# taz.de -- Wahlen im Libanon: Die radikalen Gegner der Hisbollah | |
> Den Lebanese Forces werden bei den Wahlen im Libanon gute Chancen | |
> eingeräumt – einer rechten christlichen Partei, die im Bürgerkrieg | |
> gewütet hat. | |
Bild: Assaad Chaftari während des Libanesischen Bürgerkriegs, 1982 | |
Assaad Chaftari sitzt am Rande eines Konferenzraums in einem | |
hochgeschossenen Hotel, [1][zwölf Kilometer nördlich von Beirut]. Mit der | |
flachen Hand fährt er sich über den kahlen Kopf, seine Fingerspitzen | |
trommeln auf den Tisch oder aneinander, ganz ruhig wirkt er nie. Immer | |
wieder blickt er zur Tür und in die Gesichter der übrigen Gäste. Ein | |
wirklich junges ist nicht darunter. „Mir wurde gesagt, es kämen Menschen | |
jeden Alters“, sagt er. | |
Die Veranstalter:innen beruhigen ihn, sagen, seine Rede werde ja über | |
Facebook gestreamt. Eingeladen wurde Chaftari vom Lebanese Development | |
Network, gekommen sind Vertreter:innen anderer NGOs und Initiativen | |
– er soll hier über seine Vergangenheit sprechen, über das Töten und wie er | |
es hinter sich gelassen hat. Eigentlich hatte er gehofft, an diesem warmen | |
und sonnigen Morgen einen Haufen junger Leute treffen und ihnen seine | |
Geschichte erzählen zu können. | |
Die Geschichte, die er schon so viele Male erzählt hat, dass jedes Wort | |
sitzt wie maßgeschneidert. Wie er aufwuchs in einem christlichen Viertel | |
Beiruts, mit drei, vier muslimischen Mitschülern, die er genauso liebte, | |
wie er den Rest der Muslime verachtete. Wie er im Alter von 20 Jahren | |
[2][den Ausbruch des Libanesischen Bürgerkriegs] erlebte, im April 1975. | |
Sich bedroht fühlte von den militanten Palästinensern, die, wie er es | |
damals sah, in sein Land einfielen, um Angriffe auf Israel verüben und den | |
Libanon islamisieren zu können. Wie er sich einer christlichen Miliz | |
anschloss, die es sich zum Ziel erklärt hatte, den Libanon zu befreien, | |
mindestens von Palästinensern und Syrern, bestenfalls von allen Muslimen, | |
denen es weniger um den Libanon als um den Islam ging. | |
Wie er während des Kriegs in der Miliz bis ganz nach oben aufsteigt und als | |
stellvertretender Chef ihres Geheimdienstes Bombenanschläge in Auftrag | |
gibt. Dass Menschen sterben und verschwinden auf sein Geheiß und er sich | |
bei alldem im Namen der Verteidigung der Christ:innen im Recht fühlt. | |
Chaftari erzählt schonungslos, seinen Zuhörer:innen und sich selbst | |
gegenüber. Es ist immer auch ein bisschen ihre Geschichte, die sie diesen | |
15 Jahre dauernden Bürgerkrieg erlebt haben, auch wenn sie natürlich nicht | |
so weit gegangen sind wie Chaftari. „An was immer Schreckliches Sie jetzt | |
denken“, sagt er und lässt der Vorstellungskraft der anderen Zeit, sich | |
ihren Weg zu bahnen wie Wasser durch Kieselbänke, „ich habe es getan“. | |
Die Gruppe, der sich Chaftari anschließt, heißt Lebanese Forces (Arabisch: | |
al-Quwwāt al-Libnānīyah). Sie gelten als ultrarechts, nationalistisch und | |
religiös. Eng verbunden sind sie mit der katholischen Kirche, sie sind | |
Partner der Europäischen Volkspartei (EVP, der auch die CDU und CSU | |
angehören, und kooperieren in Beirut mit der CDU-nahen | |
Konrad-Adenauer-Stiftung. Die schreibt dazu auf Nachfrage: „Die | |
Parteienzusammenarbeit gehört zu den Kernaufgaben der politischen | |
Stiftungen im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit und unter | |
