# taz.de -- 40 Jahre nach Massaker im Libanon: Auf Leichen gebaut | |
> Vor 40 Jahren verüben radikale Christen ein Massaker in Beirut. Was | |
> damals geschah, ist bis heute nicht ganz geklärt. Eine Spurensuche. | |
Bild: Bilder des Schreckens: Helfer und Verwandte bergen Leichen, die bei dem M… | |
BEIRUT taz | Weiß man nicht, wo er sich befindet, läuft man einfach daran | |
vorbei. Vorbei an einem Ort, an dem die Leichen Hunderter Frauen und Kinder | |
vergraben sind und der wie zufällig in ein Chaos gesetzt wirkt, als wäre da | |
eben noch Platz gewesen. Als hätte man nicht gewusst, wohin sonst. Es ist | |
ein kaum beachteter Ort, doch Nuhad Srour Mirai wird ihn immer finden, | |
manchmal wandert sie sogar im Schlaf dorthin. Souverän bahnt sie sich ihren | |
Weg durch Menschen, Motorroller, Hühner und Verkaufsstände. Zwischen einem | |
Stand mit Gemüse und einem mit Kleidung fährt sie ihren rechten Unterarm | |
aus und läuft, der Richtung folgend, weiter. | |
Keine 20 Meter entfernt gelangt sie zu einem Platz aus platt getrampelter | |
staubig-brauner Erde. Ein grauer Stein am anderen Ende, eingerahmt von zwei | |
Bannern, die auf dem Boden gekrümmte Leichen zeigen und mit markigen Worten | |
Israel und seine Verbündeten für das Massaker von Sabra und Schatila | |
verantwortlich machen. | |
Es ist ein trostloser Ort. Die Verkäufer an den Ständen vom Straßenmarkt | |
werfen leere Kisten und Abfall hierhin, pfirsichkerngroße Fliegen schwirren | |
Besucher*innen zwischen die Wimpern. Ein winziges weißes Kätzchen | |
kämpft sich seinen Weg aus einem Berg von Müll, wellige Pappstreifen | |
bleiben an seinem verfilzten Fell kleben, und nach einer Weile gibt es | |
mauzend auf. | |
Nuhad steht jetzt mit hängenden Schultern auf dem Platz. Eine ganze Weile | |
sagt sie nichts. Ihre Gedanken scheinen sich von diesem Ort zu entfernen. | |
„Ich hatte immer Angst, dass so etwas noch mal passieren könnte“, bringt | |
sie schließlich hervor. | |
Was damals passierte, ist Gegenstand von Filmen und Büchern geworden, und | |
doch unbegreiflich geblieben. Zum 40. Mal jährt sich in diesem September | |
das Massaker von Sabra und Schatila, bei dem vornehmlich radikale Christen | |
Hunderte palästinensische Flüchtlinge und auch viele Libanes*innen | |
mitten in Beirut abschlachteten. Das Grauen dauerte drei Tage, weil niemand | |
es stoppte, auch nicht die israelische Armee, die die Camps während der | |
gesamten Zeit umstellte. Journalist*innen schrieben später von Mädchen, | |
die mit Kruzifixen vergewaltigt und von schwangeren Frauen, denen die Föten | |
aus den Bäuchen geschnitten worden waren. | |
Was war passiert? Und was macht es mit einer Gesellschaft, wenn diese Dinge | |
wie im Libanon nie aufgearbeitet werden? Was bedeutet das Massaker für ein | |
Land, das noch immer gespalten und von Krisen geschüttelt ist? Der Versuch | |
einer Spurensuche. | |
Im September 1982 ist der Bürgerkrieg im Libanon an seinem Höhepunkt | |
angelangt, seit sieben Jahren bekämpfen sich verschiedene Gruppen, die sich | |
nur grob in linke palästinensisch-muslimische und rechte christliche | |
Allianzen unterteilen lassen. Die Realität ist komplexer und wird es | |
zunehmend, als im Juni 1982 auch Israel im Libanon einmarschiert. | |
Indirekter Akteur in diesem Krieg ist Israel schon länger, da die | |
Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) unter [1][Yassir Arafat] | |
Beirut Anfang der 1970er Jahre zu ihrem Hauptquartier erklärt hatte. | |
Auf der Suche nach Verbündeten finden bereits kurz nach Beginn des Krieges | |
Israel und die rechtsgerichtete christliche Partei Kataib zusammen. Sie | |
eint das Ansinnen, die PLO aus dem Libanon zu vertreiben. Israels | |
Verteidigungsminister Ariel Scharon treibt der Wunsch an, ein christliches | |
Libanon an Israels Nordgrenze zu errichten, mit einem gewissen Bachir | |
Gemayel an der Spitze. | |
Dieser Bachir Gemayel ist Sohn des Kataib-Gründers Pierre Gemayel, der sie | |
nach dem Vorbild faschistischer Gruppen in Europa schuf, allen voran der | |
Hitlerjugend. Sohn Bachir gründet schließlich die Lebanese Forces als | |
militärischen Arm der Kataib und verhilft den Christen damit zu neuer | |
Stärke. Bachir Gemayel gilt außerdem als ausgesprochen charismatischer | |
Mann, der im August 1982 tatsächlich zum neuen libanesischen | |
Staatspräsidenten gewählt wird. | |
Am 14. September 1982 fällt Bachir Gemayel im Alter von 34 Jahren einem | |
Attentat zum Opfer. Zum letzten Mal, bevor er Präsident geworden wäre, hält | |
er an diesem Nachmittag eine Ansprache an seine Lebanese Forces, als eine | |
Bombe ihn und 26 weitere Menschen in den Tod reißt. | |
Assaad Chaftari, damals stellvertretender Chef des Geheimdienstes der | |
[2][Lebanese Forces], sagt: „Wir hatten den wahren Täter schon einen Tag | |
später. Wir wussten, dass die SSNP (Syrische Soziale Nationalistische | |
Partei) hinter dem Attentat steckte.“ Doch in den Stunden und Tagen nach | |
dem Anschlag herrscht Chaos in Beirut, und schnell werden offiziell | |
palästinensische Terroristen für Bachirs Tod verantwortlich gemacht. Israel | |
hatte die PLO Ende August nach Tunesien vertrieben, doch das Attentat dient | |
Israel als Beleg, dass Arafat noch immer in Beirut operierte. Und als | |
Vorwand, in den Flüchtlingscamps von Sabra und Schatila, mitten im | |
muslimischen West-Beirut, nach den vermeintlich verantwortlichen | |
Terroristen zu suchen. | |
Chaftari, der damals eng mit dem israelischen Auslandsgeheimdienst | |
zusammenarbeitete, sagt: „Der Mossad hatte Kenntnis darüber, dass noch | |
immer zwischen 1.500 und 2.000 palästinensische Terroristen in den Camps | |
hockten. Es bestand die Sorge, dass es denen gelingt, die Strukturen | |
innerhalb und zwischen den Camps wieder aufzubauen, wenn sich die Israelis | |
zu früh zurückziehen.“ | |
Vor allem Verteidigungsminister Ariel Scharon teilte diese Sorge. In Israel | |
als hervorragender General geschätzt, fehlte ihm für den Karriereaufstieg | |
noch politisches Profil. Dieser Krieg sollte es ihm verleihen. „Der | |
Libanon-Feldzug war von Anfang an Scharons Projekt“, sagt Chaftari, der ihn | |
persönlich kennenlernte. „In Israel musste er deshalb jetzt den Beweis | |
liefern, dass wir, obwohl ja immer noch Araber, tatsächlich Verbündete | |
waren. Dass wir handelten, wenn es drauf ankam.“ | |
Also haben die Israelis den Chef der Lebanese Forces um Männer gebeten, die | |
er in die Camps schicken könnte. Er brauche mindestens 24 Stunden, habe der | |
geantwortet. Ein anderer Mann schaltete sich ein: Elie Hobeika, Chef des | |
