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# taz.de -- Wahlen im Libanon: Die radikalen Gegner der Hisbollah
> Den Lebanese Forces werden bei den Wahlen im Libanon gute Chancen
> eingeräumt – einer rechten christlichen Partei, die im Bürgerkrieg
> gewütet hat.
Bild: Assaad Chaftari während des Libanesischen Bürgerkriegs, 1982
Assaad Chaftari sitzt am Rande eines Konferenzraums in einem
hochgeschossenen Hotel, [1][zwölf Kilometer nördlich von Beirut]. Mit der
flachen Hand fährt er sich über den kahlen Kopf, seine Fingerspitzen
trommeln auf den Tisch oder aneinander, ganz ruhig wirkt er nie. Immer
wieder blickt er zur Tür und in die Gesichter der übrigen Gäste. Ein
wirklich junges ist nicht darunter. „Mir wurde gesagt, es kämen Menschen
jeden Alters“, sagt er.
Die Veranstalter:innen beruhigen ihn, sagen, seine Rede werde ja über
Facebook gestreamt. Eingeladen wurde Chaftari vom Lebanese Development
Network, gekommen sind Vertreter:innen anderer NGOs und Initiativen
– er soll hier über seine Vergangenheit sprechen, über das Töten und wie er
es hinter sich gelassen hat. Eigentlich hatte er gehofft, an diesem warmen
und sonnigen Morgen einen Haufen junger Leute treffen und ihnen seine
Geschichte erzählen zu können.
Die Geschichte, die er schon so viele Male erzählt hat, dass jedes Wort
sitzt wie maßgeschneidert. Wie er aufwuchs in einem christlichen Viertel
Beiruts, mit drei, vier muslimischen Mitschülern, die er genauso liebte,
wie er den Rest der Muslime verachtete. Wie er im Alter von 20 Jahren
[2][den Ausbruch des Libanesischen Bürgerkriegs] erlebte, im April 1975.
Sich bedroht fühlte von den militanten Palästinensern, die, wie er es
damals sah, in sein Land einfielen, um Angriffe auf Israel verüben und den
Libanon islamisieren zu können. Wie er sich einer christlichen Miliz
anschloss, die es sich zum Ziel erklärt hatte, den Libanon zu befreien,
mindestens von Palästinensern und Syrern, bestenfalls von allen Muslimen,
denen es weniger um den Libanon als um den Islam ging.
Wie er während des Kriegs in der Miliz bis ganz nach oben aufsteigt und als
stellvertretender Chef ihres Geheimdienstes Bombenanschläge in Auftrag
gibt. Dass Menschen sterben und verschwinden auf sein Geheiß und er sich
bei alldem im Namen der Verteidigung der Christ:innen im Recht fühlt.
Chaftari erzählt schonungslos, seinen Zuhörer:innen und sich selbst
gegenüber. Es ist immer auch ein bisschen ihre Geschichte, die sie diesen
15 Jahre dauernden Bürgerkrieg erlebt haben, auch wenn sie natürlich nicht
so weit gegangen sind wie Chaftari. „An was immer Schreckliches Sie jetzt
denken“, sagt er und lässt der Vorstellungskraft der anderen Zeit, sich
ihren Weg zu bahnen wie Wasser durch Kieselbänke, „ich habe es getan“.
Die Gruppe, der sich Chaftari anschließt, heißt Lebanese Forces (Arabisch:
al-Quwwāt al-Libnānīyah). Sie gelten als ultrarechts, nationalistisch und
religiös. Eng verbunden sind sie mit der katholischen Kirche, sie sind
Partner der Europäischen Volkspartei (EVP, der auch die CDU und CSU
angehören, und kooperieren in Beirut mit der CDU-nahen
Konrad-Adenauer-Stiftung. Die schreibt dazu auf Nachfrage: „Die
Parteienzusammenarbeit gehört zu den Kernaufgaben der politischen
Stiftungen im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit und unter
Berücksichtigung eines Multiparteienansatzes.“
Bei den [3][Parlamentswahlen an diesem Wochenende] rechnen die Lebanese
Forces mit einem guten Ergebnis. Sie veranstalteten die mit Abstand größte
Wahlkampagne aller Parteien mit Plakaten im ganzen Land. Von keiner Partei
sah man mehr und meistens dasselbe: eine Reihe mittelalter Männer und den
Spruch „We want and we can do it“.