Berücksichtigung eines Multiparteienansatzes.“ | |
Bei den [3][Parlamentswahlen an diesem Wochenende] rechnen die Lebanese | |
Forces mit einem guten Ergebnis. Sie veranstalteten die mit Abstand größte | |
Wahlkampagne aller Parteien mit Plakaten im ganzen Land. Von keiner Partei | |
sah man mehr und meistens dasselbe: eine Reihe mittelalter Männer und den | |
Spruch „We want and we can do it“. | |
Der Chef der Lebanese Forces, Samir Geagea, hat bis heute den Ruf als | |
brutalster Kriegsherr des Bürgerkriegs, doch ist er auch der Einzige, der | |
anschließend im Gefängnis saß. Heute stünde keine Partei im Libanon weiter | |
rechts, sagen politische Beobachter:innen. Doch die Lebanese Forces | |
geben sich zunehmend moderat, um mehr Unterstützer:innen in der | |
christlichen Mitte zu gewinnen. Und das funktioniert. Denn seit einiger | |
Zeit suchen diese Christ:innen und auch viele Sunnit:innen nach einer | |
neuen politischen Heimat. Die bislang größte christliche Partei um | |
Staatspräsident Michel Aoun verliert an Zustimmung, und viele | |
Sunnit:innen fühlen sich orientierungslos, nachdem ihr traditioneller | |
Führer und Ex-Ministerpräsident Saad Hariri im Januar bekanntgegeben hat, | |
sich aus der Politik zurückzuziehen. | |
Die Lebanese Forces versuchen, sie alle mit einem starken | |
Anti-Hisbollah-Kurs zu vereinen, inszenieren sich als ihr letzter starker | |
Gegenspieler. Samir Geagea als den Einzigen, der Hisbollah-Chef Hassan | |
Nasrallah noch die Stirn bieten kann. In einigen Gegenden kooperieren die | |
Lebanese Forces sogar mit unabhängigen sunnitischen Kandidaten auf | |
gemeinsamen Listen. Wie erfolgreich das sein wird, ist ungewiss, denn bei | |
vielen muslimischen Wähler:innen hat Geagea aufgrund seiner brutalen | |
Vergangenheit im Krieg keinen guten Stand. | |
Wer sind diese Lebanese Forces heute? Wie viel ist übrig von ihrer | |
rechtsextremen Essenz, was glaubwürdig von ihrem aktuellen moderaten | |
Auftreten? Und was bedeutet das für den Libanon? | |
Ursprünglich gründen sich die Lebanese Forces als Miliz, als militanter Arm | |
der Partei Kataeb. Deren Gründer, Pierre Gemayel, reist 1936 zu den | |
Olympischen Spielen nach Berlin, ist dort fasziniert von der Hitlerjugend, | |
ihrer Disziplin. Nach seiner Rückkehr gründet er eine ebensolche | |
rechtsgerichtete Jugendbewegung, aus der die Kataeb hervorgeht. | |
Während des Bürgerkriegs entscheidet Pierres Sohn, Bachir Gemayel, die | |
zahlreichen christlichen Milizen zu einen. So entstehen die Lebanese | |
Forces. Ihnen und der Kataeb werden im Laufe des Kriegs schwerste | |
Verbrechen zur Last gelegt, darunter das Massaker in den palästinensischen | |
Flüchtlingscamps Sabra und Schatila 1982, bei dem Hunderte Frauen, Kinder | |
und Alte abgeschlachtet werden. Doch im Libanon werden diese Verbrechen nie | |
aufgearbeitet. Als der Bürgerkrieg 1989 endet, wird auch entschieden, dass | |
alle Milizen zu regulären Parteien umgewandelt werden. Kataeb und Lebanese | |
Forces lösen sich voneinander und treten fortan als getrennte Parteien auf. | |
Die Lebanese Forces erleben nach dem Krieg die schwierigste Phase ihrer | |
Geschichte. Von vielen werden sie für ihre Verbrechen im Bürgerkrieg | |
gehasst. Auch auf politischer Ebene versuchen führende prosyrische Kräfte, | |
die Partei loszuwerden. Manche ihrer Mitglieder werden ohne Prozess ins | |
Gefängnis geworfen oder direkt ermordet. Als Einziger von allen ehemaligen | |
