# taz.de -- Rechtsextreme Verschwörungserzählung: Der Mythos vom „großen A… | |
> Die rassistische Verschwörungserzählung vom „Great Replacement“ ist unt… | |
> Rechten weit verbreitet. Doch auch außerhalb der Szene verfängt die Mär. | |
Bild: Trauer und Wut nach dem rasstischen Attentat in Buffalo im Bundesstaat Ne… | |
Ein [1][Rassist erschießt in Buffalo zehn Menschen]. In Essen wird der | |
rechtsterroristische [2][Anschlag eines Jugendlichen] vereitelt. In der | |
Berichterstattung über die beiden Geschehnisse fällt eine Gemeinsamkeit | |
sofort ins Auge: Die beiden Männer sollen die (geplante) Ermordung von | |
Menschen mit dem [3][„Aussterben der Weißen“] gerechtfertigt haben. | |
Die Mär vom sogenannten „großen Austausch“ hat sich in den vergangenen | |
Jahren zum wohl wichtigsten Narrativ der extremen Rechten entwickelt. Und | |
schon vor Buffalo und Essen bezogen sich Terroristen darauf – der Täter von | |
Christchurch etwa, der im Jahr 2019 insgesamt 51 Menschen muslimischen | |
Glaubens ermordete, gab seinem Hasspamphlet gar den Titel „The Great | |
Replacement“. | |
Ursprünglich aus Frankreich stammend, geht die Erzählung davon aus, die | |
weißen Bevölkerungen verschiedener Länder würden durch nichtweiße Menschen | |
ausgetauscht – und das gezielt. Als Verursacher:innen des | |
vermeintlichen Austauschs werden geheim agierende Eliten beschrieben und | |
dabei insbesondere immer wieder antisemitische Codes bedient. | |
## „Großer Austausch“ als ideologischer Überbau | |
Im Wesentlichen wird ein Szenario gezeichnet, in dem Migration und Geburten | |
eng zusammenhängen. Einerseits würde eine als illegal dargestellte | |
Migration weiße Menschen, etwa in Deutschland, in eine Minderheitenposition | |
bringen. Das geschehe sowohl durch den Zuzug der Migrant:innen selbst | |
als auch durch ihre Geburtenzahlen, die nach altbekanntem rassistischem | |
Topos als besonders ausufernd beschrieben werden. Andererseits wird auch | |
das Fortpflanzungsverhalten all jener problematisiert, die qua ihrer | |
genealogischen Abstammung und ihres Weißseins als genuin deutsch betrachtet | |
werden: Sie würden schlichtweg zu wenige Kinder bekommen. | |
Die Verfechter:innen dieses Verschwörungsmythos zeichnen ein Bild | |
Deutschlands, in dem ganze Stadtteile von feindlichen Mächten übernommen | |
würden und sich weiße Deutsche nicht mehr sicher im eigenen Zuhause fühlen | |
könnten. Menschen werden in der Erzählung in fixe Kategorien eingeteilt und | |
damit zu Zugehörigen beziehungsweise Nichtzugehörigen. Wer als Gefahr für | |
„das deutsche Volk“ gilt, entscheidet sich anhand rassistischer Marker – | |
weiße Schwed:innen oder Amerikaner:innen kommen als Schuldige in den | |
Horrorszenarien nicht vor. Stattdessen sind es People of Color, die | |
unabhängig von ihrer Herkunft oder Staatsangehörigkeit als „Umvolker“ zur | |
Gefahr stilisiert werden. | |
Es gibt mehrere Gründe, warum das Narrativ derart starken Anklang findet. | |
Martin Sellner, Gesicht der sogenannten Identitären Bewegung in Österreich, | |
erklärte schon 2016, der „große Austausch“ sei genau der übergreifende | |
Begriff, der alle wichtigen Themen des Milieus auf so praktische Weise | |
vereine. Ob gegen Migrant:innen gehetzt, vor „Mischehen“ gewarnt oder | |
eine „Islamisierung“ beschworen werden soll – all dem verleiht der „gro… | |
Austausch“ einen vermeintlich systematischen Überbau. | |
## Rassismus und Antifeminismus | |
Diese Sammelfunktion des Konzepts generiert gleichzeitig eine größere | |
Anschlussfähigkeit. Denn die einzelnen Themen, die sich darunter | |
versammeln, werden nicht nur in der rechten Szene heiß diskutiert, sondern | |
weit darüber hinaus. Wettert die extreme Rechte beispielsweise gegen einen | |
zerstörerischen Feminismus, der deutsche Kinderlosigkeit zur Folge habe, | |
lassen sich damit auch viele Menschen in die Welt des „großen Austauschs“ | |
führen, die für allzu hasserfüllte Migrant:innenhetze möglicherweise | |
nicht empfänglich wären – schließlich ist die Ablehnung feministischer | |
Errungenschaften bei weitem kein Alleinstellungsmerkmal der Rechten. Auch | |
der wissenschaftliche Begriff der Demografie wird als Einfallstor genutzt. | |
Doch anstatt tatsächlich relevante soziale Folgen des Bevölkerungswandels | |
wie die medizinische Versorgung alter Menschen zu diskutieren, verbindet | |
das rechtsextreme Milieu damit Hetze gegen Migrant:innen und Misogynie. | |
Das Thema Geschlecht durchzieht die Erzählung wie ein roter Faden. Frauen | |
und Männer nehmen im völkischen Denken fixe Rollen ein – | |