Der Chef der Lebanese Forces, Samir Geagea, hat bis heute den Ruf als
brutalster Kriegsherr des Bürgerkriegs, doch ist er auch der Einzige, der
anschließend im Gefängnis saß. Heute stünde keine Partei im Libanon weiter
rechts, sagen politische Beobachter:innen. Doch die Lebanese Forces
geben sich zunehmend moderat, um mehr Unterstützer:innen in der
christlichen Mitte zu gewinnen. Und das funktioniert. Denn seit einiger
Zeit suchen diese Christ:innen und auch viele Sunnit:innen nach einer
neuen politischen Heimat. Die bislang größte christliche Partei um
Staatspräsident Michel Aoun verliert an Zustimmung, und viele
Sunnit:innen fühlen sich orientierungslos, nachdem ihr traditioneller
Führer und Ex-Ministerpräsident Saad Hariri im Januar bekanntgegeben hat,
sich aus der Politik zurückzuziehen.
Die Lebanese Forces versuchen, sie alle mit einem starken
Anti-Hisbollah-Kurs zu vereinen, inszenieren sich als ihr letzter starker
Gegenspieler. Samir Geagea als den Einzigen, der Hisbollah-Chef Hassan
Nasrallah noch die Stirn bieten kann. In einigen Gegenden kooperieren die
Lebanese Forces sogar mit unabhängigen sunnitischen Kandidaten auf
gemeinsamen Listen. Wie erfolgreich das sein wird, ist ungewiss, denn bei
vielen muslimischen Wähler:innen hat Geagea aufgrund seiner brutalen
Vergangenheit im Krieg keinen guten Stand.
Wer sind diese Lebanese Forces heute? Wie viel ist übrig von ihrer
rechtsextremen Essenz, was glaubwürdig von ihrem aktuellen moderaten
Auftreten? Und was bedeutet das für den Libanon?
Ursprünglich gründen sich die Lebanese Forces als Miliz, als militanter Arm
der Partei Kataeb. Deren Gründer, Pierre Gemayel, reist 1936 zu den
Olympischen Spielen nach Berlin, ist dort fasziniert von der Hitlerjugend,
ihrer Disziplin. Nach seiner Rückkehr gründet er eine ebensolche
rechtsgerichtete Jugendbewegung, aus der die Kataeb hervorgeht.
Während des Bürgerkriegs entscheidet Pierres Sohn, Bachir Gemayel, die
zahlreichen christlichen Milizen zu einen. So entstehen die Lebanese
Forces. Ihnen und der Kataeb werden im Laufe des Kriegs schwerste
Verbrechen zur Last gelegt, darunter das Massaker in den palästinensischen
Flüchtlingscamps Sabra und Schatila 1982, bei dem Hunderte Frauen, Kinder
und Alte abgeschlachtet werden. Doch im Libanon werden diese Verbrechen nie
aufgearbeitet. Als der Bürgerkrieg 1989 endet, wird auch entschieden, dass
alle Milizen zu regulären Parteien umgewandelt werden. Kataeb und Lebanese
Forces lösen sich voneinander und treten fortan als getrennte Parteien auf.
Die Lebanese Forces erleben nach dem Krieg die schwierigste Phase ihrer
Geschichte. Von vielen werden sie für ihre Verbrechen im Bürgerkrieg
gehasst. Auch auf politischer Ebene versuchen führende prosyrische Kräfte,
die Partei loszuwerden. Manche ihrer Mitglieder werden ohne Prozess ins
Gefängnis geworfen oder direkt ermordet. Als Einziger von allen ehemaligen
Kriegsherren wandert Samir Geagea, seit Ende der 1980er Jahre Anführer der
Lebanese Forces, 1994 ins Gefängnis. Elf Jahre harrt er in einer, wie es
heißt, fensterlosen Zelle aus, 2005 kommt er frei. Für seine
Unterstützer:innen rückt ihn das in die Nähe von Gott. Es macht aus
ihm einen Märtyrer, den Einzigen, der sich nie den Syrern unterwarf, die
den Libanon noch bis 2005 besetzten. Ehrfürchtig nennen sie ihn „Dr.