Kriegsherren wandert Samir Geagea, seit Ende der 1980er Jahre Anführer der | |
Lebanese Forces, 1994 ins Gefängnis. Elf Jahre harrt er in einer, wie es | |
heißt, fensterlosen Zelle aus, 2005 kommt er frei. Für seine | |
Unterstützer:innen rückt ihn das in die Nähe von Gott. Es macht aus | |
ihm einen Märtyrer, den Einzigen, der sich nie den Syrern unterwarf, die | |
den Libanon noch bis 2005 besetzten. Ehrfürchtig nennen sie ihn „Dr. | |
Geagea“, weil er sechs Semester Medizin studierte, bevor der Krieg begann. | |
Assaad Chaftari, einst enger Kollege von Geagea, hat ihn noch einmal | |
besucht, als dieser aus dem Gefängnis entlassen wurde, später hat er ihm | |
zum Tod seiner Eltern kondoliert. „Mehr gibt es nicht mehr zu sagen.“ In | |
dem Hotel nördlich von Beirut erzählt Chaftari auch, wie er schließlich | |
einen Bischof trifft und mit der Miliz bricht. Seine Verbrechen holen ihn | |
ein, mit ihnen zu leben wird zur Qual. Aus „den Muslimen“ werden Ahmads, | |
Mahmuds und Mariams mit Geschichte und Gesicht. „Jetzt habe ich in den | |
Spiegel geguckt und dort das Biest gesehen.“ Chaftari sagt, dass er nicht | |
wusste, wie es weitergehen soll. „Ich hätte mich umbringen können, und ich | |
habe mehr als einmal darüber nachgedacht.“ | |
Stattdessen gründet er mit anderen eine Gruppe, die Fighters For Peace, | |
bestehend aus ehemaligen Bürgerkriegskämpfern, christlichen, muslimischen, | |
drusischen. Sie halten Trainings und Workshops mit Jugendlichen ab, sie | |
reden in Schulen und auf Veranstaltungen. Um den jungen Erwachsenen, von | |
denen viele jetzt zum ersten Mal wählen, zu vermitteln: Macht nicht die | |
gleichen Fehler wie wir damals. Lasst euch nicht von den politischen | |
Führern instrumentalisieren, lasst euch nicht gegeneinander aufhetzen. | |
Eine schwierige Aufgabe, denn die libanesische Gesellschaft lebt auch 30 | |
Jahre nach Ende des Bürgerkriegs in weiten Teilen mehr neben- als | |
miteinander. Die christlichen und muslimischen Viertel Beiruts existieren | |
noch immer, bis heute Realität sind auch der schiitische Süden, der | |
christliche Küstenstreifen gen Norden, das sunnitische Tripoli, die Drusen | |
in den Bergen vom Distrikt Chouf. Und so üben auch die unterschiedlichen | |
politischen Gruppen im Libanon ihren Einfluss aus. | |
Der Libanon blickt auf leidvolle zwei Jahre zurück, [4][erschüttert von der | |
schlimmsten Finanz- und Wirtschaftskrise] seiner Geschichte und einer | |
[5][Explosion im Hafen von Beirut], bei der am 4. August 2020 mehr als 200 | |
Menschen sterben und Tausende verletzt werden. | |
Diese Parlamentswahlen sind die ersten, die inmitten der Krise stattfinden | |
und [6][nachdem im Herbst 2019 Hunderttausende Menschen auf die Straße | |
gingen] und für eine Abschaffung des Systems aus Klientelismus und | |
Korruption demonstrierten. Es sind die ersten, die nach der Katastrophe vom | |
Hafen stattfinden, die eine ganze Stadt traumatisierte. | |
Nie traten mehr oppositionelle Gruppen an, nie mehr unabhängige | |
Kandidat:innen. Doch das Wahlsystem im Libanon ist kompliziert, und die | |
alte politische Klasse verfügt über enorme Ressourcen. Einige der | |
Oppositionsgruppen kooperieren deshalb in gemeinsamen Listen mit einer der | |
Altparteien oder mit wohlhabenden Geschäftsleuten, für viele andere machte | |
sie das wiederum als Opposition unglaubwürdig. | |
So franste die Opposition an vielen Stellen aus. Die Libanes:innen | |
