# taz.de -- Präsidentschaftswahl in Kolumbien: Tanzen und singen an ihrer Seite | |
> Francia Márquez könnte Kolumbiens erste schwarze Vizepräsidentin werden. | |
> Für viele Arme ist sie eine Hoffnungsträgerin. | |
Bild: Francia Márquez (Mitte) feiert bei der Kundgebung mit lokalen Bands und … | |
Die Frau, auf die viele Kolumbianer*innen ihre Hoffnungen setzen, | |
wartet geduldig mit vor dem Bauch verschränkten Händen, bis der Senator | |
seine lange Rede beendet hat. Fast schüchtern wirkt sie auf der Bühne, als | |
sie dem Publikum winkt. Bis sie mit fester Stimme ansetzt: „Guten Abend, | |
Cali! Seid ihr bereit, köstlich zu leben?“ Die Menge vor ihr antwortet mit | |
Jubel. | |
Es ist ein Sonntagabend Mitte Mai. Seit zwei Uhr nachmittags haben Hunderte | |
Menschen hier auf dem großen Platz vor der Schule Colegio Compartir in der | |
prallen Tropensonne gefeiert, getanzt, Parolen gerufen – und auf Francia | |
Márquez gewartet. Sie könnte Kolumbiens erste Schwarze Vizepräsidentin | |
werden, sollte der linke Präsidentschaftskandidat Gustavo Petro die Wahl am | |
Sonntag gewinnen. | |
Zum ersten Mal überhaupt könnte Kolumbien einen linken Präsidenten | |
bekommen. Gustavo Petro könnte sogar ohne Stichwahl gewinnen. Er liegt in | |
allen Umfragen vorn. Bereits bei den Parlamentswahlen im März hat das linke | |
Parteienspektrum deutlich zugelegt. | |
Die kolumbianische Gesellschaft ist im Umbruch. Die Pandemie hat | |
Ungleichheit und Not verstärkt. Etwa [1][40 Prozent der | |
Kolumbianer*innen sind arm]. Vor allem die Jungen sind verzweifelt, | |
weil sie keine Zukunft sehen und ein neues Kolumbien wollen. | |
## Gescheiterte Sicherheitspolitik | |
Präsident Iván Duque wird deshalb immer unbeliebter. Der Ultrarechte hat | |
alles getan, um das Friedensabkommen zwischen dem Staat und der ehemaligen | |
Farc-Guerilla zu torpedieren. Dessen Umsetzung würde große Verbesserungen | |
für die Landbevölkerung bringen und die Ursachen des mehr als 50 Jahre | |
währenden Konflikts angehen. Doch wo die Farc-Guerilla das Terrain räumte, | |
hat der Staat keine Präsenz aufgebaut – dagegen andere bewaffnete Gruppen, | |
die um die Vorherrschaft kämpfen. | |
Duques Sicherheitspolitik ist gescheitert. Zum Leid der Menschen auf dem | |
Land. Fast täglich wird ein*e Aktivist*in oder ein*e frühere | |
Farc-Kämper*in ermordet. Die Massaker und Massenvertreibungen nehmen zu. | |
Kolumbien droht, wieder in die Gewaltspirale zurückzufallen. Niemand | |
spricht das so klar aus wie Francia Márquez. Denn sie hat die Gewalt am | |
eigenen Leib erlebt. | |
Francia Márquez ist Feministin, Umweltschützerin, Aktivistin, Anwältin. Und | |
sie ist Vertriebene, Schwarz, arm, alleinerziehend. Sie hat viel gemein mit | |
den Menschen, die da vor ihr im armen Osten der Großstadt Cali stehen. | |
Es sind Eltern mit ihren Kindern, die Kleinsten sitzen auf ihren Schultern. | |
Gekommen sind auch Frauen-Kollektive, Anhänger*innen der Partei | |
Comunes, die Partei der ehemaligen Farc-Guerilla, außerdem sieht man | |
Indigene in traditionellen Gewändern – und sehr viele Junge. Darunter viele | |
Menschen, denen man ansieht, dass ihnen nichts in den Schoß fiel. Ihre | |
Hände sind abgearbeitet, manchen fehlen Zähne, ihre Kleidung ist billig und | |
gepflegt. Viele von ihnen sind Schwarz. Cali ist die Stadt mit dem höchsten | |
Afro-Anteil in Kolumbien. | |
Die Leute schwenken Fahnen, haben Plakate gebastelt, Collagen erstellt. Da | |
schwebt die Taube vom Kirchenkalender zwischen zwei Bildern der Kandidatin, | |