Geagea“, weil er sechs Semester Medizin studierte, bevor der Krieg begann.
Assaad Chaftari, einst enger Kollege von Geagea, hat ihn noch einmal
besucht, als dieser aus dem Gefängnis entlassen wurde, später hat er ihm
zum Tod seiner Eltern kondoliert. „Mehr gibt es nicht mehr zu sagen.“ In
dem Hotel nördlich von Beirut erzählt Chaftari auch, wie er schließlich
einen Bischof trifft und mit der Miliz bricht. Seine Verbrechen holen ihn
ein, mit ihnen zu leben wird zur Qual. Aus „den Muslimen“ werden Ahmads,
Mahmuds und Mariams mit Geschichte und Gesicht. „Jetzt habe ich in den
Spiegel geguckt und dort das Biest gesehen.“ Chaftari sagt, dass er nicht
wusste, wie es weitergehen soll. „Ich hätte mich umbringen können, und ich
habe mehr als einmal darüber nachgedacht.“
Stattdessen gründet er mit anderen eine Gruppe, die Fighters For Peace,
bestehend aus ehemaligen Bürgerkriegskämpfern, christlichen, muslimischen,
drusischen. Sie halten Trainings und Workshops mit Jugendlichen ab, sie
reden in Schulen und auf Veranstaltungen. Um den jungen Erwachsenen, von
denen viele jetzt zum ersten Mal wählen, zu vermitteln: Macht nicht die
gleichen Fehler wie wir damals. Lasst euch nicht von den politischen
Führern instrumentalisieren, lasst euch nicht gegeneinander aufhetzen.
Eine schwierige Aufgabe, denn die libanesische Gesellschaft lebt auch 30
Jahre nach Ende des Bürgerkriegs in weiten Teilen mehr neben- als
miteinander. Die christlichen und muslimischen Viertel Beiruts existieren
noch immer, bis heute Realität sind auch der schiitische Süden, der
christliche Küstenstreifen gen Norden, das sunnitische Tripoli, die Drusen
in den Bergen vom Distrikt Chouf. Und so üben auch die unterschiedlichen
politischen Gruppen im Libanon ihren Einfluss aus.
Der Libanon blickt auf leidvolle zwei Jahre zurück, [4][erschüttert von der
schlimmsten Finanz- und Wirtschaftskrise] seiner Geschichte und einer
[5][Explosion im Hafen von Beirut], bei der am 4. August 2020 mehr als 200
Menschen sterben und Tausende verletzt werden.
Diese Parlamentswahlen sind die ersten, die inmitten der Krise stattfinden
und [6][nachdem im Herbst 2019 Hunderttausende Menschen auf die Straße
gingen] und für eine Abschaffung des Systems aus Klientelismus und
Korruption demonstrierten. Es sind die ersten, die nach der Katastrophe vom
Hafen stattfinden, die eine ganze Stadt traumatisierte.
Nie traten mehr oppositionelle Gruppen an, nie mehr unabhängige
Kandidat:innen. Doch das Wahlsystem im Libanon ist kompliziert, und die
alte politische Klasse verfügt über enorme Ressourcen. Einige der
Oppositionsgruppen kooperieren deshalb in gemeinsamen Listen mit einer der
Altparteien oder mit wohlhabenden Geschäftsleuten, für viele andere machte
sie das wiederum als Opposition unglaubwürdig.
So franste die Opposition an vielen Stellen aus. Die Libanes:innen
rechnen mit keinen großen Veränderungen, und doch: Es ist die Wahl, mit der
ein Wandel beginnen kann und muss. Weil den meisten auch klar ist, dass es
so wie bisher nicht weitergeht. Knapp 80 Prozent der Libanes:innen
leben unterhalb der Armutsgrenze, die Währung hat 90 Prozent ihres Werts
verloren. Viele Menschen wollen einen echten Staat mit funktionierenden
Institutionen und einer unabhängigen Justiz.