Geheimdienstes der Lebanese Forces. Er könne ein paar Männer | |
zusammentrommeln, Straßeneinheiten aus der näheren Umgebung. Männer für | |
einfache, brutale Arbeiten. | |
Nuhad Srour Mirai wusste von diesen Vorgängen, ganz in der Nähe ihres | |
Zuhauses, natürlich nichts. Sie war 16 Jahre alt und lebte mit ihrer | |
Familie etwas außerhalb des Schatila-Camps. Den ganzen Tag über hatte es | |
zwischen der israelischen Armee und bewaffneten Palästinensern Schießereien | |
rund ums Camp gegeben. „Es herrschte so eine seltsame Stimmung. Man wusste, | |
es würde noch etwas passieren.“ | |
Gerüchte kursierten, dass die Christen Bachirs Ermordung als Vorwand nutzen | |
würden, um Palästinenser zu töten. „Unser Vater arbeitete in einer | |
christlichen Gegend in Ost-Beirut. Nach Bachirs Tod warnte ihn ein Kollege: | |
Die werden das euch in die Schuhe schieben. Nimm deine Familie und flieh.“ | |
Doch der Vater habe das nicht geglaubt, erinnert sich Nuhad. „Er sagte, wir | |
hätten doch keine jungen Kämpfer in unserer Familie, wir seien nicht | |
gemeint.“ | |
Vom Massengrab aus führt die 56-jährige Nuhad zurück auf den Markt, vorbei | |
an Kühen und Ziegen, die vom Trubel ungerührt Essensreste von der Straße | |
pflücken. Sie biegt in eine Straße ein, dann um eine schmale Ecke und in | |
einen dunklen Gang zwischen zwei Häusern. Von dem Haus ihrer Familie ist | |
nur die Tür übriggeblieben, in Stein eingefasst, dahinter sind neue | |
Wohnungen entstanden. Die Camps von Sabra und Schatila wachsen stetig und | |
sind heute Heimat von mehr als 20.000 Menschen. Nuhad fährt vorsichtig über | |
das zerkratzte Holz der Tür, die früher zu ihrem Zuhause führte und heute | |
ins Nichts. | |
„Wir sind geblieben. Acht Kinder, unsere Eltern und die schwangere Leyla, | |
eine Nachbarin. Wir schliefen zusammen auf dem Boden.“ Die Nacht über sei | |
es ruhig geblieben, erst in den frühen Morgenstunden hätten sie dann wieder | |
Lärm vernommen, und plötzlich seien sie überall gewesen. „Ich hörte sie | |
über mir, neben mir, von Dach zu Dach springen“, sagt Nuhad und wischt mit | |
der Hand über ihr schweißnasses Gesicht. | |
„Sie haben an die Tür gehämmert. Mein Vater öffnete, ich sah etwa 30 Männ… | |
in Uniform. Sie waren aggressiv, schrien auf ihn ein. Er sagte, wir sind | |
keine Kämpfer, wir sind nicht die, die ihr sucht.“ Die Männer haben die | |
gesamte Familie hinausgeführt und sie gezwungen, sich in einer Reihe | |
aufzustellen, von groß nach klein. Nuhad bildet mit ihren Händen die Form | |
einer dicken unsichtbaren Raupe und läuft zwei, drei Schritte vor und | |
wieder zurück. | |
Dann haben sie unschlüssig gewirkt, was sie mit ihnen anstellen sollen, und | |
sie wieder zurück ins Haus gebracht. Sie nahmen alles, was sie an Geld und | |
Wertvollem finden konnten und überlegten wohl, weiterzuziehen. Doch dann | |
sei ein weiterer Mann hinzugekommen und habe geschrien: Was macht ihr hier, | |
wisst ihr nicht, wie man schießt, wisst ihr nicht, wie man tötet? „Er | |
zeigte es ihnen.“ Nuhad hält eine unsichtbare Waffe vor ihren Bauch, macht | |
„ratatatata“. „Wir sind einfach übereinander gefallen.“ Sie selbst gli… | |
Boden, auf dem Arm ihre Schwester Shadia, anderthalb Jahre alt. Vernahm das | |
Röcheln ihres Vaters und sah die blutüberströmten Körper ihrer Geschwister. | |
