# taz.de -- Alltag einer Hartz-IV-Empfängerin: Spitzkohl auf Brot | |
> Wegen hoher Lebensmittelpreise geht die Hamburger Mutter Lene zur Tafel. | |
> Doch mit dem, was ihr dort eingepackt wird, kommt sie nicht hin. | |
Bild: Tafel-Verpflegung in Corona-Zeiten: Tüten der Initiative „Fürther sin… | |
HAMBURG taz | „Bei der Tafel gibt es nur noch Schrott“, schrieb eine | |
Bekannte neulich auf Whatsapp. Sie lädt mich ein, mal mitzukommen. So | |
stehen wir am Montag, den 25. April, vor einem Gemeindehaus in | |
Hamburg-Hummelsbüttel. Dort liefert die Norderstedter Tafel aus. Etwa 70 | |
Menschen, darunter viele Kinder, warten geduldig vor der Tür, dass es 15 | |
Uhr wird und die Ausgabe beginnt. | |
Eine Helferin mit Schürze hält eine Mappe in die Luft und ruft die Zahlen | |
auf. „111, 112, 113.“ Diesmal sind die hohen zuerst dran. Ist einer dort, | |
der die Nummer hat – die wurde jedem als Kärtchen bei der Anmeldung | |
zugeteilt – tritt er an den Eingang und reicht seine Taschen rüber. Die | |
Menschen werden gefragt, ob sie Fleisch essen. „Fleisch gibt es hier | |
sowieso nicht“, raunt mir meine Bekannte zu. Sie möchte nicht ihren Namen | |
in der Zeitung lesen. Ich soll sie Lene nennen. | |
Die ersten Taschen kommen zurück, rausgereicht von ehrenamtlichen Helfern. | |
„Oh, Erdbeeren, die hätte ich auch gern!“, entfährt es Lene, als sie die | |
erste sieht. Ich erblicke nur den Strauß Rosen obendrauf. Echt nett. Es | |
dauert ein bisschen, bis es mit den kleinen Zahlen weitergeht. Schließlich | |
kommt Lene dran. Als ihre Taschen zurückkommen, sind sie schwer. Ich helfe | |
tragen. | |
Seit 2020 gehe sie zur Tafel, sagt die Alleinerziehende, deren jüngster | |
Sohn noch bei ihr lebt. Zusammen haben sie knapp 300 Euro im Monat fürs | |
Essen, wenn sie alle Verbindlichkeiten wie Strom, Telefon, Altschulden und | |
HVV-Ticket vom Hartz-IV-Satz abziehen. Damals war es die Tafel in einem | |
anderen Viertel, die auch von den Norderstedtern betrieben wird. | |
## Alle Milchprodukte sind abgelaufen | |
„Da hatten wir richtig gute Sachen, oft Aufschnitt oder Fleisch, und | |
konnten uns eine warme Mahlzeit davon kochen.“ Doch inzwischen sei der | |
Andrang größer und die Lebensmittel nicht mehr so gut. „Ich hatte neulich | |
Kartoffeln, die keimten, und Wurzeln, die waren so weich. Ich hab sie in | |
Wasser eingeweicht und trotzdem nicht geschält gekriegt.“ | |
In ihrer Wohnung leert Lene die beiden Taschen auf dem Küchentisch. Als | |
erstes kommt ein Milchkarton zum Vorschein, der ausgebeult ist. Es ist zwar | |
„längerfrische“, aber das Haltbarkeitsdatum 22. April ist seit drei Tagen | |
abgelaufen. Lene, die gesundheitliche Probleme hat, sagt, sie wolle keinen | |
Durchfall riskieren. „Die kann ich nicht trinken.“ | |
Es gibt noch mehr Milchprodukte. Alle sind abgelaufen. Die Päckchen mit | |
Trinkjoghurt zum Beispiel am 20. April, auch der Sojajoghurt. Dann fischt | |
Lene Heringssalat aus der Tasche. Auch der ist abgelaufen, wie sechs | |
weitere Produkte. | |
Am Ende wirft Lene ganz viel weg. Darunter eine Avocado und eine Kiwi, die | |
ganz weich sind. Gut sind diesmal die Kartoffeln, Suppengemüse und ein | |
Spitzkohl. Anderes Obst und Gemüse hat Stellen, die sich wegschneiden | |
lassen. Aber Lene ist bedient. „Ich fühle mich erniedrigt“, sagt sie. „I… | |
ekel mich vor abgelaufenen Sachen.“ | |
## Es kommen mehr Menschen zur Tafel | |
Die Sache sei die, dass im Laden alles teurer wird. Sandwich-Toastbrot | |
kostet 1,19 Euro statt 99 Cent, die günstigsten Nudeln 79 Cent statt 49 | |
Cent, rechnet Lene mir vor. Und ihr Lieblingskäse 2,99 Euro statt 2,49 | |
Euro. „Wir kriegen viel zu wenig Hartz-IV, jetzt, wo die Preise so | |
steigen.“ Und sie findet es schade, dass sie sich bei der Tafel die Sachen | |
nicht selbst aussuchen kann. | |
Früher war das an den meisten Ausgabestellen so. Da gingen die Helfer mit | |
den Empfängern durch den Laden. Doch wegen Corona gibt es bei der | |
Norderstedter Tafel, die vier ihrer elf Ausgaben in Hamburg hat, zum Schutz | |
der meist älteren, ehrenamtlichen Helfer eine möglichst kontaktarme | |
Ausgabe. Die werde man bis zum Herbst beibehalten, sagt Geschäftsführerin | |
Dörte Brauer-Claasen. | |