21 Monate nach der Explosion im Hafen sind keine Verantwortlichen gefunden.
Die Hisbollah sabotiert die Aufklärungsarbeit von Richtern, die sie zum
Teil sogar selbst in die Spur gebracht hat. Mitte Oktober 2021 ruft sie zu
Protesten gegen den aktuellen Untersuchungsrichter Tarek Bitar auf. Was
dann passiert, ist auch sieben Monate später nicht vollends geklärt. Doch
es ist ein Auslöser, den die Lebanese Forces erfolgreich für ihre
Inszenierung als Beschützer der Christ:innen nutzen konnte und wieder
stark machte.
Vom Justizpalast aus machen sich Unterstützer von Hisbollah und Amal-Partei
randalierend auf den Weg in ein christliches Viertel, wo sie auf bewaffnete
Kämpfer treffen. Auf Hausdächern postierte Scharfschützen schießen in die
Menge. Auch die Armee greift ein. Am Ende sind sieben Menschen tot,
darunter Unterstützer von Hisbollah und Amal und eine junge Frau, die auf
der Suche nach ihren Kindern aus dem Fenster schaute.
Viele machen im Anschluss Hisbollah und Amal für die schlimmsten
Ausschreitungen seit 2008 verantwortlich. Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah
wiederum bezichtigt Samir Geagea, seine Leute auf den Hausdächern postiert
zu haben, um Demonstranten der Hisbollah zu eliminieren. Geagea wird im
Zuge der folgenden Ermittlungen zu einer richterlichen Anhörung vorgeladen,
der er mit der Begründung fernbleibt, er komme nur, wenn auch Nasrallah
erscheine. Eine rhetorische Forderung, denn Nasrallah lebt auf der Flucht
vor den Israelis seit Jahren im Untergrund.
In den Bergen über Beirut sitzt Assaad Chaftari in seinem Wohnzimmer, so
vollgestopft mit buntem Nippes, dass es aussieht wie ein farbenschweres
Aquarell, das an den Rändern überläuft. Und wieder wandern seine Finger
immerzu über Kopf und Gesicht, die Tischkante entlang, die Sofalehne. Was
genau an jenem Oktobertag in Beirut passiert ist, weiß auch er nicht. Aber
er glaubt: Ob die Lebanese Forces nun absichtlich oder zufällig beteiligt
waren, der Partei um Samir Geagea hat es genützt. So konnte sie sich wieder
zur letzten Verteidigerin der bedrohten Christ:innen im Libanon
stilisieren, wie schon im Krieg. „Das zieht auch bei jungen Christen noch
immer. Und bei den Älteren habe ich nach den Schießereien wieder diese
Angst und Wut von früher gespürt.“
Als Chaftari danach Interviews auf Youtube gibt, wird er angefeindet. „Ich
bin beschimpft worden, als Christ, der gehorsam unter Muslimen lebt, ihnen
nach dem Mund redet und so etwas. Ich war geschockt.“ Wie auf diese Weise
die alte Rhetorik des Bürgerkrieges wieder angeheizt wurde, hält Chaftari
für gefährlich. Und er sagt: „Wer heute fanatisch ist, geht nicht mehr zur
Kataeb, sondern zu den Lebanese Forces.“
Die Kataeb, die in den vergangenen Jahren immer mehr in sich
zusammenschrumpfte, bezeichnet sich mittlerweile selbst als Opposition und
ihre einstige Schwester Lebanese Forces als rechtsextrem. Doch auch die
Lebanese Forces haben sich längst den Oppositionsmantel übergeworfen,
sagen, sie seien im Oktober 2019 mit all den Hunderttausend anderen auf die
Straße gegangen, um gegen die Hisbollah zu demonstrieren. Eine Umdeutung
der Proteste, die „Alle heißt alle“ zum Hauptslogan hatte. Die Lebanese
Forces waren ebenso gemeint wie die Hisbollah und die gesamte politische
Elite.
Tony Bader sieht das anders. Er ist der Chef der Studierendenvereinigung
der Lebanese Forces, ein wichtiger Kopf der Partei. An den Universitäten
des Landes haben die Lebanese Forces Vertretungen, Bader koordiniert sie.