Durch den Schweiß auf Nuhads Gesicht rinnen jetzt Tränen. „Ich habe Shadia | |
sehr geliebt, mich immer um sie gekümmert. Aber ich war zu Boden gegangen, | |
und sie verstand nicht, was vor sich ging. Sie sah unsere Mutter, sagte | |
Mama, Mama, und krabbelte auf sie zu. Da schossen sie ihr in den Kopf.“ | |
Noch weiß die 16-jährige Nuhad es nicht, doch in diesem Moment sterben in | |
ihrem Haus neben Shadia, 1,5 Jahre, ihre Brüder Shadi, 3 Jahre, Farid, 5 | |
Jahre, Nidal, 14 Jahre, die schwangere Leyla und Nuhads Vater. Ihre Mutter, | |
ihre ältere Schwester Souad, Maher, 15, und der 7-jährige Ismail überleben. | |
„Meine Mutter hat meinen Blick gesucht und mir zu verstehen gegeben: Stell | |
dich tot.“ Souad treffen 16 Kugeln, die sie lähmen, sie wird viele Jahre | |
ihres Lebens im Rollstuhl verbringen. | |
Was sie auch nicht wissen: Das Massaker hat erst begonnen, in den folgenden | |
Tagen werden Hunderte Menschen in den Camps von Sabra und Schatila, in den | |
Gebieten darum herum und im nahe gelegenen Sportstadium sterben. Die | |
Opferzahlen variieren bis zum heutigen Tag zwischen 750 und 3.500. Viele | |
Leichen werden mit Bulldozern abtransportiert oder rasch irgendwo | |
verschüttet. Beirut, die Stadt, die immer wieder aufsteht, ist auch auf | |
Leichen gebaut. | |
„Einen Monat habe ich nur an Souads Krankenbett gesessen. Ich konnte nicht | |
in dieses Haus zurück“, sagt Nuhad. Danach schliefen die Geschwister | |
zusammen in einem Bett, schreckten bei jedem Geräusch hoch. Noch drei Jahre | |
blieb die Familie dort wohnen. Heute sagt Nuhad: „Ich bin nie darüber | |
hinweggekommen.“ | |
Miriam Modalal ist eine deutsch-libanesische Psychologin und | |
Traumaexpertin, die heute bei [3][UN Women] in New York arbeitet und zuvor | |
mehrere Jahre im Libanon als Friedens- und Konfliktberaterin tätig war. Sie | |
sagt: „Solange es so viele lebensbedrohliche alltägliche Trigger gibt, kann | |
ein Trauma sich nicht integrieren und bearbeitet werden. Für die | |
Palästinenser*innen im Libanon bedeutet das: Solange sie in | |
unmenschlichen Lagersituationen leben, jeden Tag Mikroaggressionen | |
erleiden, indem sie etwa jahrzehntelang an Checkpoints vorbei müssen, um | |
nach Hause zu kommen, kann keine Heilung beginnen.“ | |
Für Georges Khalil (Name geändert) waren die Palästinenser damals Täter, | |
nicht Opfer. Seit er klein war, hörte er die Geschichten von | |
Palästinensern, die in seinem Land Krieg führten. Aufgewachsen in einer | |
christlichen Gegend, fürchtete er eine Islamisierung des Libanon und | |
schloss sich mit 18 Jahren den Lebanese Forces an. Zu dem Gespräch erklärt | |
er sich nur bereit, wenn er unter keinen Umständen erkannt werden kann. Die | |
gelb verspiegelte Sonnenbrille nimmt er während des Gesprächs in einem | |
französischen Bistro in Beirut kein einziges Mal ab. | |
Mit leiser Stimme erzählt er, dass er am 14. September einen Anruf von | |
Geheimdienstchef Elie Hobeika erhält, der ihn bittet, Bachirs Tod zu | |
überprüfen. Khalil geht ins Krankenhaus und sieht den Mann vor sich, der so | |
viel Hoffnung bedeutet hatte. „Bachir war nicht nur unser Anführer. Er war | |
unser Held, unsere Inspiration.“ Sein Gesicht sei verbunden, nur die Augen | |
und ein Teil des Mundes seien zu sehen gewesen. „Ich wusste, dass er es | |