Brauer-Claasen bestätigt, dass mehr Menschen kommen. „Wir haben etwa 250 | |
Kunden mehr als vor ein paar Wochen.“ Die Qualität der Lebensmittel habe | |
sich aber nicht geändert. Das Datum auf den Packungen betreffe nur die | |
[1][Mindesthaltbarkeit]. „Es gibt da [2][klare Regeln].“ Bei Milch dürfe | |
das Ablaufdatum einen Tag nicht überschreiten, bei Joghurt fünf Tage. Und | |
bei Fisch sollte das nicht passieren. Aber auch Mitarbeiter machten mal | |
Fehler. | |
Auch die benachbarte [3][Hamburger Tafel] hat mehr Nachfrage. Wurden vor | |
zwei Jahren rund 30.000 Menschen mit Lebensmitteln der Tafel erreicht, sind | |
es derzeit 40.000, so Geschäftsführer Jan Henrik Hellwege. Gefragt, ob es | |
Engpässe gibt, sagt er: „Wir haben derzeit viel weniger Lebensmittel, die | |
länger haltbar sind.“ Auch könnten die Supermärkte besser kalkulieren und | |
verkauften ihre Ware mit kurzem Mindeshaltbarkeitsdatum deutlich reduziert. | |
Als es vor zwei Wochen knapp wurde, habe die Tafel versucht, bei | |
Großhändlern Lebensmittel zu kaufen. Die hätten das abgelehnt, weil sie | |
selbst zu wenig hatten. Großhändler bestätigen der taz, dass es in | |
einzelnen Märkten Engpässe für Speiseöle und Mehl gab, aufgrund von | |
Hilfsgüterkäufen. | |
## Bei Mangellage muss der Staat handeln | |
Gefragt nach dem Mindesthaltbarkeitsdatum sagt Hellwege: „Es sollte nichts | |
dabei sein, was länger als zwei Tage abgelaufen ist.“ Die Tafel habe 31 | |
größere Ausgabestellen und 34 weitere bei sozialen Projekten. In vier von | |
fünf Ausgabestellen könnten die Menschen sich die Ware wieder selbst | |
aussuchen. Die abgelaufenen Sachen stünden dort auf einem Tisch mit Hinweis | |
„Vorsicht MHD-Ware“. In den übrigen Stellen gebe es noch die wegen Corona | |
eingeführte Tütentechnik. „Die hat den Vorteil, das es schneller geht und | |
sie in gleicher Zeit mehr Menschen versorgen.“ | |
Wolfgang Völker ist Sprecher des Sozial-Bündnisses [4][„Hamburg traut sich | |
was“]. Für ihn zeigt sich ein [5][Grundproblem der Tafeln]. „Es ist nicht | |
Aufgabe der Tafeln, die Menschen satt zu bekommen. Das ist Aufgabe des | |
Sozialstaates.“ | |
Auch dürfe es keine Versorgung zweiter Klasse geben. Nehme man die | |
[6][Urteile des Bundesverfassungsgerichts] ernst, so müsste die Politik | |
sofort die Regelsätze um 200 Euro erhöhen. Denn durch die Inflation sei | |
eine „Mangellage“ entstanden, auf die der Gesetzgeber rasch reagieren | |
müsse. Auch könne Hamburg einen eigenen Zuschuss gewähren. „Da gibt es | |
sicher eine Möglichkeit.“ | |
Die SPD-Sozialpolitikerin Ksenija Bekeris sagt, es sei sinnvoller, die | |
Sache im Bund zu bewegen. Dieser habe mit seinem Entlastungspaket bereits | |
auf Preissteigerungen reagiert. Wie vergangene Woche beschlossen, sollen | |
Hartz-IV-Bezieher eine Einmalzahlung von 100 Euro bekommen, die die | |
Preissteigerungen abfedert – zusätzlich zu 100 Euro für Corona-bedingte | |
Bedarfe. | |
Doch diese Zahlungen sind nach Rechnung der Linken nur ein Tropfen auf den | |
heißen Stein. „Allein um die Inflation auszugleichen, müsste es 280 Euro im | |
Jahr geben“, sagt die Abgeordnete Olga Fritsche. Sorge, dass die Entlastung | |
angesichts steigender Strompreise nicht reicht, hat die Grünenpolitikerin | |
Mareike Engels. Wirklich helfen würde nur eine „relevante | |
Regelsatzerhöhung“ und ein Mechanismus, der den Inflationsausgleich | |
sichert, sagt sie. Deshalb diskutiere Rot-Grün in Hamburg eine Initiative, | |
die im Bund auf den Weg zu bringen. | |
Lene hat von den 100 Euro gehört, „es soll aber erst im Juli kommen, das | |
ist zu spät“. Ich lasse sie ungern zurück. In ihrer Tasche war noch eine | |
Packung trockener Brötchen, aber kein Aufschnitt. Später schreibt sie auf | |
Whatsapp, sie habe den Spitzkohl gebraten zum Brot gegessen. | |
7 May 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.verbraucherzentrale.de/wissen/lebensmittel/auswaehlen-zubereite… | |
[2] https://www.tafel.de/themen/nachhaltigkeit/mhd | |
[3] https://hamburger-tafel.de/ | |
[4] https://hamburgtrautsichwas.de/ | |
[5] /Kritik-an-Lebensmittel-Tafeln/!5033240 | |
[6] https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/20… | |
## AUTOREN | |
Kaija Kutter | |
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