auf T-Shirts ist Francia Márquez zur Zeichentrickfigur aus dem Disney-Film | |
„Encanto“ geworden. „Entzücken“ oder „Verzauberung“ heißt das wö… | |
der Menge ruft immer wieder jemand: „Ich liebe dich, Francia!“ | |
Für Márquez ist der Abschluss des Wahlkampfs im Osten von Cali ein | |
Heimspiel. Es sei der Ort, „der uns aufnimmt, wenn der Krieg uns aus | |
unserem Zuhause vertreibt“, sagt sie. So hat sie es selbst erlebt. 2014 | |
musste sie mit ihren beiden Kindern aus der Konfliktregion Cauca nach Cali | |
fliehen und kam hier unter. | |
Francia Elena Márquez Mina, 40 Jahre alt, stammt aus der | |
afrokolumbianischen Gemeinschaft La Toma in den Bergen nahe der | |
Pazifikküste, wo bewaffnete Gruppen aktiv sind. Diese alten Gemeinschaften, | |
die von Sklav*innen abstammen, stehen theoretisch wie indigene | |
Gemeinschaften in Kolumbien unter besonderem Schutz. Der Kampf um ihre | |
Rechte wurde zu Márquez’ Lebensaufgabe. | |
Als Kind steht sie dort mit einer Schüssel im Ovejas-Fluss und schürft | |
Gold, um Geld zu verdienen. Wie so viele. Als Teenagerin beginnt sie, sich | |
im Umweltschutz zu engagieren – in Kolumbien ist das bis heute | |
lebensgefährlich. Eine Bergbaugesellschaft will den Ovejas-Fluss, von dem | |
die Existenz ihrer Gemeinschaft abhängt, zu einem Stausee umleiten. Es | |
gelingt, das zu stoppen. Doch die Regierung hat Lizenzen an Bergbaukonzerne | |
vergeben, ohne die Gemeinschaften vor Ort zu konsultieren. Das ist illegal. | |
Bergleute kommen in Scharen in die Gegend, fällen Bäume, wühlen die Erde um | |
und vergiften den Fluss mit Quecksilber. [2][Tausende Menschen werden | |
vertrieben.] [3][Ein Video dazu] ging vor Kurzem viral. Die junge Márquez | |
spricht darin davon, dass die Konzerne Wohlstand versprachen und Elend | |
brachten. | |
Mit 16 wird sie zum ersten Mal schwanger, weil sie keine Sexualerziehung | |
hatte. So erzählt sie es Tausenden Menschen in diesem Wahlkampf, als | |
mahnendes Beispiel. Nur dank der Unterstützung ihrer Familie kann sie | |
weiter die Schule besuchen. Später studiert sie Jura, um die Rechte ihrer | |
Gemeinschaft besser durchsetzen zu können. | |
Denn der Fluss und das Leben der Menschen werden weiter angegriffen. 2014 | |
trommelt Márquez rund 80 Afrofrauen aus ihrer Gemeinschaft zusammen. Sie | |
gehen zu Fuß bis in die Hauptstadt Bogotá, über 600 Kilometer weit, und | |
protestieren dort 20 Tage lang für ihre Rechte. Der „Marsch der Turbane“, | |
benannt nach den Kopfbedeckungen der Frauen, hat Erfolg: Die illegalen | |
Bergleute werden vertrieben, ihre Maschinen zerstört. 2018 erhält Francia | |
Márquez für ihr Engagement [4][den Goldman-Preis], der als | |
Umwelt-Nobelpreis gilt. | |
Das Private ist politisch, das gilt auch bei Francia Márquez. Ihre | |
Lebensgeschichte gleicht der von Millionen Kolumbianer*innen. Sie macht | |
ihnen Hoffnung. Zumindest darauf, dass sie endlich jemand versteht. Manche | |
in der Menge an diesem Abend haben zwischen den Begeisterungsrufen Tränen | |
in den Augen. | |
Auf der Bühne sind den ganzen Nachmittag Bands aus der Nachbarschaft | |
aufgetreten, wo Armut, Gangs und Gewalt Alltag sind. „Sie haben Kunst statt | |
Gewalt gewählt“, sagt Márquez, als sie ihnen in ihrer Rede dankt. | |
Dann fordert sie kostenlose und gute Bildung. Sie erzählt, dass sie sieben | |
Jahre brauchte für den Abschluss als Anwältin. „Nicht, weil es mir an | |
Fähigkeiten fehlte, sondern weil ich den Lebensunterhalt für mich und meine | |