ist, doch ich wollte es nicht wahrhaben.“ Am Donnerstag, den 16. September, | |
macht er sich dann auf den Weg zum Camp Schatila. | |
In dem Bistro in Beirut nimmt Khalil ein Blatt Papier und zeichnet die | |
Lager Sabra und Schatila, die Umgebung und die Kaserne ein, die er an | |
diesem Nachmittag betritt. Dort trifft er die führenden israelischen Köpfe, | |
Drori, Eitan, kurz auch Ariel Scharon. Die Zeichnung zeigt, wie nah die | |
Baracke an der Grenze zu Schatila liegt. „Bis jetzt war ich die meiste Zeit | |
mit Hobeika zusammen. Kein einziges Mal habe ich gehört, dass er den Befehl | |
zu einem Massaker gegeben hat.“ Doch dass der Geheimdienstchef Männer | |
zusammentrommelte, bestätigt auch er. | |
Khalil malt mehrere Kreise, israelische Panzer, die das Lager umstellten. | |
Dann kritzelt er wild mit dem Stift in der Schatila-Gegend herum und sagt: | |
„Um 18 Uhr erlaubte uns die israelische Armee, hier reinzugehen.“ Als | |
Khalil drin ist, sieht er, wie er sagt, „Verrückte“. Männer, denen der | |
Wahnsinn in die Augen gekrochen war. „Natürlich, diese Männer hatten, wie | |
wir alle, ihren Anführer verloren. Sie waren unendlich wütend. Doch da war | |
mehr.“ Viele Männer hätten Kokain genommen, sie hätten jede Hemmung | |
verloren. | |
Er habe gesehen, wie Männer eine Gruppe von Frauen an einer Hauswand | |
aufstellte, ein anderer ein Mädchen gewaltsam ins Haus zog. „Ich bin zu | |
einem der Männer, habe gefragt, was sie da täten und dass sie aufhören | |
sollten, bis ich mit ihrem Vorgesetzten gesprochen hatte. Kaum hatte ich | |
mich umgedreht, hörte ich die Schüsse.“ | |
## Vieles lässt sich nicht mehr überprüfen | |
Khalil sagt, er habe nie jemanden getötet, der nicht selbst eine Waffe | |
getragen habe. Und habe deshalb ein reines Gewissen. Er habe sogar | |
versucht, Schlimmeres zu verhindern, doch gegen den Wahnsinn im Camp keine | |
Chance gehabt. Überprüfen lässt sich das nicht. Wie so vieles nicht, 40 | |
Jahre später. | |
Miriam Modalal sagt: „Damit so etwas möglich ist, sucht sich das Gehirn | |
Erklärungen. Eigentlich passen hier Werte und die eigenen Handlungen nicht | |
mehr zueinander, doch man betreibt sozusagen eine eigene Gehirnwäsche, | |
verzerrt und verdrängt das Getane. Und man entmenschlicht sein Gegenüber. | |
Aus Palästinensern, selbst ungeborenen, werden Terroristen.“ Eine | |
100-prozentige Gewissheit, was an diesen drei Septembertagen im Jahr 1982 | |
passiert ist, wird es wohl nie geben. Vermutlich gingen nicht nur die | |
Lebanese Forces in die Camps, sondern nutzten auch andere Gruppen die | |
Chance. | |
„Die Verantwortung für das, was passiert ist, liegt bei mehr als einer | |
Seite, im Gegensatz zu dem, was die Medien veröffentlicht haben. Ein | |
Interesse daran, Palästinenser zu töten, hatten damals viele“, sagt Khalil, | |
und: „Als wir um 18 Uhr die Erlaubnis von der israelischen Armee erhielten, | |
waren andere ja bereits drin.“ | |
Auch Nuhad erzählt, dass einige der Männer, die in ihrem Haus mordeten, | |
muslimische Namen trugen, also mit großer Wahrscheinlichkeit nicht zu den | |
Lebanese Forces gehörten. Fest steht auch: Das Massaker von Sabra und | |
Schatila war weder das erste während des 15 Jahre dauernden Bürgerkriegs im | |
Libanon, noch blieb es das letzte. So verübten auch palästinensische | |
