Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Wandbilder für die Revolution: Viva la Commune!
> Paris ist die Hauptstadt des Protests. Viele Bewegungen beziehen sich mit
> Graffiti noch heute auf die Commune von 1871.
Bild: Die „Mur des Fédérés“ auf dem Friedhof Père Lachaise im Osten von…
Wie bei früheren Revolutionen dienten auch in der Zeit der [1][Pariser
Kommune 1871] Plakate und Graffiti zur Information und Mobilisierung der
Stadtbewohner:innen. Nach der „Blutwoche“ vom 21. bis 28. Mai, in der
Regierungstruppen den Aufstand endgültig niederschlugen, wurden all diese
„revolutionären Wandbilder“ getilgt.
Doch bald begannen die Mauern der Hauptstadt erneut zu sprechen: Während
das Kriegsgericht in Versailles in über vier Jahren rund zehntausend
Urteile fällte, tauchten in Paris immer wieder anonyme Ehrungen der
Aufständischen und Anklagen gegen die Sieger auf. Auf die Außenmauer der
Pépinière-Kaserne im 8. Arrondissement schrieb 1872 eine „Gruppe
republikanischer Soldaten und Volksfreunde“: „Armee von Versailles,
Verteidiger des Despotismus und unseres armen Frankreichs: Ihr seid die
Mörder des Volks, der Blutfleck auf Eurer Stirn wird niemals
verschwinden“.1
Auch das von der Kommune zerstörte Stadtpalais von Regierungschef Adolphe
Thiers, das man auf Kosten der Steuerzahler wiedererrichtet hatte, geriet
1873 ins Visier der Graffitischreiber: „Volk von Paris, dieses Haus wurde
zum Preis deines Bluts erbaut“.
Im 12. Arrondissement gedachte man der Toten: „Ehre den mutigen Ferré,
Rossel, Crémieux und Dombrowski, die für die Kommune gestorben sind“.
Solche Inschriften machten im Jahr 1872 bis zu 23 Prozent der von der
Polizei sorgfältig dokumentierten „Schmierereien“ aus. Später wurden es
weniger, und der Kampf der Worte verlagerte sich auf den Friedhof
Père-Lachaise, wo an der Mur des Fédérés Blumenkränze niedergelegt wurden,
von denen die Polizei die als aufrührerisch geltenden Spruchbänder abriss.
## Im Mai 1936 gedachten Hunderttausende der Commune
Nach 1920 galt die Kommunistische Partei Frankreichs (PCF) als wichtigste
Bewahrerin des Gedenkens an die Kommune. Der Gang zur Mur des Fédérés war
ein wichtiges Ritual; im Mai 1936 versammelten sich dazu über 500.000
Menschen. In Flugblättern, Artikeln und Anzeigen wurde die Kommune häufig
zitiert und auch in Liedern besungen. Doch man feierte sie kaum noch in
Gestalt urbaner Graffiti – auch die PCF nutzte diese Aktionsform wenig.
1968 prangte dann ein großer Schriftzug „VIVE LA COMMUNE“ in der Rue de la
Sorbonne. Das war nur folgerichtig, denn die Kommune spielte für den Mai
1968 eine wichtige Rolle – man zeigte Filme und brachte die Kommune-Zeitung
Le Cri du Peuple erneut heraus. Die Repressionen gegen die Protestbewegung
von 1968 wurden häufig – gern auch etwas übertrieben – mit denen von 1871
verglichen: „Die Versailles-Partei hat kein Recht, von Reformen und
Fortschritt zu sprechen“, schrieb etwa der Soziologe Alain Touraine am 30.
Juni 1968 in Le Monde.
Die Kommune galt damals als Vorbild für direkte Demokratie und
Selbstorganisation, sie war weniger „ein Modell, das exakt wiederholt
werden sollte als eine Erinnerung daran, was die Protestierenden erreichen
wollten – und was geschehen konnte“, analysiert die Historikerin Ludivine
Bantigny.2
## Vorbild für den Pariser Mai '68
Zum 100-jährigen Jubiläum sang Jean Ferrat den Song „La Commune“, es
erschienen unzählige Artikel, Essays und Romane sowie Neuausgaben der
Lebenserinnerungen der Aufständischen. Man hielt spontane
Gedenkveranstaltungen ab und die Kommune schaffte es sogar in die
Fernsehnachrichten. Graffiti sah man hingegen nur wenige. Dazu muss man
anmerken, dass diese Ausdrucksform nach der Eroberung der Mauern von 1968
(nach dem Motto „Weiße Mauern, stummes Volk“) wieder im Verschwinden
begriffen war.
Der Künstler Ernest Pignon-Ernest feierte den Geburtstag der Kommune
dennoch auf traditionelle Weise. In einer nächtlichen Aktion klebte er im
März 1971 Siebdrucke von ermordeten Kommunard:innen auf das Pflaster
der Hauptstadt – unter anderem auf die Treppen, die am Montmartre hoch zur
Kirche Sacré-Cœur führen. Damit zwang er die Vorübergehenden, sich noch
einmal an die Gewalt zu erinnern, die vor einem Jahrhundert an diesen Orten
stattgefunden hatte.
