# taz.de -- Wahlen in Nordhrein-Westfalen: Ihr in NRW | |
> Das Land schaut auf das bevölkerungsreichste Bundesland. Indes meint | |
> unser Autor: „Wir alle stehen zusammen – und für absolut nichts“. | |
Bild: Gelsenkirchen-Beckhausen, Hagebuttenstraße Ecke Kärntener Ring | |
Meine Mutter rief an und sagte irgendwann: „Sonntag sind Wahlen.“ Wie, | |
Wahlen? Wo? „Na hier, bei uns.“ Sofort die Bilder in meinem Kopf, die | |
Erinnerungsfetzen. Wahlen in Nordrhein-Westfalen, die Signalwirkungen, die | |
bleichen Bonner Runden. Als Kind war ich stolz auf NRW: mehr Menschen, mehr | |
Straßen, mehr Fußballvereine, mehr Arbeitslose. Ein Leuchtturm im föderalen | |
Nebel, zuverlässig den Weg zu den Klippen weisend. Was hier geschah, wer | |
hier gewählt wurde, war wichtig. Wer hier gewählt wurde, erhielt die | |
Chance, als Kanzler nicht gewählt zu werden. Ein Bundesland wie eine eigene | |
Bundesrepublik. | |
Ich bin kein Auslandsdeutscher, sondern Auslandsnordrheinwestfale. Ich lebe | |
jetzt in Sicherheit, alles ist okay so weit, aber meine Träume haben Rhein | |
und Ruhr nie verlassen, die westfälischen Ebenen, die sanften Hügel im | |
Nordosten, die schwarzen Berge im Süden. Ich gleite über diese zerrissenen | |
Landschaften, die Industrieflüsse, die Industriewälder, die Autobahngitter, | |
die Siedlungsteppiche, die urbanen Versuchsanordnungen. Nordrhein-Westfalen | |
– der Flächenlandstadtstaat. Eine gekachelte Fußgängerunterführung für | |
Autofahrer. Ein Servicecenter, manchmal mit hilflosem Fachwerk beklebt. | |
Kohlekrise, Stahlkrise, Sinnkrise. Seit ich denken konnte, waren die | |
Strukturen im Wandel – bevor sie verschwanden. Es mag ungerecht sein, | |
vielleicht sogar falsch, doch dieses Bild hat sich verfestigt. Mein | |
Nordrhein-Westfalen ist dieser Riese im Niedergang. Der Tanker, der es | |
nicht mehr schafft, die Richtung zu wechseln. | |
Dabei bemühte man sich ja. Man tat und machte, man hatte | |
sozialdemokratische Ideen. In den Sechzigern ließ man neue Denkfabriken | |
rauchen, in den Achtzigern schüttete man schüchterne Innovationsinseln auf. | |
In einem Meer regionaler Vergeblichkeiten. Und Achtung, der Spiegel steigt | |
weiter. Besser noch mal hineinschauen. Besser nie hineinschauen. | |
Mein Vater im Auto vor der Garage am Samstagnachmittag, die Stimmen aus den | |
Stadien, ich in behaglicher Angst auf dem Rücksitz: Mein Verein hat immer | |
verloren, ist immer abgestiegen (jetzt gerade wieder), und im Garten | |
zwitscherten die NRW-Vögel einfach weiter. „Der Westen“ – im Fußball wa… | |
wir das. Auch sonst. Ein Westen in orangerotem Abendlicht. | |
Montansonnenuntergänge. Schimmernde Ballungsräume, zu einem einzigen | |
unsichtbaren verschmolzen. | |
Am Montag dann Auferstehung. Das industrielle Herz schmeißt den | |
Schrittmacher an. Halbstündliche, halbstündige Staumeldungen, blecherne | |
Leukozyten in seit Jahrzehnten renovierungsbedürftigen Arterien, alle | |
fünfhundert Meter eine Abfahrt, nie ein Entkommen, ich habe das alles schon | |
zu oft beschrieben, den Style, die Rhythmen, Ikea, Moschee, Club Chérie, | |
Pferdekoppel, Gewerkschaftssiedlung, Gewerbeschutzgebiet. Ein Stadtteil | |
tropft in den nächsten, Städte belästigen ihre Nachbarn, fließen | |
ineinander, die ganze Wucht eines postindustriellen Anachronismus. Und dazu | |
WDR 2. Die ganze Wucht einer postmusikalischen Apokalypse. Mit anderen | |
Worten: Chris de Burgh. Nordrhein-Westfalens Hausbarde. Damals haben sie | |
immer Chris de Burgh gespielt. WDR gleich Chris de Burgh multipliziert mit | |
Chris Rea. Selbstverständlich wechselten wir den Sender. Wir sahen uns | |
gezwungen, nach London zu emigrieren, nach Brighton, nach Manchester. | |
Standortprivileg British Forces Broadcasting Service. Befreiung über den | |
Äther durch die Rheinarmee. Damals, als NRW noch zu den britischen Inseln | |
zählte. Happy Mondays, während man ans Kamener Kreuz genagelt wurde. | |
Gut, Schluss damit. Klischees pflichtschuldig abgearbeitet, | |
Wiedererkennungswert generiert, die Briten sind längst abgezogen, | |
Szenenwechsel: mitten in NRW, vor wenigen Wochen. Straßen lagen verlassen | |
da. Uralte, schiefe Mittelalterhäuschen, Kopfstein, kleine Gärten, Blumen, | |
Stille im dickstrahligen Sonnenlicht, kurz: eine Idylle. Ein Kleinod. Doch | |
wo war die Gastronomie? Wo die Schaufenster? Nirgends entdeckte ich einen | |
kommerziellen Sinn. | |
Achtzig Kilometer!, dachte ich ärgerlich. Nur achtzig Kilometer von hier | |
war ich aufgewachsen. Wie war es möglich, dass ich nichts von diesem Ort | |