rechnen mit keinen großen Veränderungen, und doch: Es ist die Wahl, mit der | |
ein Wandel beginnen kann und muss. Weil den meisten auch klar ist, dass es | |
so wie bisher nicht weitergeht. Knapp 80 Prozent der Libanes:innen | |
leben unterhalb der Armutsgrenze, die Währung hat 90 Prozent ihres Werts | |
verloren. Viele Menschen wollen einen echten Staat mit funktionierenden | |
Institutionen und einer unabhängigen Justiz. | |
21 Monate nach der Explosion im Hafen sind keine Verantwortlichen gefunden. | |
Die Hisbollah sabotiert die Aufklärungsarbeit von Richtern, die sie zum | |
Teil sogar selbst in die Spur gebracht hat. Mitte Oktober 2021 ruft sie zu | |
Protesten gegen den aktuellen Untersuchungsrichter Tarek Bitar auf. Was | |
dann passiert, ist auch sieben Monate später nicht vollends geklärt. Doch | |
es ist ein Auslöser, den die Lebanese Forces erfolgreich für ihre | |
Inszenierung als Beschützer der Christ:innen nutzen konnte und wieder | |
stark machte. | |
Vom Justizpalast aus machen sich Unterstützer von Hisbollah und Amal-Partei | |
randalierend auf den Weg in ein christliches Viertel, wo sie auf bewaffnete | |
Kämpfer treffen. Auf Hausdächern postierte Scharfschützen schießen in die | |
Menge. Auch die Armee greift ein. Am Ende sind sieben Menschen tot, | |
darunter Unterstützer von Hisbollah und Amal und eine junge Frau, die auf | |
der Suche nach ihren Kindern aus dem Fenster schaute. | |
Viele machen im Anschluss Hisbollah und Amal für die schlimmsten | |
Ausschreitungen seit 2008 verantwortlich. Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah | |
wiederum bezichtigt Samir Geagea, seine Leute auf den Hausdächern postiert | |
zu haben, um Demonstranten der Hisbollah zu eliminieren. Geagea wird im | |
Zuge der folgenden Ermittlungen zu einer richterlichen Anhörung vorgeladen, | |
der er mit der Begründung fernbleibt, er komme nur, wenn auch Nasrallah | |
erscheine. Eine rhetorische Forderung, denn Nasrallah lebt auf der Flucht | |
vor den Israelis seit Jahren im Untergrund. | |
In den Bergen über Beirut sitzt Assaad Chaftari in seinem Wohnzimmer, so | |
vollgestopft mit buntem Nippes, dass es aussieht wie ein farbenschweres | |
Aquarell, das an den Rändern überläuft. Und wieder wandern seine Finger | |
immerzu über Kopf und Gesicht, die Tischkante entlang, die Sofalehne. Was | |
genau an jenem Oktobertag in Beirut passiert ist, weiß auch er nicht. Aber | |
er glaubt: Ob die Lebanese Forces nun absichtlich oder zufällig beteiligt | |
waren, der Partei um Samir Geagea hat es genützt. So konnte sie sich wieder | |
zur letzten Verteidigerin der bedrohten Christ:innen im Libanon | |
stilisieren, wie schon im Krieg. „Das zieht auch bei jungen Christen noch | |
immer. Und bei den Älteren habe ich nach den Schießereien wieder diese | |
Angst und Wut von früher gespürt.“ | |
Als Chaftari danach Interviews auf Youtube gibt, wird er angefeindet. „Ich | |
bin beschimpft worden, als Christ, der gehorsam unter Muslimen lebt, ihnen | |
nach dem Mund redet und so etwas. Ich war geschockt.“ Wie auf diese Weise | |
die alte Rhetorik des Bürgerkrieges wieder angeheizt wurde, hält Chaftari | |
für gefährlich. Und er sagt: „Wer heute fanatisch ist, geht nicht mehr zur | |
Kataeb, sondern zu den Lebanese Forces.“ | |
Die Kataeb, die in den vergangenen Jahren immer mehr in sich | |
zusammenschrumpfte, bezeichnet sich mittlerweile selbst als Opposition und | |
ihre einstige Schwester Lebanese Forces als rechtsextrem. Doch auch die | |