In einem Café in Achrafieh, einem wohlhabenden christlichen Viertel
Beiruts, rührt er in seinem grünen Tee und blickt durchs Fenster auf die
vielbefahrenen Straßen. „Man hat genug von der Hisbollah, darum geht es.“
Für ihn ist deshalb auch das, was an dem Oktobertag 2021 passierte, die
Geschichte eines Widerstands: „Die Leute lassen nicht zu, dass Kämpfer in
ihr Viertel eindringen und Ärger machen, da verteidigen sie sich eben.“
Diese Menschen hätten den Lebanese Forces nahegestanden, aber dass es eine
Entscheidung der Partei gab, Scharfschützen zu postieren, bestreitet er.
Wie er überhaupt vieles bestreitet, was man den Lebanese Forces vorwerfen
könnte. Kriegsverbrechen? Nein. Sabra und Schatila? Eine bestimmte Gruppe
innerhalb der Lebanese Forces um einen Mann namens Elie Hobeika, der bei
einem innerparteilichen Coup 1986 von Samir Geagea gestürzt wurde. Swastika
und Hakenkreuze auf den Armen und Waden einiger ihrer Mitglieder?
Einzelfälle. „Wir hätten nichts dagegen, wenn diese Leute unsere Partei
verlassen, denn das entspricht nicht dem, für das wir stehen, und das sind
die Menschenrechte“, sagt Bader. Außerdem für einen unabhängigen souverän…
Libanon, frei vom Einfluss ausländischer Mächte, vor allem Irans und
Syriens. Und immer wieder sagt er: für die Bekämpfung der Hisbollah.
„Solange wir diese bewaffnete Gruppe haben, die unser Land zerstört, können
wir keines unserer anderen politischen Probleme wirklich lösen.“
Bei einem Zoomgespräch kritisiert der Journalist Jad Ghosn das. Er ist
einer der bekanntesten Journalist:innen des Libanon, einer, der über
Parteigrenzen hinweg viel Anerkennung und Respekt genießt. Über die
Lebanese Forces sagt er: „Sie verfolgen eine eindimensionale Idee von
Politik, die aber für viele Menschen funktioniert, weil sie Angst vor der
politischen Rolle der Hisbollah haben.“ Doch nur gegen etwas zu sein, mache
noch keine Politik.
Man müsse außerdem zwischen dem unterscheiden, was die Vertreter:innen
der Lebanese Forces öffentlich sagten und was nicht. „Keine Partei im
Libanon steht weiter rechts. Aber in ihrer öffentlichen Rhetorik sind sie
vorsichtig geworden, weil sie auf diese Weise mehr gewinnen. In Frankreich
unterstützen sie Marine Le Pen, weil sie sich für die Christ:innen
einsetzt, sie fanden Trump gut, weil er einen harten Kurs gegen Iran fuhr.
Im Libanon richtet sich ihre ganze Radikalität gegen die Hisbollah, und das
genügt.“
Mit Ausbruch der Coronapandemie im Libanon forderte Samir Geagea, die
palästinensischen und syrischen Flüchtlingscamps komplett zu schließen,
niemanden mehr hinein und hinaus zu lassen. Im aktuellen Wahlprogramm, das
Studierendenkoordinator Tony Bader Ende April über Whatsapp schickt, heißt
es, die Lebanese Forces lehnen eine Ansiedlung der palästinensischen
Flüchtlinge kategorisch ab und fordern auch eine sofortige Rückkehr der
vertriebenen Syrer in ihr Land.