Nach 1971 nahmen die sozialen Bewegungen immer weniger Bezug auf die
Kommune. Das lag zum einen daran, dass die PCF an Einfluss verlor. Zum
anderen wurde der Aufstand um die Wende zum 21. Jahrhundert endgültig
historisiert: Die Kommune wurde Unterrichtstoff in den Schulen, im Viertel
Butte-aux-Cailles wurde ihr ein Platz gewidmet; der Platz am Fuße der
Kirche Sacré-Cœur wurde nach der Kommunardin Louise Michel benannt. Doch je
offizieller das Gedenken an die Kommune zelebriert wurde, desto weniger
subversives Potenzial besaß sie noch für die radikale Linke.
## Versuchte Vereinnahmung von rechts
Das änderte sich Anfang der 2010er: Zwischen 2011 und 2014 konnte man
zunächst vereinzelte Verweise beobachten, meist aus der anarchistischen,
antifaschistischen Linken, die sich gezwungen sahen, die Kommune gegen
einen doppelten Angriff zu verteidigen. Zum einen gegen eine Interpretation
der Kommune als Chaos und Entgleisung, wie durch den konservativen
Historiker Jean Sévillia in seinem Buch „Historiquement correct“ (2003).
Sévillia schrieb von „72 Tagen der Anarchie, während derer ein
aufständisches Regime mit Terror über die Hauptstadt herrschte“. Zum
anderen versuchte ein Teil der extremen Rechten die Kommune zu
vereinnahmen: Die identitäre Gruppe „Projet Apache“ hinterließ ab 2011 an
Pariser Mauern Stencil mit dem Spruch „Die Bastard-Republik entstand aus
dem Blut der Kommunarden“ und bezog sich damit in verdrehter Weise auf die
anarchistische Tradition der Aufständischen.
In der öffentlichen Debatte tauchten erneut Fragen nach der Vertretung und
Souveränität des Volks, nach Gewaltausübung und „echter“, direkter und
sozialer Demokratie auf, die auch die Aufständischen von 1871 aufgeworfen
hatten. In diesem Kontext entdeckte man am Morgen des 18. März 2014, dem
143. Geburtstag der Kommune, rot-schwarze Schriftzüge an der Kirche
Sacré-Cœur: „Kein Gott, kein Herr, kein Staat“, „Feuer den Kapellen“ …
„Es lebe die Kommune von 1871!“.
Bei den Protesten gegen die Reform des Arbeitsrechts 2016 spielten
Sprayer:innen eine zentrale Rolle. Sie störten die grafische Ordnung des
öffentlichen Raums, indem sie Werbeplakate und Schaufenster von Banken und
Versicherungen übermalten. Schnappschüsse ihrer Werke verbreiteten sich
über die sozialen Netzwerke und trugen zu einer neuen Ästhetik des Protests
bei. Die wochenlange Besetzung der Place de la République durch die
[2][Bewegung Nuit Debout] begünstigte die symbolische Aneignung des
öffentlichen Raums. Der Platz wurde in „Place de la Commune“ umgetauft, und
am U-Bahn-Eingang prangte in roten Lettern: „… dass die Kommune wieder
lebt“.
## „Mai '68 ist uns egal, wir wollen 1871“
Im Frühjahr 2018 protestierten sowohl die Beschäftigten der französischen
Staatsbahn SNCF gegen eine Reform ihres Unternehmens als auch Studierende
und Schüler:innen gegen eine Software namens Parcoursup, die den
Hochschulzugang neu regeln sollte. Verweise auf den Mai 1968, der sich zum
50. Mal jährte, waren überall („Mai '68, sie erinnern, wir fangen nochmal
an“) – doch auch die Kommune war präsent. Universitätsstandorte wurden in
„Freie Kommune Tolbiac“ oder „Freie Kommune Censier“ umbenannt. Auf der
Demonstration der Bahnbeschäftigten am 22. Mai 2018 sah man ein Plakat:
„Mai '68 ist uns egal, wir wollen 1871“.
Im Vergleich zum faden '68 scheint der Verweis auf die Kommune das größere
aufständische Potential zu haben. Wer sagt, „wir wollen 1871“, meint damit
allerdings auch, dieses „wir“ sei zu einer bewaffneten Konfrontation bereit
– und stützt sich damit im Übrigen auf ein falsches Bild vom Mai '68 als
freundliche Rebellion von Bürgerkindern; doch das ist eine andere
Geschichte.
Die [3][gilets jaunes (Gelbwesten)] bezogen sich 2018/19 hingegen stärker
auf die Französische Revolution, der sie etwa die Idee der cahiers de
doléances (Beschwerdehefte) entlehnten, als auf die Kommune. In ihrer
gesellschaftlichen Zusammensetzung und politischen Kultur unterschieden sie
sich deutlich von vorangegangenen sozialen Bewegungen. Obgleich die Kommune
stets einen wichtigen Referenzpunkt der Arbeiterbewegung gebildet hatte,
wurde sie in der Populärkultur sehr viel seltener aufgegriffen als die
Französische Revolution. Doch der Auftritt autonomer Gruppen beim „Dritten
Akt“ der Gelbwesten am 1. Dezember 2018 könnte das Auftauchen der ersten
gesprayten Referenzen auf die Kommune erklären.
