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# taz.de -- Filmischer Poet Jonas Mekas: Durchwandern, was Gegenwart war
> Jonas Mekas prägte die New Yorker Avantgarde nach 1945 wie kaum ein
> Zweiter. In New York widmet ihm nun das Jewish Museum eine Retrospektive.
Bild: Jonas Mekas in Litauen (1971)
Jonas Mekas trägt in dem Film „Self Portrait“ einen ausgebeulten Filzhut
und hält eine Dose Bier in der Hand. Er steht im Garten vor dem Haus von
Freunden irgendwo im Mittleren Westen der USA. Am Anfang erklärt er die
einzige Regel für den Film: Zwanzig Minuten wird er dauern. Dann spricht er
über die ungewöhnliche Hitze an diesem Frühlingstag und stellt seine beiden
kurz im Film sichtbaren Freunde vor.
Er erzählt von seiner Obsession, dem Filmemachen und wischt sich mit seinem
Hemdsärmel den Schweiß aus dem Gesicht. Er beschreibt die Tulpen, die im
Beet neben ihm wachsen, und berichtet von seiner existenziellen
Lebenserfahrung: der Vertreibung aus seiner litauischen Heimat. Dann blickt
er wieder auf die Uhr. Die zwanzig Minuten sind um. Er lächelt und hält
seinen Hut vor die Kamera. Ende.
[1][Mekas war Filmemacher, Poet, Kritiker und Institutionsgründer]. Wie
kaum ein anderer hat er die New Yorker Avantgarde nach dem Zweiten
Weltkrieg geprägt. Er war ein unermüdlicher Kämpfer für
grenzüberschreitende Kunst, Filmenthusiast und Netzwerkgenie. Lange vor
dem Siegeszug der sozialen Medien hat er sein privates Leben zum Thema
seiner Filme gemacht. Er starb 2019 in New York. 1922 in Litauen geboren,
wäre er in diesem Jahr hundert Jahre alt geworden.
Das New Yorker Jewish Museum zeigt deshalb mit „Jonas Mekas: The Camera Was
Always Running“ die erste US-amerikanische Übersichtsausstellung seines
Werkes. Sie legt den Schwerpunkt auf seine filmischen Arbeiten, die alle
von Entwurzelung und Neuanfang erzählen. Von dem Leid, aber auch den
Chancen, die darin liegen können. In einer Zeit, in der nach wie vor
Millionen Menschen weltweit gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen, ist
das wohl aktueller denn je.
## Ein Zuhause suchen
Man könne ihn in einer Wüste aussetzen, sagt Mekas im letzten Drittel von
„Self Portrait“, und er würde sofort „tiefe und weite Wurzeln“ schlage…
Denn wer einmal mit Gewalt aus seiner Heimat vertrieben worden sei, suche
verzweifelt nach einem neuen Zuhause.
Mekas weiß, wovon er spricht: Im Jahr 1944 schließt er sich in seiner von
den Nazis besetzen Heimat Litauen einer Widerstandsgruppe an. Als er
aufzufliegen droht, flüchtet er mit dem Ziel Wien. Statt dort anzukommen,
wird er knapp ein Jahr vor Kriegsende in Elmshorn bei Hamburg festgenommen.
Bis Kriegsende muss er Zwangsarbeit leisten. Danach landet er in
verschiedenen Vertriebenenlagern.
1949 beschaffen ihm Freunde mithilfe der Internationalen
Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen ein US-Visum. Am 29. Oktober
kommt Mekas mit acht Bücherkisten und ein paar Kleidern in New York an.
Eigentlich sollte es weiter nach Chicago gehen. Doch Mekas entscheidet
sich, in New York zu bleiben.
In Litauen hatte Mekas bereits Gedichte veröffentlicht. In New York
entdeckt er den Film für sich. Schnell entwickelt er sich zum Fixstern der
New Yorker Filmavantgarde. Mit seinem Bruder Adolfas [2][gründete er Film
Culture, die erste Publikation in den USA, die sich kritisch mit dem Medium
Film auseinandersetzt].