Tony Bader beschreibt die Lebanese Forces als Mitte-rechts-Partei, die an
die Freiheit glaubt, an die eines jeden Einzelnen, aber auch an die des
Markts, an privaten Besitz und private Rechte. „Wir sind rechts, aber nicht
rechtsextrem. In unserer Vergangenheit findet man extreme Standpunkte,
ja, aber wir rücken schon seit Jahren immer mehr in die politische Mitte.“
Dazu gehöre auch, für Frauenrechte einzustehen und die Dekriminalisierung
von Homosexualität. Um im Weiteren diskutieren zu können, ob auch eine
Gleichstellung mit heterosexuellen Partnerschaften „infrage käme“. Beim
Thema Abtreibung vertrete man die gleiche Position wie die katholische
Kirche. Man favorisiere ein politisches System nach Schweizer Vorbild, das
die „Pluralität des Libanon“ berücksichtige. Ein Land also, das in
christliche und muslimische Kantone geteilt ist, in dem alle
Bürger:innen gleich sind, den Christ:innen aber eine „wesentliche
Rolle“ zukommt. Und: „Wir sind gegen alle Positionen, die nicht mit den
Menschenrechten vereinbar sind. Dem steht das Programm der Hisbollah
diametral entgegen.“
Jad Ghosn sagt, die Lebanese Forces würden eine Strategie verfolgen, die
sie aber nicht öffentlich zugeben könnten, denn bei der gehe es darum, auf
eine ausländische Macht zu warten, die den Libanon von der Hisbollah
befreie. „Aber das ist natürlich keine besonders patriotische oder
nationalistische Sichtweise, also wird sie nicht öffentlich kommuniziert.“
Tatsächlich haben die Lebanese Forces einen besonders engen ausländischen
Verbündeten, von dem jede:r weiß: Saudi-Arabien. Die von Wikileaks 2015
veröffentlichten „Saudi Cables“ enthalten ein Dokument, das der saudische
Botschafter im Libanon an seinen König schickte. In dem berichtet er von
einem Treffen mit Samir Geagea, bei dem dieser die Saudis um Geld bittet.
Geld, das für den Kampf gegen die Hisbollah genutzt werden solle. Der
saudische Botschafter schließt das Kommuniqué mit der Einschätzung,
Geageas Lebanese Forces könnten wichtige Alliierte im Kampf gegen die
Hisbollah sein, sie würden, so heißt es, „alles tun“.
Dass auch das Geld für die großangelegte Wahlkampagne der Lebanese Forces
aus Riad kam, ist ein offenes Geheimnis. Die Saudis haben sich für Geagea
als ihren Mann im Libanon entschieden, weil ihr natürlicher Verbündeter,
Saad Hariri, selbst Sunnit mit saudi-arabischer Staatsbürgerschaft, in
ihren Augen zu nachsichtig mit der Hisbollah umging.
Natürlich sei die Hisbollah ein besonderer Player im Libanon, sagt der
Journalist Jad Ghosn, der stärkste, der mit dem größten und potentesten
Unterstützer im Hintergrund, dem keine andere Partei, keine Miliz und auch
nicht die libanesische Armee beikommen könnte. Doch auch die Lebanese
Forces hätten ihren Geldgeber im Ausland, auch sie seien bewaffnet und
führten paramilitärische Trainings durch, wie im vergangenen Oktober zu
sehen war. „Und deshalb sind für mich Parteien wie Hisbollah und Lebanese
Forces und all die anderen in gleichen Teilen verantwortlich für die
Situation in unserem Land: Sie haben alle miteinander dafür gesorgt,
dass der Staat in seinem Innern derart geschwächt ist, dass er nicht in der
Lage ist, mit Problemen wie eben der Hisbollah selbst fertig zu werden“,
sagt Ghosn.
Wen er wählen wird, weiß der ehemalige Milizionär Assaad Chaftari noch
nicht, dafür aber, dass er weitermachen wird. Er wird seine Geschichte
immer und immer wieder erzählen, so lange er eben kann. Auch wegen der
Momente, die ihm Mut machen und den Frust aushalten lassen. Neulich erst,
als eine sehr junge Christin nach einer Veranstaltung auf ihn wartete und
ihm eine Frage ins Ohr wisperte. Wie sie ihre Eltern denn dazu bringen
könne, dass sie mehr in muslimischen Vierteln unternehmen dürfe oder dass
sie einfach mitkämen. Sie fragte ihn um Rat. Da streicht sich Chaftari
wieder über den kahlen Kopf, trommelt seine Fingerspitzen aneinander und
blickt zu Boden. Den feinen feuchten Film, der sich jetzt über seine
Pupillen spannt, sieht man trotzdem.
Hanna Voß ist freie Journalistin und Programmmanagerin im Beirut-Büro der
Rosa-Luxemburg-Stiftung
Transparenzhinweis: Das Gespräch mit Jad Ghosn hat bereits im Januar
stattgefunden. Im April hat Ghosn bekannt gegeben, selbst für eine
oppositionelle Partei anzutreten, und kandidiert bei den Wahlen für einen
Listenplatz im Metn-Distrikt, östlich von Beirut, für die Gruppe Citizens
in a State.
14 May 2022
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