Kinder verdienen musste.“ Sie weiß, wie es ist, wenn man zwischen dem Geld | |
für den Bus zur Uni und einer Mahlzeit entscheiden muss. Damit spricht sie | |
vielen Jungen aus der Seele, die 2021 auf die Straßen gingen und unter | |
anderem für mehr Bildung protestierten. | |
Márquez hat wie so viele Generationen vor ihr als Hausangestellte geputzt | |
und auf fremde Kinder aufgepasst, um die eigenen durchzubringen. Sie sei | |
stolz darauf, sagt sie. Und dass sie mehr vom Leben wolle. | |
„Sie haben sich über sie lustig gemacht, weil sie Schwarz und eine Frau | |
ist. Sie sagten, dass Petro jetzt eine Köchin hat“, sagt die | |
Afrokolumbianerin Elizabeth Cáracaz, die mit ihrer feministischen Garde bei | |
allen Veranstaltungen in Cali das Sicherheitskonzept unterstützt hat. | |
„Francia will, dass wir Frauen endlich Teil der Politik werden“, fügt sie | |
hinzu. | |
Sie habe nicht darum gebeten, in die Politik zu gehen, sagt Márquez auf der | |
Bühne. „Aber die Politik hat sich mit mir angelegt. Und jetzt legen wir uns | |
mit der Politik an. Weil sie uns immer gesagt haben, dass die Politik | |
nichts für uns Frauen ist. Dass wir Schwarze Frauen als Hausangestellte bei | |
einer Familie arbeiten sollen. Wir müssen diese Ketten der Unterdrückung | |
durchbrechen.“ | |
Im Viertel Llano Verde am Rand der Großstadt, wo die Armen gestrandet sind | |
und bewaffnete Banden um ihre Kinder werben, wurden am 11. August 2020 fünf | |
Jungen ermordet in einem Zuckerrohrfeld gefunden. Kein Einzelfall in dieser | |
Gegend. Für Francia Márquez war Llano Verde der Wendepunkt. Vier Tage nach | |
dem Mord an den Jungen [5][verkündete sie], dass sie Präsidentin von | |
Kolumbien werden wolle. Ein Grund: „Ich will, dass unsere Kinder keine | |
Angst haben müssen, ermordet zu werden.“ Damals dachten wohl viele, sie | |
habe mit ihrer Kandidatur den Verstand verloren. | |
Anderthalb Jahre später denkt das niemand mehr. Am 23. März wählten die | |
Kolumbianer*innen den Kongress und bestimmten zugleich die | |
Präsidentschaftskandidaten der aussichtsreichsten Wahlbündnisse. Francia | |
Márquez holte überraschend 783.000 Stimmen für den Pacto Histórico | |
(Historischer Pakt), [6][die drittmeisten insgesamt]. In einem anderen | |
Bündnis wäre sie damit Präsidentschaftskandidatin. Ohne aus einer der | |
einflussreichen politischen Familien zu stammen, ohne Geld für teuren | |
Wahlkampf. Der linke Kandidat Gustavo Petro machte sie zu seiner Vize. | |
## Sie hat das Land bereits verändert | |
Márquez zielt in ihrem Wahlkampf auf Frauen, Junge und Erstwähler*innen | |
sowie Indigene und Afrokolumbianer*innen. Es ist ihr sogar gelungen, die | |
sozialen Bewegungen hinter sich zu versammeln. „Der Moment ist gekommen, um | |
Politik von unten zu machen. Denn so können wir das Land wirklich | |
verändern. Last uns gemeinsam diesen Wandel bewirken!“, ruft sie in Cali | |
über den Platz. | |
Egal, wie es am Sonntag für sie ausgeht: Sie hat das Land bereits | |
verändert. Nach ihrem Erfolg bei den Vorwahlen haben plötzlich auch andere | |
Präsidentschaftskandidaten Schwarze Vizekandida*innen nominiert. | |
Ihre Kandidatur macht einige nervös in Kolumbien. Noch immer gehört Gewalt | |
zum politischen Geschäft. In ihre Herkunftsregion kann Márquez nicht | |
zurück. Zu viele bewaffnete Gruppen kämpfen in Cauca mittlerweile um die | |
Vorherrschaft. 2019 überlebte Márquez dort ein Attentat unverletzt. Sie | |
hatte sich mit anderen Führungspersönlichkeiten der Region versammelt, um | |