Gruppen Massaker in christlichen Gegenden. | |
Als Reaktion auf große Demonstrationen in Tel Aviv setzte die israelische | |
Regierung die Kahan-Kommission ein. Ariel Scharon musste als | |
Verteidigungsminister zurücktreten, doch er erholte sich politisch und | |
wurde im Jahr 2001 zum Premierminister gewählt. Die Geschwister Maher und | |
Souad, die das Massaker überlebten, wollten Scharon etwa zur gleichen Zeit | |
vor einem belgischen Gericht verklagen, auch Elie Hobeika sollte aussagen. | |
Er habe Informationen über Scharon, die er an die Öffentlichkeit bringen | |
wolle, sagte er. Doch kurz darauf wurde Hobeika durch eine Autobombe | |
getötet, wer dahintersteckt, ist bis heute ungeklärt. | |
Während seiner Vernehmungen durch die Kommission, die dem Kahan-Report zu | |
entnehmen sind, beteuert Scharon immer wieder, er habe erst am | |
Freitagnachmittag von den Geschehnissen in den Camps erfahren. Doch | |
Zeitzeuge Georges Khalil sagt: „Wir bekamen die Informationen schon vorher. | |
Wir wussten alle, was vor sich geht, auch die höchsten israelischen | |
Verantwortlichen. Doch niemand hat etwas unternommen. Es wurde bewusst | |
zugelassen.“ | |
Ariel Scharon starb im Jahr 2014, er wird, wie viele andere, nicht mehr zur | |
Verantwortung gezogen werden können. Im Libanon wurde das Massaker wie auch | |
der Bürgerkrieg als solcher nie aufgearbeitet. Die Lebanese Forces agieren | |
heute als normale Partei, gewannen bei der vergangenen Parlamentswahl die | |
Mehrheit der Sitze. | |
„Solange man auf toxische Mechanismen zurückgreift, um mit Trauma | |
umzugehen, kann die echte Arbeit nicht beginnen“, sagt Traumaexpertin | |
Miriam Modalal. Die Führungszirkel der verschiedenen konfessionellen und | |
politischen Gruppen im Libanon bedienten noch immer die alten Narrative, | |
weil daran ihre Macht hänge. Sie sagt, wer die Erzählungen und damit die | |
Identität seiner Gruppe infrage stelle, stelle immer auch sich selbst | |
infrage und das, woran er sein Leben lang geglaubt habe. „Das ist ein | |
unheimlich schmerzhafter Prozess.“ | |
Assaad Chaftari, früher einer der führenden Köpfe der Lebanese Forces, ist | |
ihn gegangen. Er bricht noch vor Kriegsende mit der Miliz und gründet Jahre | |
später mit anderen die [4][Fighters for Peace], eine Gruppe aus ehemaligen | |
Bürgerkriegskämpfern, die mit Jugendlichen arbeiten und über ihre | |
Vergangenheit sprechen. | |
Modalal sagt, dass diese Dinge auf institutioneller Ebene passieren | |
müssten. Insbesondere im Hinblick auf die Situation der | |
Palästinenser*innen im Libanon müssten Lebensrealitäten verändert, | |
das unwürdige Leben in den Camps beendet werden. Ein weiter Weg, doch | |
einer, der machbar sei, sagt Modalal. Im Libanon fehlt es jedoch am Willen | |
dazu. | |
Maher Srour Mirai, der das Massaker im Alter von 15 Jahren überlebte, hat | |
Assaad Chaftari getroffen. Bei ihrer ersten Begegnung sei Chaftari vor ihm | |
auf die Knie gesunken, habe seine Füße geküsst. Maher sagt: „Vergessen kann | |
ich nicht. Aber ich habe ihm vergeben.“ | |
16 Sep 2022 | |
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[3] https://www.unwomen.org/en/about-us/contact-us | |
[4] http://fightersforpeace.org/ | |
## AUTOREN | |
Hanna Voß | |
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