Geschlechtervielfalt gibt es nicht. Die Frau sei demnach nicht nur | |
Gebärerin der Volksnachkommen, sondern auch Sinnbild einer erdachten | |
Volkskultur. Der Austauscherzählung zufolge habe der westliche Feminismus | |
jedoch dazu geführt, dass „deutsche Frauen“ ihren Platz in der Familie | |
vernachlässigen würden und sich darüber hinaus allzu häufig auf Beziehungen | |
mit „Nichtdeutschen“ einließen. Derartige Beziehungen werden als gezielte | |
Zerstörung des weißen Deutschlands verstanden, gefördert von | |
gleichgeschalteten Medien und Regierungen. So werden auch die von der Szene | |
als deutsch betrachteten Frauen zur potenziellen Gefahr für das Volksbild | |
der extremen Rechten. | |
Auf der anderen Seite gilt die emotionsgesteuerte, unberechenbare Frau | |
dieses Zerrbilds als völkisches Gut, das vor dem als migrantisch | |
gezeichneten Mann beschützt werden muss. Die sexualisierte Darstellung | |
dieses „Anderen“ ist seit dem Kolonialismus fest verankert und auch die | |
Nationalsozialist:innen stellten ihre Opfer als unkontrollierbare | |
Gefahr für die (sexuelle) Ordnung dar. So nutzt die extreme Rechte die | |
Sexualisierung rassifizierter Männer zum einen, um ihren Rassismus zu | |
rechtfertigen, zum anderen, um den eigenen Sexismus zu verschleiern – | |
dieser sei lediglich ein Problem der „Anderen“. | |
## Erzählung suggeriert eine akute Bedrohung | |
Dass es sich beim „großen Austausch“ weder um Wissenschaft noch um | |
berechtigte Sorge handelt, wird durch die rassistische und sexistische | |
Hetze des Narrativs schnell deutlich. Tatsächlich geht es um Gewalt und | |
Ausgrenzung zur Wahrung von Privilegien. Doch wer der Erzählung Glauben | |
schenkt, kann zu der Überzeugung gelangen, schnellstmöglich handeln zu | |
müssen. Genau das macht den „großen Austausch“ so brandgefährlich: Er | |
suggeriert eine Situation der akuten Bedrohung, in der eine Zurwehrsetzung | |
mit allen Mitteln gerechtfertigt sei. Denn wo man angegriffen wird, darf | |
man nicht nur, man muss sich gar wehren, um weiteren Schaden abzuwenden, so | |
der Gedanke der extremen Rechten. In den Köpfen der Anhänger:innen wird | |
so eine absurde Täter-Opfer-Umkehr vollzogen, mit der die Tötung | |
rassifizierter Menschen als Notwehr erscheinen soll. | |
Doch wozu das Ganze? Die Szene rechtfertigt ihre gewaltvollen Forderungen | |
implizit stets mit einer völkischen Überlegenheit – das „gute Volk“ muss | |
gerettet, erhalten werden. Unverblümt ein offensives Vorgehen gegen die | |
Verachteten zu fordern, würde nicht in dieses Bild passen: Der Gute, so die | |
Argumention der Rechtsextremen, wehrt sich bloß gegen den illegitimen | |
Angriff des Feindes. Solche vermeintlichen Notwehrerzählungen sind nicht | |
neu, sondern werden seit jeher in den unterschiedlichsten Situationen | |
gezielt eingesetzt. Schon aus der Zeit vor dem deutschen Völkermord an den | |
Herero und Nama finden sich öffentliche Behauptungen über bestialische | |
Morde an deutschen Frauen und Missionaren. Wer nicht so weit in die | |
Vergangenheit blicken möchte, findet erstaunliche Anleihen der | |
Notwehrerzählung in Putins Kriegsrechtfertigung, mit der er ein angebliches | |
Nazi-Regime in Kiew zeichnet, vor dem die Welt bewahrt werden müsse. | |
Die thematischen Verknüpfungen des „großen Austauschs“ haben der extremen | |
Rechten Räume erschlossen, die weit über die eigenen Hinterzimmer | |
hinausgehen. Es überrascht kaum, dass die AfD das Narrativ bedient. Doch | |
laut einer [4][Umfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung] stimmt ein Fünftel | |
aller Befragten der Aussage zumindest teilweise zu, Deutschland werde | |
„durch den Islam unterwandert“. In [5][den USA glaubt mittlerweile jeder | |
dritte Erwachsene] an den Verschwörungsmythos. Das macht deutlich, wie | |
wichtig die Finanzierung professioneller Aufklärungs- und | |
Präventionsangebote ist, wenn wir nicht nur kaum fassbaren Massakern, | |
sondern auch der fortwährenden Ausgrenzung von rassifizierten Menschen die | |
Grundlage entziehen wollen. | |
23 May 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Gewalttat-im-US-amerikanischen-Buffalo/!5854583 | |
[2] /Geplanter-rechter-Anschlag-in-Essen/!5854351 | |
[3] /Rassistischer-Anschlag-in-Buffalo/!5855705 | |
[4] https://www.fes.de/index.php?eID=dumpFile&t=f&f=65478&token=d51… | |
[5] https://www.npr.org/2022/05/17/1099233034/the-great-replacement-conspiracy-… | |
## AUTOREN | |
Nadja Kutscher | |
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