Lebanese Forces haben sich längst den Oppositionsmantel übergeworfen, | |
sagen, sie seien im Oktober 2019 mit all den Hunderttausend anderen auf die | |
Straße gegangen, um gegen die Hisbollah zu demonstrieren. Eine Umdeutung | |
der Proteste, die „Alle heißt alle“ zum Hauptslogan hatte. Die Lebanese | |
Forces waren ebenso gemeint wie die Hisbollah und die gesamte politische | |
Elite. | |
Tony Bader sieht das anders. Er ist der Chef der Studierendenvereinigung | |
der Lebanese Forces, ein wichtiger Kopf der Partei. An den Universitäten | |
des Landes haben die Lebanese Forces Vertretungen, Bader koordiniert sie. | |
In einem Café in Achrafieh, einem wohlhabenden christlichen Viertel | |
Beiruts, rührt er in seinem grünen Tee und blickt durchs Fenster auf die | |
vielbefahrenen Straßen. „Man hat genug von der Hisbollah, darum geht es.“ | |
Für ihn ist deshalb auch das, was an dem Oktobertag 2021 passierte, die | |
Geschichte eines Widerstands: „Die Leute lassen nicht zu, dass Kämpfer in | |
ihr Viertel eindringen und Ärger machen, da verteidigen sie sich eben.“ | |
Diese Menschen hätten den Lebanese Forces nahegestanden, aber dass es eine | |
Entscheidung der Partei gab, Scharfschützen zu postieren, bestreitet er. | |
Wie er überhaupt vieles bestreitet, was man den Lebanese Forces vorwerfen | |
könnte. Kriegsverbrechen? Nein. Sabra und Schatila? Eine bestimmte Gruppe | |
innerhalb der Lebanese Forces um einen Mann namens Elie Hobeika, der bei | |
einem innerparteilichen Coup 1986 von Samir Geagea gestürzt wurde. Swastika | |
und Hakenkreuze auf den Armen und Waden einiger ihrer Mitglieder? | |
Einzelfälle. „Wir hätten nichts dagegen, wenn diese Leute unsere Partei | |
verlassen, denn das entspricht nicht dem, für das wir stehen, und das sind | |
die Menschenrechte“, sagt Bader. Außerdem für einen unabhängigen souverän… | |
Libanon, frei vom Einfluss ausländischer Mächte, vor allem Irans und | |
Syriens. Und immer wieder sagt er: für die Bekämpfung der Hisbollah. | |
„Solange wir diese bewaffnete Gruppe haben, die unser Land zerstört, können | |
wir keines unserer anderen politischen Probleme wirklich lösen.“ | |
Bei einem Zoomgespräch kritisiert der Journalist Jad Ghosn das. Er ist | |
einer der bekanntesten Journalist:innen des Libanon, einer, der über | |
Parteigrenzen hinweg viel Anerkennung und Respekt genießt. Über die | |
Lebanese Forces sagt er: „Sie verfolgen eine eindimensionale Idee von | |
Politik, die aber für viele Menschen funktioniert, weil sie Angst vor der | |
politischen Rolle der Hisbollah haben.“ Doch nur gegen etwas zu sein, mache | |
noch keine Politik. | |
Man müsse außerdem zwischen dem unterscheiden, was die Vertreter:innen | |
der Lebanese Forces öffentlich sagten und was nicht. „Keine Partei im | |
Libanon steht weiter rechts. Aber in ihrer öffentlichen Rhetorik sind sie | |
vorsichtig geworden, weil sie auf diese Weise mehr gewinnen. In Frankreich | |
unterstützen sie Marine Le Pen, weil sie sich für die Christ:innen | |
einsetzt, sie fanden Trump gut, weil er einen harten Kurs gegen Iran fuhr. | |
Im Libanon richtet sich ihre ganze Radikalität gegen die Hisbollah, und das | |
genügt.“ | |
Mit Ausbruch der Coronapandemie im Libanon forderte Samir Geagea, die | |
palästinensischen und syrischen Flüchtlingscamps komplett zu schließen, | |
niemanden mehr hinein und hinaus zu lassen. Im aktuellen Wahlprogramm, das | |
Studierendenkoordinator Tony Bader Ende April über Whatsapp schickt, heißt | |
