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# taz.de -- Vermeintliches Idyll: „Ziehen Sie lieber hierhin“
> Wer im Westmünsterland einen malerischen Sehnsuchtsort sucht, sollte nach
> Raesfeld kommen. Doch die schöne Fassade hat auch dunkle Seiten.
Bild: Schloss Raesfeld mit einem Turm von 52,5 Metern: der höchste Schlossturm…
Raesfeld taz | Für viele naturentwöhnte Großstädter:innen aus dem
Norden des Ruhrgebiets ist das kleine Dorf Raesfeld im Westmünsterland ein
Sehnsuchtsort. Die mit zugehörigen Dörfern wie Erle und Bauernschaften wie
Homer oder Brook 12.515 Einwohner:innen zählende Gemeinde liegt mitten
in den Feldern und Wäldern des Naturparks Hohe Mark, in dem, was
eingefleischte Westfäl:innen seit einigen Jahren Münsterländer
Parklandschaft nennen. Bis nach Oberhausen sind es gute 40, bis nach
Gelsenkirchen knappe 45 Kilometer.
Gerade dieser Norden des Reviers hat lange mit dem Strukturwandel, mit dem
Ende von Kohle und Stahl gekämpft. Mit dem Bottroper Bergwerk
Prosper-Haniel machte die letzte Zeche hier erst 2018 dicht. Mag sich der
reiche Süden des Ruhrgebiets immer mehr in eine Düsseldorf-Kopie
verwandeln: Gerade im armen Norden des Ruhrpotts sind mit der
Schwerindustrie Zehntausende gut bezahlte Malocherjobs verschwunden.
Geschrumpft sind damit auch Gewerbe- und Einkommenssteuern, gestiegen die
Sozialausgaben.
Hoch verschuldet sind die Städte im Norden des Reviers deshalb. Allein
Oberhausen war Ende 2020 mit satten 1,9 Milliarden Euro in den Miesen. Pro
Kopf macht das einen Schuldenstand von exakt 9.045 Euro und 38 Cent,
rechnet das in „IT NRW“ umbenannte statistische Landesamt vor. Übersehbar
ist das nicht: In weiten Teilen des Ruhrgebiets gleichen die Straßen noch
immer Buckelpisten, viele Schwimmbäder und Bibliotheken sind dicht.
Gleichzeitig schrumpft die Bevölkerung. Seit 1990 [1][hat etwa
Gelsenkirchen mehr als 33.000 Menschen verloren.]
Raesfeld dagegen wächst: Mehr als 1.600 Einwohner:innen hat das Dorf im
gleichen Zeitraum für sich gewinnen können. „Sie kommen aus dem Ruhrgebiet?
Ziehen Sie lieber hierhin“ hieß es schon vor Jahren in der „Dorfschänke
Marpert“, die heute „Zum Dorfwirt bei Anton“ heißt und über deren
Eingangstür ein Schild mit der Aufschrift „Willkommen in der Irrenanstalt“
hängt.
## Spinner gibt es überall
Auch er habe mal im Norden von der Reviermetropole Essen gewohnt, verkündet
ein ergrauter Endfünfziger – jetzt sei er nach Raesfeld gezogen. Viel
schöner, ruhiger, sauberer sei es hier, erklärt der Mann – und schiebt eine
heftige Portion Alltagsrassismus hinterher: „Und sicherer. Die ganzen
Ausländer in Essen – Sie wissen schon“.
Na gut, Spinner gibt es überall, und pittoresk ist Raesfeld wirklich. Im
Dorfkern thront die natürlich katholische, denkmalgeschützte Pfarrkirche
St. Martin. Trotzdem erinnert der Ort mit seinen verklinkerten
Spitzgiebelhäusern, mit seinen teils rot gepflasterten Straßen schon fast
an die nahen, lange protestantisch geprägten Niederlande.
Hauptattraktion aber ist das Wasserschloss, das Alexander II. von Velen ab
1646 repräsentativ ausbauen ließ. Das Geld dafür hatte der Reichsgraf im
Dreißigjährigen Krieg zusammengerafft – auch an der Seite Tillys, der 1631
Magdeburg in Schutt und Asche legte und dabei Zehntausende massakrieren
ließ.
Von den Hunderten Tagestouristen, die an jedem Wochenende – oft aus dem
Ruhrgebiet – Richtung Raesfeld aufbrechen, dürften das nur die wenigsten
wissen. Genussvoll umkreisen sie das Schloss, an dessen Wassergraben sich
Restaurants, Cafés und Hotels schmiegen. Im kilometergroßen Tiergarten, der
noch immer einem Herrn von Landsberg-Velen gehört, äst Dam- und Rotwild.
## Eiserne Sparsamkeit
Zwar toleriert der Adelige auf dem Höhepunkt der Coronapandemie [2][Plakate
von Querdenker:innen] in seinem Privatwald, der immerhin für die
Öffentlichkeit zugänglich bleiben muss, aber egal: „Du lebst am schönsten
Ort der Welt“, sagt ein Gast zum in Indien geborenen Gurmey Singh, der im
Restaurant Zur Schlosskapelle immer mehr Currys und Tikkas auf die Karte
setzt.