die Verhandlungen mit der Regierung wegen der indigenen Minga | |
vorzubereiten. Bewaffnete Männer erschienen, beschossen die Gruppe und | |
warfen eine Granate. Zwei Leibwächter [7][wurden verletzt]. Erst vor Kurzem | |
wurde ein Anführer ihres Wahlbündnisses im Cauca ermordet. | |
Im Wahlkampf erhielt sie mehrere Morddrohungen. Ein Trupp von Leibwächtern | |
weicht nicht von ihrer Seite. Während ihrer öffentlichen Reden flankieren | |
sie zwei dieser Männer mit schweren Metallschildern, sollte jemand aus dem | |
Publikum etwas werfen oder sie – wie zuletzt in Bogotá – mit einem | |
Laserpointer attackieren. | |
Niemand betont die afrokolumbianischen Wurzeln so wie sie – und niemand | |
wird deshalb so angefeindet. Der Senatspräsident sagte ohne Beweise, dass | |
sie mit Unterstützung der ELN-Guerilla nominiert wurde – eine | |
Unterstellung, die die arme Landbevölkerung und alle, die in Kolumbien für | |
ihre Rechte auf die Straße gehen, nur zu gut kennen. Eine ultrarechte | |
Senatorin legte ihr nahe, ihren Vornamen zu ändern, denn es sei unpassend | |
für sie, wie eine ehemalige Kolonialmacht zu heißen. Eine bekannte Sängerin | |
beleidigte Márquez als „King Kong“. | |
Wenn man sich bei Menschen in Cali umhört, die sie von früher kennen, weil | |
sie sich dort jahrelang in sozialen Bewegungen engagierte, sagen diese, | |
dass sie nie gedacht hätten, dass Márquez in die Politik gehen würde. „Sie | |
war genau wie wir anderen Frauen“, sagt eine, die sie von Arbeitstreffen | |
kennt. Eine Anführerin an der Basis. | |
Damals trug Márquez noch öfter Jeans und T-Shirt. Heute kleidet sie ein | |
23-jähriger Designer von der Pazifikküste ein, der sich von Mustern aus | |
Afrika inspirieren lässt – in leuchtenden Farben. Eines dieser jungen | |
Talente, die eine Chance verdienen, wie es laut Márquez so viele in | |
Kolumbien gibt. | |
Beim Wahlkampfabschluss in Cali trägt sie eine hochgeschossene senffarbene | |
Bluse mit geschlitzten Ärmeln und einen knallig bunt bedruckten Rock mit | |
seitlichen Rüschen. Dazu wie immer Armbänder und große Ohrringe. | |
Ihr krauses Haar hat sie nie geglättet. Allein das ist eine politische | |
Botschaft in einem Land, wo eine Fernsehjournalistin einen Skandal | |
verursachte, als sie auf einmal mit Afronaturlocken auf dem Bildschirm | |
erschien – und wo eine der bekanntesten Anhänge*innen der rechten | |
Regierungspartei mit Haarglättungs-Chemikalien ihr Geld verdient. | |
Nicht nur wegen der bunten Kleidung sticht sie aus der politischen | |
Landschaft heraus. Márquez spricht unangenehme Wahrheiten aus. Sie hat eine | |
neue Sprache in den Wahlkampf gebracht – die der afrokolumbianischen und | |
indigenen Gemeinschaften, der Menschen vom Land. An ihrer Seite tanzen und | |
singen bei den Auftritten die Mayoras, die weisen alten Frauen, die in den | |
Afrogemeinschaften so geschätzt werden. | |
Ein politisches Amt hatte Francia Márquez noch nie. Ihre Unerfahrenheit | |
wird am häufigsten an ihr kritisiert. Für die Menschen auf dem Platz spielt | |
das keine Rolle. „Viele Leute, die jetzt an der Macht sind, hatten oft auch | |
keine Erfahrung, sondern kamen auf ihre Posten, weil sie aus | |
einflussreichen Familien stammen“, sagt Jorge Enrique Caicedo, 39 Jahre | |
alt, ein afrokolumbianischer Anwalt, der früher Streifenpolizist war, es | |
aber wegen Korruption, Machtmissbrauch und Rassismus bei der Polizei nicht | |
mehr aushielt. Die seit Jahrzehnten regierende politische Klasse habe | |