## Die Gelbwesten bezogen sich stärker auf 1789
Beim „Vierten Akt“ am 22. Dezember 2018 hinterließ jemand ein Graffiti am
Fuß der Kirche Sacré-Cœur: „Die Kommune von Paris 1781 [sic!] / Gelbwesten
2018“. Am 12. Januar 2019 prangte auf einem Bretterzaun, der die großen
Kaufhäuser der Pariser Innenstadt schützen sollte, ein riesiger Schriftzug:
„1871 Gründe, Macron zu ficken“. „Die Kommune wird wieder aufblühen“,…
lebe die Kommune“ – mit jedem weiteren „Akt“ (häufig mit Anarcho-A
geschrieben) fand man mehr Verweise an den Demorouten.
Später tauchten sie im Umkreis der Proteste gegen die Rentenreform auf, die
am 5. Dezember 2019 ihren Anfang nahmen. Am Boulevard Magenta las man am 8.
Dezember: „Beginnen wir mit einem Streik, enden wir mit der Revolution.
1871-2019. Wir sind da. GJ“ (GJ für gilets jaunes); und zwei Tage später
reimte jemand am Boulevard Raspail: „On veut des thunes en attendant la
Commune“ (Wir warten auf die Kommune, bis dahin wollen wir Knete).
All diese Zitate sind kaum mehr als die Anrufung eines Namens, aus der sich
nicht herauslesen lässt, welches Wissen und welche Ideen sich damit in den
verschiedenen sozialen Bewegungen verbinden. Sie legen jedoch Zeugnis dafür
ab, dass die Gelbwesten ebenso wie die Gegner:innen der Rentenreform die
– je nach Zielpublikum mobilisierende oder provozierende – Wirkung von 1871
kannten. „Die Kommune“ erscheint hier einfach als griffiges Synonym für
„Aufruhr“ und „Revolte“.
2021 kam dem 150-jährigen Jubiläum der Kommune die Coronapandemie
dazwischen. Doch da Graffiti eine der wenigen Aktionsformen darstellen, die
man auch im Lockdown praktizieren kann, war bereits Monate zuvor auf einer
Hauswand im Pariser Osten zu lesen: „150 Jahre / Holen wir uns unsere
Kommune zurück / Wir werden nicht vergessen“.
Aus dem Französischen von Sabine Jainski
1 Die Graffiti-Beispiele aus der Zeit von 1871 bis 1879 stammen aus: Céline
Braconnier, „Braconnages sur terres d’État. Les inscriptions politiques
séditieuses dans le Paris de l’après-Commune (1872-1885)“, Genèses Nr. 3…
Paris 1999.
2 Ludivine Bantigny hat in ihrem Buch „1968. De grands soirs en petits
matins“, Paris (Seuil) 2018, einige Seiten der Erinnerung an die Kommune
gewidmet.
24 Apr 2022
## LINKS
[1] /150-Jahrestag-der-Pariser-Kommune/!5754932
[2] /Nuit-Debout-Bewegung-in-Frankreich/!5403459
[3] /Protest-gegen-Coronapolitik/!5831318
## AUTOREN
Mathilde Larrère
## TAGS
Schwerpunkt Frankreich
Gelbwesten
Protest
Graffiti
Paris
Revolution
Schwerpunkt Emmanuel Macron
IG
Bildende Kunst
Pariser Kommune
Schwerpunkt Frankreich
Schwerpunkt 1968
## ARTIKEL ZUM THEMA
Rentenreform in Frankreich: Zwei Jahre länger arbeiten
Nach 2030 sollen Franzosen erst ab 64 Jahren mit voller Rente in den
Ruhestand gehen. Die linke Opposition und Gewerkschaften sind dagegen.
Inflation und Energiekrise: Warten auf Sozialproteste
Die Preise steigen, Politiker rufen Menschen zum Energiesparen auf,
gleichzeitig profitieren Konzerne von der Krise. Wo bleiben die Demos?
Graffiti-Festival in Benin: Wo Amazonen und Ufos landen
Der Kunst des Graffiti gelten in afrikanischen Ländern vermehrt Festivals.
In Benin laufen die Bilder über 660 Meter einer Hafenmauer.
150. Jahrestag der Pariser Kommune: Vorbote der neuen Zeit
Vor 150 Jahren erhob sich die Pariser Stadtgesellschaft und forderte ein
besseres Leben. Das Ereignis ist im welthistorischen Bewusstsein geblieben.
Tradition des Widerstands in Frankreich: Was Ludwig XVI. Macron lehren kann
Die Protestkultur der Franzosen reicht Jahrhunderte zurück. Die Lektion für
Könige und Präsidenten lautet: Legt euch nicht mit dem Volk an.
Protokoll Mai 68 in Paris: Ein Moment des Aufbruchs
Sie protestierten gegen den Vietnamkrieg und wollten eine bessere
Organisation der Unis. So war der Pariser Mai aus der Sicht einer
Demonstrantin.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.