Jahrzehntelang war das Schloss Eigentum des Westdeutschen
Handwerkskammertags, der darin Lehrgänge und Seminare etwa für
Energieberater:innen und Restaurateur:innen anbietet. Durch
einstimmigen Ratsbeschluss aber hat die Gemeinde ihr Wahrzeichen am 1.
Januar gekauft – für schlappe 1,5 Millionen Euro. Denn Raesfeld ist nicht
nur schön, sondern faktisch auch schuldenfrei.
Gerade einmal 429.000 Euro Miese habe die Gemeinde Ende 2020 gehabt,
rechnet IT NRW vor. Pro Kopf wären das nur 37 Euro und 39 Cent – einsame
Spitze in NRW. Doch selbst diese Schulden stünden „nur auf dem Papier“,
erklärt Bürgermeister Martin Tesing. Denn Geld aus dem Programm „Gute
Schule“ habe die Landesregierung formell nur als Kredit vergeben – Zins und
Tilgung aber zahle Düsseldorf. „Wir haben Barmittel von über 11 Millionen
Euro“, sagt der Christdemokrat selbstbewusst.
Die Grundlage dafür habe sein Parteifreund und Vorvorgänger Udo Rößing
gelegt, erzählt der Bürgermeister. Vier Millionen Mark habe Raesfeld in
dessen 34-jähriger Amtszeit abgestottert. Am 5. Juli 1993 habe Rößing dann
die Schuldenfreiheit verkünden können. Auch unter dessen parteilosem
Nachfolger Andreas Grotendorst, der die Verwaltung von 2009 bis 2020
leitete, sei das Dorf mit einer ganz einfachen Methode nicht wieder in die
roten Zahlen gerutscht. „Wir sind ganz einfach der Marschrichtung gefolgt,
nie mehr Geld auszugeben, als man hat“, sagt Tesing.
## Und die Umwelt ist egal?
Auf teure Prestigeobjekte wie ein eigenes Schwimmbad verzichte die
Gemeinde. Stattdessen fährt ein Badebus in die Kreisstadt Borken, der im
Jahr gerade einmal 10.000 Euro koste. Gering sind auch die Sozialausgaben:
„Bei uns gibt es keine verfestigte Langzeitarbeitslosigkeit“, sagt Tesing:
„Die Leute haben höchstens mal eine kurze Zwangspause zwischen zwei Jobs“.
Der Diplom-Verwaltungswirt kann deshalb aus dem Vollen schöpfen. Am Hotel
Lieb und Wert entsteht ein „Bewegungspark“ mit Boulebahnen, Schachfeldern
und Wassertretbecken. Auch das einstige Hotel Niewerth hat er kaufen lassen
– die katholische Kirchengemeinde will dort ein Pfarrheim errichten, dessen
Saal auch von Raesfelder Vereinen mitgenutzt werden könne, verspricht
Tesing.
Doch nicht alle im Dorf unterstützen den Expansionskurs des 59-Jährigen.
Mit dem angekündigten Niewerth-Abriss hat sich der Bürgermeister den
Protest einer Bürger:inneninitiative eingehandelt, die den früher
als Aelkes Hof bekannten Dorfgasthof retten wollte.
Für die Immobilienprojekte des Bürgermeisters sei Geld da – für Luftfilter
in Schulen dagegen nicht, kritisiert auch SPD-Fraktionschefin Elke
Rybarczyk. Selbst um den Ersatz einer kaputten Schaukel auf einem
Spielplatz im Ortsteil Erle müsse gebettelt werden, sagt die pensionierte
Lehrerin, deren Partei im traditionell tiefschwarzen Raesfeld bei den
Kommunalwahlen vor zwei Jahren mit nur 10,6 Prozent auf Platz vier gelandet
ist – noch hinter den Grünen.
Unzufrieden ist auch deren Fraktionschef Henry Tünte, der den grünen
Ortsverband Raesfeld 1993 mitgegründet hat. Die Bedeutung der drohenden
Klimakatastrophe, der verschwindenden Biodiversität, einer nachhaltigen
Wasserwirtschaft habe Tesings Verwaltung „noch immer nicht erfasst“, sagt
der 49-Jährige, der in Bochum Bauingenieurwesen und in Bayreuth Geoökologie
studiert hat. Ein von den Grünen ausgearbeiteter Klimaschutzplan werde
ignoriert. Stattdessen fahre der schwarze Bürgermeister „ein Programm nach
dem Motto ‚unser Dorf soll schöner werden‘“, sagt Tünte, dessen Vater
Karl-Heinz jahrelang Ratsfraktionschef der CDU war.
2003 ist er „der Liebe wegen“ zurück ins Westmünsterland gezogen, erzählt
Tünte, der im Dorfkern lebt. Aus der Kläranlage des reichen Dorfes flössen
weiter „Arzneimittelreste, multiresistente Keime, Röntgenkontrastmittel“ in
den Fluss Issel. Verschwunden sei auch die Artenvielfalt, klagt Tünte, der
sich beim Umweltverband BUND engagiert. „Raesfeld liegt in keinem
Naturpark“, sagt der Grüne, „sondern in einer industriell genutzten
Agrarwüste“. Nicht gut, nicht egal.
15 May 2022
## LINKS
[1] /Gelsenkirchener-Stadtteil-Schalke/!5767977
[2] /Verschwoerungsmythen-und-Corona/!t5015225
## AUTOREN
Andreas Wyputta
## TAGS
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