Kolumbiens Probleme nicht gelöst. Im Gegenteil. | |
Für Präsidentschaftskandidat Gustavo Petro, der Márquez nur gegen | |
Widerstand nominierte, wurde sie der große Trumpf – auch bei Frauen im | |
bürgerlichen Milieu. „Ich denke wie meine Enkelin: Ich werde für Francia | |
stimmen – und den Präsidenten, der mit ihr kommt“, sagt die 72-jährige | |
Nancy Ruiz bei einer Wahlkampfveranstaltungen in Medellín. Die hellhäutige | |
Dame mit dem sorgsam frisierten Haar, der dunklen Brille und dem | |
Goldschmuck erinnert an einen Hollywoodstar. | |
Tatsächlich war sie früher Geschäftsführerin und lange Jahre in der | |
Gewerkschaft aktiv. Es freut sie, dass die jungen Frauen und Mädchen heute | |
mehr für ihre Rechte eintreten. Im Lions Club und in ihrer Familie stehe | |
sie ziemlich alleine mit ihren Ansichten da. „Sie leben in ihrer Blase, mit | |
ihrer Finca und ihrer Pension, und denken, weil es ihnen gut geht, geht es | |
allen so.“ | |
## Nicht immer ganz glücklich | |
Ruiz hat ihrer Enkelin die Studiengebühren und den Bus bezahlt und erzählt | |
empört, dass die jungen Generation in Kolumbien trotz Qualifikation nur | |
Dreimonatsverträge bekomme. | |
Gustavo Petro gilt in Kolumbien als Linker. In Deutschland würde man ihn | |
eher als Sozialdemokraten mit Hang zum Populismus einstufen. In seiner | |
Jugend war er Mitglied der urbanen M-19-Guerilla, später Bürgermeister von | |
Bogotá, zuletzt Senator. Als Bürgermeister kümmerte er sich verstärkt um | |
die ärmeren Bevölkerungsschichten. Er ist seit Jahrzehnten Berufspolitiker | |
– und kämpft gegen seinen Ruf als Macho. Nicht immer ganz glücklich. | |
Im Wahlkampf veröffentlichte er einen sogenannten Dokumentarfilm: „Die | |
Politik der Liebe“. In dem schildert er neben Monologen vor der heimischen | |
Bücherwand auch ausgiebig seine Verführungstaktiken und lässt sich beim | |
Engtanz mit seiner Frau filmen. Da hilft es wenig, dass Tochter Sofía ein | |
flammendes Plädoyer für ihren Vater hält. Zumindest in seinen Ansprachen | |
sind Frauen und Gleichberechtigung mittlerweile präsenter als früher. | |
Es ist Petros dritter Anlauf auf die Präsidentschaft, auch 2018 hatte er | |
kandidiert. Damals zog er mit der bekannten Feministin und | |
Sozialpolitikerin Angela María Robledo als Vize ins Rennen. Das ging nicht | |
gut. Robledo attestierte Petro später Nachholbedarf in Sachen | |
Gleichberechtigung. Mittlerweile hat sie sich wieder hinter ihn gestellt – | |
vor allem wegen Francia Márquez. | |
Tatsächlich ist Márquez in ihren Ansichten radikaler als Petro. Beide | |
wollen nicht nur mit der ELN-Guerilla, sondern mit allen bewaffneten | |
Gruppen Friedensgespräche führen. Dazu eine echte Reform der | |
Sicherheitskräfte, die für Menschenrechtsverletzungen berüchtigt sind. Und | |
sie wollen die heimische Landwirtschaft stärken. | |
Márquez setzt sich anders als Petro bedingungslos für ein liberales | |
Abtreibungsrecht ein. Wenn es nach ihr geht, soll die Legalisierung von | |
Drogen auch deutlich weiter gehen, um dem Drogenhandel die | |
Geschäftsgrundlage zu entziehen, der für viel Gewalt im Land verantwortlich | |
ist. „Wir werden keine Entwicklung schaffen, wenn wir den Krieg in diesem | |
Land nicht stoppen“, sagt Márquez, die in Havanna bei den | |
Friedensverhandlungen zwischen Regierung und Farc-Guerilla dabei war. | |
Petro unterlag vor vier Jahren dem jetzigen Amtsinhaber Iván Duque, dem | |
politischen Ziehsohn des mächtigen Ex-Präsidenten Álvaro Uribe. Uribe ist | |