## Netzwerker und Wegbereiter
Er schrieb mit „Movie Journal“ die erste Kinokolumne in der legendären New
Yorker Wochenzeitung The Village Voice. Mit weiteren Filmemachern gründete
er die immer noch existente The Film-Makers’ Cooperative, eine der ersten
Organisationen für unabhängige Filmförderung, und war Mitgründer des
Kulturzentrums Anthology Film Archives, der bis heute wichtigsten
Anlaufstelle für den New Yorker Experimentalfilm.
Und: Mekas ließ die Kamera laufen. Sieben Jahrzehnte lang hat er fast 100
Filme und Videos gedreht. Die meisten davon sind seine sogenannten Diary
Films. Sie zeigen undramatisch aneinandergereiht Momentaufnahmen aus Mekas’
Leben, von New Yorker Straßenszenen oder zeithistorischen Ereignissen wie
dem ersten öffentlichen Auftritt der Band Velvet Underground 1966 oder John
Lennons und Yoko Onos Bed-in-Protest 1969 in Montreal.
Mekas’ Filme erheben nie den Anspruch auf dokumentarische Vollständigkeit.
Es sind Fragmente, die mehr an der emotionalen als an der zeithistorischen
Genauigkeit interessiert sind, Gefühlszustände und nicht Ereignisse
dokumentieren wollen.
Dieses filmische Werk einem Museumspublikum zugänglich zu machen, ist eine
Herausforderung. Kelly Taxter, die Ausstellungskuratorin, hat sich von
Mekas inspirieren lassen. Der hatte 1969 dem Premierenpublikum seines Films
„Walden“ quasi schriftlich erlaubt, den Vorführraum jederzeit verlassen und
wieder betreten zu können. Seine nicht linearen Filme funktionieren eben
auch, wenn man Teile von ihnen verpasst.
## Spielfilm bos poetische Montage
Elf von Mekas’ Filmen hat Taxter ausgewählt, die den gesamten Zeitraum
seines künstlerischen Schaffens umfassen. Von dem Spielfilm „Guns of Trees“
(1962) bis zu seiner poetischen Montage „Requiem“, an der er noch in der
Nacht vor seinem Tod gearbeitet hat.
Die Zuschauer sitzen im Jewish Museum auf zwei Sitzbänken und blicken auf
zwölf hintereinander versetzte Leinwände. Die einzelnen Filmkapitel werden
gleichzeitig auf jeweils einer der Leinwände abgespielt. So ist es möglich,
einen im Original dreistündigen Film in knapp dreißig Minuten zu erfassen.
Erstaunlicherweise führt das nicht zu einer Überforderung, sondern
intensiviert die sinnliche und intellektuelle Erfahrung von Mekas’ Filmen.
Ein gelungener Moment der poetischen Verdichtung entsteht zum Beispiel,
während die Kapitel des Films „A Letter from Greenpoint“ von 2004 simultan
laufen. Auf der einen Leinwand ist der Akkorden spielende und dazu
repetitiv „My friends don’t sing anymore“ singende Mekas zu sehen. In
seiner verlorenen Heimat Litauen sei der gemeinsame Gesang eine alltägliche
Erfahrung gewesen, hat Mekas einmal gesagt.
Gleichzeitig rollt sich auf einer anderen Leinwand eine Katze auf einem mit
Büchern überladenen Schreibtisch zum Schlafen ein. Womöglich ein Sinnbild
für Mekas’ Suche nach Geborgenheit und Zugehörigkeit. Auf der Leinwand
direkt daneben ist das leergeräumte Loft in Soho zu sehen, in dem Mekas mit
seiner Frau und den beiden Kindern zuvor dreißig Jahre lang gelebt hatte
und ausziehen musste, weil es verkauft wurde. Was auf Mekas wie eine
erneute Vertreibung gewirkt haben muss.
In seinem Film „Lost, Lost, Lost“ von 1976 erklärt Mekas, warum er fast
immer die Kamera laufen hat: Er habe so viel verloren. Aber nun habe er
diese Momente. Und die könne ihm niemand mehr nehmen. Das Filmemachen war
seine Art, immer wieder neue Wurzeln zu schlagen.
3 May 2022
## LINKS
[1] /Nachruf-auf-Jonas-Mekas/!5565454
[2] https://www.editfilmculture.net/
## AUTOREN
Verena Harzer
## TAGS
Film
Avantgarde
New York
Spielfilm
Musik
Hamburg
Schwerpunkt Berlinale
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