es, die Lebanese Forces lehnen eine Ansiedlung der palästinensischen | |
Flüchtlinge kategorisch ab und fordern auch eine sofortige Rückkehr der | |
vertriebenen Syrer in ihr Land. | |
Tony Bader beschreibt die Lebanese Forces als Mitte-rechts-Partei, die an | |
die Freiheit glaubt, an die eines jeden Einzelnen, aber auch an die des | |
Markts, an privaten Besitz und private Rechte. „Wir sind rechts, aber nicht | |
rechtsextrem. In unserer Vergangenheit findet man extreme Standpunkte, | |
ja, aber wir rücken schon seit Jahren immer mehr in die politische Mitte.“ | |
Dazu gehöre auch, für Frauenrechte einzustehen und die Dekriminalisierung | |
von Homosexualität. Um im Weiteren diskutieren zu können, ob auch eine | |
Gleichstellung mit heterosexuellen Partnerschaften „infrage käme“. Beim | |
Thema Abtreibung vertrete man die gleiche Position wie die katholische | |
Kirche. Man favorisiere ein politisches System nach Schweizer Vorbild, das | |
die „Pluralität des Libanon“ berücksichtige. Ein Land also, das in | |
christliche und muslimische Kantone geteilt ist, in dem alle | |
Bürger:innen gleich sind, den Christ:innen aber eine „wesentliche | |
Rolle“ zukommt. Und: „Wir sind gegen alle Positionen, die nicht mit den | |
Menschenrechten vereinbar sind. Dem steht das Programm der Hisbollah | |
diametral entgegen.“ | |
Jad Ghosn sagt, die Lebanese Forces würden eine Strategie verfolgen, die | |
sie aber nicht öffentlich zugeben könnten, denn bei der gehe es darum, auf | |
eine ausländische Macht zu warten, die den Libanon von der Hisbollah | |
befreie. „Aber das ist natürlich keine besonders patriotische oder | |
nationalistische Sichtweise, also wird sie nicht öffentlich kommuniziert.“ | |
Tatsächlich haben die Lebanese Forces einen besonders engen ausländischen | |
Verbündeten, von dem jede:r weiß: Saudi-Arabien. Die von Wikileaks 2015 | |
veröffentlichten „Saudi Cables“ enthalten ein Dokument, das der saudische | |
Botschafter im Libanon an seinen König schickte. In dem berichtet er von | |
einem Treffen mit Samir Geagea, bei dem dieser die Saudis um Geld bittet. | |
Geld, das für den Kampf gegen die Hisbollah genutzt werden solle. Der | |
saudische Botschafter schließt das Kommuniqué mit der Einschätzung, | |
Geageas Lebanese Forces könnten wichtige Alliierte im Kampf gegen die | |
Hisbollah sein, sie würden, so heißt es, „alles tun“. | |
Dass auch das Geld für die großangelegte Wahlkampagne der Lebanese Forces | |
aus Riad kam, ist ein offenes Geheimnis. Die Saudis haben sich für Geagea | |
als ihren Mann im Libanon entschieden, weil ihr natürlicher Verbündeter, | |
Saad Hariri, selbst Sunnit mit saudi-arabischer Staatsbürgerschaft, in | |
ihren Augen zu nachsichtig mit der Hisbollah umging. | |
Natürlich sei die Hisbollah ein besonderer Player im Libanon, sagt der | |
Journalist Jad Ghosn, der stärkste, der mit dem größten und potentesten | |
Unterstützer im Hintergrund, dem keine andere Partei, keine Miliz und auch | |
nicht die libanesische Armee beikommen könnte. Doch auch die Lebanese | |
Forces hätten ihren Geldgeber im Ausland, auch sie seien bewaffnet und | |
führten paramilitärische Trainings durch, wie im vergangenen Oktober zu | |
sehen war. „Und deshalb sind für mich Parteien wie Hisbollah und Lebanese | |
Forces und all die anderen in gleichen Teilen verantwortlich für die | |
Situation in unserem Land: Sie haben alle miteinander dafür gesorgt, | |