immer noch mächtig, aber [8][zum ersten Mal einer Verurteilung | |
nähergerückt]. In seine Amtszeit fallen mindestens 6.402 Morde an | |
unschuldigen Zivilist*innen, die die Armee als Guerilla-Kämpfer*innen | |
verkleidete (falsos positivos). Die Sonderjustiz für den Frieden und die | |
Wahrheitskommission decken Stück für Stück auf, was der Grund der | |
Gewaltspirale ist. | |
Präsidentin will sie selber eines Tages immer noch werden, das hat Francia | |
Márquez deutlich gesagt. Doch erst einmal strebt sie das Amt der | |
Vizepräsidentin an. Deren Aufgaben hängen davon ab, wie der Präsident das | |
Amt zuschneidet. Es ist nicht davon auszugehen, dass sich Francia Márquez | |
mit Händeschütteln und symbolischen Ehrungen zufrieden geben wird. Petro | |
hat angekündigt, dass Márquez im Falle eines Wahlsiegs auch an der Spitze | |
eines neuen Gleichberechtigungsministeriums stehen werde. | |
29 May 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.portafolio.co/economia/pobreza-en-colombia-aun-esta-lejos-de-vo… | |
[2] https://rutasdelconflicto.com/notas/cauca-el-mundo-la-lucha-francia-marquez… | |
[3] https://www.eltiempo.com/elecciones-2022/presidencia/francia-marquez-video-… | |
[4] https://www.goldmanprize.org/recipient/francia-marquez/ | |
[5] https://twitter.com/FranciaMarquezM/status/1294673550129889280?s=20&t=J… | |
[6] /Wahlen-in-Kolumbien/!5838480 | |
[7] https://www.defensoria.gov.co/es/nube/enlosmedios/7877/Rechazan-atentado-co… | |
[8] https://www.asuntoslegales.com.co/actualidad/la-corte-constitucional-ratifi… | |
## AUTOREN | |
Katharina Wojczenko | |
## TAGS | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Kolumbien | |
GNS | |
Kolumbien | |
Kolumbien | |
Kolumbien | |
Schwerpunkt Pressefreiheit | |
Kolumbien | |
Kolumbien | |
Kolumbien | |
Kolumne Stadtgespräch | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Friedensverhandungen in Kolumbien: Schwierig, aber den Versuch wert | |
Kolumbiens Regierung verhandelt mit den Guerillas von der ELN. Gut so – | |
aber mit Venezuela am Tisch hat dies ein Geschmäckle. | |
Stichwahl in Kolumbien: Ex-Guerillero gegen Multimillionär | |
Der linke Gustavo Petro und der Rechtspopulist Rodolfo Hernández liegen in | |
Umfragen beieinander. Beide versprechen sie einen Wandel. | |
Vor Stichwahl in Kolumbien: Indirekte Hilfe gegen links | |
Drei Wochen vor der Stichwahl lässt Spaniens Justiz eine Klage gegen | |
Kolumbiens linken Kandidaten zu. Die Vorwürfe wirken mehr als zweifelhaft. | |
Presse in Kolumbien: Wiege indigener Berichterstattung | |
Diana Jembuel steht für den medialen Aufbruch in Cauca. Dort fördern | |
Journalist:innen Kolumbiens Nachwuchs im eigenen Radio-Netzwerk. | |
Präsidentschaftswahlen in Kolumbien: Etappensieg für linken Kandidaten | |
Der linke Gustavo Petro gewinnt die erste Runde der Wahlen in Kolumbien. In | |
die Stichwahl muss er gegen den Trump-Fan Rodolfo Hernández. | |
Aufschwung der Gewerkschaften: Kolumbianer organisieren sich | |
Vielen Menschen reicht es mit der Ungleichheit. Doch Gewerkschafter leben | |
in dem lateinamerikanischen Land gefährlich. | |
Wahlkampf in Kolumbien: Medellíns Bürgermeister suspendiert | |
Weil Daniel Quintero für Kolumbiens linken Präsidentschaftskandidaten | |
wirbt, muss er gehen. Doch er könnte bald zurück sein. | |
Kolumbien im Wahlkampf: Wenn sich ein General vertwittert | |
Ein rechter General polemisiert im Wahlkampf gegen den linken Kandidaten. | |
Dumm nur, dass ihm die Verfassung parteipolitische Äußerungen verbietet. |