wusste? Meine Handykamera im Dauerbetrieb, hier ein Giebel, dort ein | |
Brunnen, was stimmte hier nicht? Warum gab es keine Läden? Wollte hier | |
wirklich niemand Geld verdienen? Da war diese Kirche. Aber niemand, der | |
noch hätte glauben können. Ich spazierte durch ein leeres, geheimes NRW. | |
Dieses Land, begriff ich schließlich, möchte nicht, dass andere seine | |
Schönheit kennen. Trotz allem, trotz der Zubringer, der Knotenpunkte, der | |
ganzen Infrastruktur – es will allein sein. | |
Später an diesem Tag, in diesem winzigen Städtchen, das übrigens | |
tatsächlich existiert und den Namen Soest trägt, stieß ich doch noch auf | |
eine Art business district. Marktplatz, Cafés, Geschäftsklima, Ambiente, | |
Kebabläden. Normalität annähernd. Doch die konnte mich schon nicht mehr | |
erreichen. Ich hatte eine tiefe Ruhe erlebt, eine Harmonie. | |
Wahlen in NRW – mein endgültig letzter Heimattext. Die Erinnerungen fluten | |
mich an, ich glaube keiner einzigen von ihnen. Soest hatte mich verzaubert, | |
aber mehr noch verunsichert. Soll ich wirklich schreiben, dass ich niemals | |
zurückkehren werde? Dass ich dieses Land trotzdem jederzeit gegen den | |
ganzen anderen Schrott verteidigen würde? Denn in Wirklichkeit ist | |
Nordrhein-Westfalen alles andere als bescheiden. In Wirklichkeit verachtet | |
es Bayern. Es spuckt auf Hessen. Gut, der Norden hat das Meer. Aber Holland | |
ist näher. Der Osten? Weiter entfernt als der Mond. Und Berlin? Osten! | |
Stopp – das bin nicht ich, der da spricht. Das ist nicht NRW. Versöhnen, | |
nicht verhöhnen! Besser noch: Versöhnen statt spalten – so lautete das | |
Motto des ersten und größten und archetypischsten Nordrhein-Westfalen | |
überhaupt. Des Vaters aller Landesväter. Mein Vater sagte: Ein guter | |
Protestant, den wähle ich. Die Katholiken sagten: Ein guter Protestant, den | |
wählen wir. Ausagierte, ausgereifte Ökumene. Die NRW-DNA ist der Code für | |
Verständigung. Der holprige Dialog zwischen Rheinland und Westfalen. | |
Zwischen albernem Frohsinn und pumpernickelschwarzer Schwermut. Der Mann, | |
von dem ich spreche, hieß Johannes Rau. Er kam aus den düsteren | |
Industrietälern des Bergischen Lands, und er gab den Menschen an Rhein | |
und Ruhr, worauf sie eigentlich gar nicht scharf waren: Identität. Ein | |
disparater Mob, eine atomisierte, gleichgültige Masse – er machte daraus | |
Bürger, er taufte sich seine Landeskinder. Und die Partei war die SPD, doch | |
das ist gar nicht so wichtig. Denn er sagte: „Wir! In NRW.“ | |
Und er meinte: Wir in den endlosen, bis zur Sonne reichenden Staus. In den | |
für immer verwundeten Innenstädten, mühsam zusammengeflickt mit | |
Fünfziger-Jahre-Einfachbauten. Wir in den verzagten Verkehrsverbünden. In | |
den Vizemeisterstadien. In den multiplen Königsalleen. In den zu | |
Kulturzentren verkommenen Zechenschlössern. Wir aber auch in den | |
toskanischen Hügeln des Ravensberger Lands, in den | |
Borkenkäferaufzuchtgehegen des Sauerlands. Wir alle stehen zusammen – und | |
für absolut nichts. Achtzehn Millionen Verwirrungen, dazu unzählige | |
nordrhein-westfälische Tiere. Die Tiere werden immer vergessen. Ich tue das | |
nicht. Aber Tiere dürfen nicht wählen, was schlau ist in einem Land, in dem | |
ein Clemens Tönnies seine Blutdynastie gründete. | |
Am Sonntag nun also mal wieder Schicksalswahl. In Berlin schaut man | |
gespannt auf jenes Land, das – ohne es zu wollen, ohne es überhaupt | |
wahrzunehmen – für Deutschland entscheidet. Das, wie die alten Mythen | |
erzählen, die Knochen hingehalten hat und zum Dank von den glitzernden | |
Zukunftsversprechen des Südens ausgesaugt wurde. Von den Audis, den Boschs, | |
den Daimlers, den Freizeitwerten. Dessen Innenstädte an ein betäubtes | |
Belfast erinnern, an Charleroi, an ein Baltimore ohne Schusswaffen, während | |
andernorts die Menschenleere fein poliert wurde. Wahlsonntag für ein altes, | |
gutmütiges Grubenpferd, das man nicht mehr nach oben führen darf; das | |
plötzliche Licht würde es verwirren, zu Tode ängstigen. Eigentlich | |
erstaunlich, wie wenig Wut in und durch Nordrhein-Westfalen generiert wird, | |
wie beiläufig es seinen Untergang hingenommen hat, wie … Was ist das? Gerät | |
mir die Sache zum Ende jetzt doch noch politisch? Polemisch? Das geht | |
nicht. Dazu habe ich kein Recht. Ich bin seit Langem fort, ich werde | |
fortbleiben. | |
Seit vielen Jahren sage ich: „Ihr in NRW.“ Seit vielen Jahren lüge ich. | |
15 May 2022 | |
## AUTOREN | |
Christoph Hoehtker | |
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