |
vergangenen Januar nicht. Proteste gegen Korruption und Machtmissbrauch, | |
die sich rasant im ganzen Land ausbreiteten, [2][ließ Tokajew brutal | |
niederschlagen]. | |
Dafür holte er sich auch schlagkräftige Unterstützung des von Russland | |
geführten Militärbündnisses Organisation des Vertrages über kollektive | |
Sicherheit (OVKS) ins Land. Bei den Unruhen kamen offiziellen Angaben | |
zufolge 225 Menschen ums Leben, tausende wurden verletzt und festgenommen. | |
Viele warten immer noch auf ihren Prozess. | |
Und jetzt also der große Neuanfang. Mit der Reform, die Kasachstan von | |
einem „Super-Präsidial- zu einem Präsidialsystem mit starkem Parlament“ | |
machen soll, werden 33 und damit ein Drittel aller Artikel der Verfassung | |
aus dem Jahr 1995 renoviert. Fortan darf der Präsident keiner politischen | |
Partei mehr angehören, auch seinen Verwandten sind politische Ämter und die | |
Leitung staatlicher Betriebe versagt. | |
## Ins Aus manövriert | |
Eindeutig Pate gestanden haben dürfte bei dieser Regelung Tokajews | |
Vorgänger und autokratischer Dauerherrscher Nursultan Nazarbajew, den | |
Tokajew mittlerweile komplett ins Aus manövriert hat. Während seiner | |
29jährigen Amtszeit hatte Nazarbajew vor allem seine Familie großzügig mit | |
lukrativen Pöstchen versorgt. Auch nach seinem formalen „Rückzug“ 2019 war | |
er als in der Verfassung verewigter „Führer der Nation“ (Elbasy) immer noch | |
die mächtigste Person im Staat. Dieser Ehrentitel soll aus der Verfassung | |
ersatzlos gestrichen werden. | |
Künftig darf das Staatsoberhaupt nur noch zehn anstatt wie bisher 15 | |
Mitglieder des Oberhauses (Senat) ernennen. Die 98 Abgeordneten des | |
Unterhauses (Majilis) werden mit einem Mischsystem aus Verhältnis- und | |
Mehrheitswahl bestimmt, da viele Wähler ihre Volksvertreter nicht kennen | |
würden, wie Tokajew anmerkte. | |
Das geänderte Grundgesetz sieht auch wieder ein Verfassungsgericht vor. | |
Zwar darf der Präsident immer noch den Vorsitzenden sowie vier der sieben | |
Richter bestimmen. Doch immerhin können Bürger Petitionen einreichen, um | |
Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüfen zu lassen. Zudem soll das | |
Amt eines Ombudsmannes für Menschenrechte eingeführt werden, der vor | |
Strafverfolgung geschützt sowie staatlichen Stellen und Beamten gegenüber | |
nicht rechenschaftspflichtig ist. | |
Ob diese Verfassungsreform wirklich etwas verändern kann, darüber gehen die | |
Meinungen auseinander. Urazgali Seltejew von Institut für Eurasische | |
Integration glaubt, dass die Änderungen zu mehr Transparenz führen. Das | |
Parlament werde an Einfluss gewinnen und ein besseres System der | |
Gewaltenteilung geschaffen, das effektiver arbeiten könne, zitiert ihn das | |
Internetportal eurasia.net. | |
Der kasachsische Menschenrechtsaktivist Ewgeni Schowtis ist da deutlicher | |
zurückhaltender. Von einem schnellen und radikalen Übergang hin zu | |
demokratischen Werten zu sprechen sei verfrüht. Die geplanten Reformen | |
seien eher ein taktischer politischer Schritt. „Was wir jetzt brauchen, | |
sind Antworten auf drängende Fragen“, so Schowtis gegenüber eurasia.net. | |
„Den Krieg in der Ukraine, Veränderungen globaler geopolitischer und | |
ökonomischer Prozesse sowie die Anpassung an eine neue Realität.“ | |
19 May 2022 | |
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## AUTOREN | |
Barbara Oertel | |
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