dass der Staat in seinem Innern derart geschwächt ist, dass er nicht in der | |
Lage ist, mit Problemen wie eben der Hisbollah selbst fertig zu werden“, | |
sagt Ghosn. | |
Wen er wählen wird, weiß der ehemalige Milizionär Assaad Chaftari noch | |
nicht, dafür aber, dass er weitermachen wird. Er wird seine Geschichte | |
immer und immer wieder erzählen, so lange er eben kann. Auch wegen der | |
Momente, die ihm Mut machen und den Frust aushalten lassen. Neulich erst, | |
als eine sehr junge Christin nach einer Veranstaltung auf ihn wartete und | |
ihm eine Frage ins Ohr wisperte. Wie sie ihre Eltern denn dazu bringen | |
könne, dass sie mehr in muslimischen Vierteln unternehmen dürfe oder dass | |
sie einfach mitkämen. Sie fragte ihn um Rat. Da streicht sich Chaftari | |
wieder über den kahlen Kopf, trommelt seine Fingerspitzen aneinander und | |
blickt zu Boden. Den feinen feuchten Film, der sich jetzt über seine | |
Pupillen spannt, sieht man trotzdem. | |
Hanna Voß ist freie Journalistin und Programmmanagerin im Beirut-Büro der | |
Rosa-Luxemburg-Stiftung | |
Transparenzhinweis: Das Gespräch mit Jad Ghosn hat bereits im Januar | |
stattgefunden. Im April hat Ghosn bekannt gegeben, selbst für eine | |
oppositionelle Partei anzutreten, und kandidiert bei den Wahlen für einen | |
Listenplatz im Metn-Distrikt, östlich von Beirut, für die Gruppe Citizens | |
in a State. | |
14 May 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Beirut/!t5015339 | |
[2] /Proteste-im-Libanon/!5635059 | |
[3] /Parlamentswahl-im-Libanon/!5853309 | |
[4] /Wirtschaftskrise-im-Libanon/!5700059 | |
[5] /Nach-Hafen-Explosion-im-Libanon/!5845412 | |
[6] /Sozialproteste-im-Libanon/!5632044 | |
## AUTOREN | |
Hanna Voß | |
## TAGS | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Libanon | |
Beirut | |
Hisbollah | |
GNS | |
Beirut | |
Libanon | |
Libanon | |
Wahlen | |
Libanon | |
Libanon | |
Libanon | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
40 Jahre nach Massaker im Libanon: Auf Leichen gebaut | |
Vor 40 Jahren verüben radikale Christen ein Massaker in Beirut. Was damals | |
geschah, ist bis heute nicht ganz geklärt. Eine Spurensuche. | |
Ministerpräsidentenwahl im Libanon: Der Alte ist der Neue | |
Im Libanon wurde der Milliardär Nadjib Mikati wiedergewählt. Er muss nun | |
das Land nun aus der im Jahr 2019 begonnenen Wirtschaftskrise führen. | |
Energiekrise im Libanon: Solaranlagen gegen das System | |
Im Libanon gibt es keinen zuverlässigen, günstigen Strom. Solarenergie | |
könnte das Land erhellen, aber auch das politische System transformieren. | |
Nach den Wahlen im Libanon: Blockbildung im Gange | |
Die libanesischen Wahlen sind ausgezählt: Hisbollah und Verbündete | |
verlieren, die Opposition legt zu. Die Regierungsbildung dürfte dauern. | |
Parlamentswahl im Libanon: Libanesische Diaspora hat gewählt | |
Im Ausland lebendene Libanes*innen haben ihre Stimme für die Wahl am | |
kommenden Sonntag abgegeben. Scheinbar kam es zu Wahlverstößen. | |
„Rettungsplan“ für den Libanon: Reformen wird es nicht geben | |
Der milliardenschwere Deal zwischen dem Libanon und dem Internationalen | |
Währungsfonds spielt nur der politischen Elite im Libanon in die Karten. | |
Nach Hafen-Explosion im Libanon: Ohne Strafe keine Gerechtigkeit | |
Fast zwei Jahre nach der Explosion im Libanon haben Familien gegen | |
Ex-Minister geklagt. An das politische und juristische System glauben nicht | |
alle. |