# taz.de -- Armut in Berlin: „Tafeln passen in die neoliberale Zeit“ | |
> 20 Jahre und kein Ende: Die Berliner Tafel will sich weiter vergrößern. | |
> Politologin Luise Molling erkennt darin ein Armutszeugnis der deutschen | |
> Sozialpolitik. | |
Bild: Vor 20 Jahren sahen Politiker das Aufkommen der Tafeln kritisch. Heute ze… | |
taz: Frau Molling, die Berliner Tafel wird am Freitag 20 Jahre alt. Ein | |
Grund zum Feiern? | |
Luise Molling: Nein. Die Tatsache, dass es seit 20 Jahren Tafeln gibt, ist | |
ein Armutszeugnis für die deutsche Sozialpolitik. Ich finde es eher | |
beunruhigend, dass wir uns in einem der reichsten Länder der Erde an solch | |
ein mittelalterliches Almosensystem gewöhnt haben. | |
Sie engagieren sich im Bündnis „Armgespeist – 20 Jahre Tafeln sind genug�… | |
Das klingt, als wollten Sie die Tafeln abschaffen? | |
Es geht uns vor allem um eine armutsfreie, bedarfsgerechte und | |
existenzsichernde staatliche Mindestsicherung, die Angebote wie die Tafel | |
langfristig überflüssig machen soll. Mittlerweile erfüllen sie den Zweck, | |
einen deutlich zu niedrigen Regelsatz zu ergänzen. Das Geld, das die Nutzer | |
der Tafeln sparen, verwenden sie, um ein wenig soziokulturell teilhaben zu | |
können. Damit etwas für den Kinobesuch übrig bleibt oder fürs Schwimmbad. | |
So hören wir es in den Interviews mit den Tafelnutzern. Das sollten aber | |
die staatlichen Transferleistungen ermöglichen. So sieht es das Grundgesetz | |
vor. | |
Nichts deutet darauf hin, dass der Sozialstaat ausgebaut wird. Kann man da | |
nicht froh sein, dass die Tafeln einspringen? | |
Wir wollen uns nicht damit abfinden, dass der Abbau des Sozialstaats ein | |
Naturgesetz sein soll. Die große organisatorische Leistung der Tafeln trägt | |
leider auch dazu bei, den Abbau sozialer Leistungen zu ermöglichen. So kann | |
sich der Staat zurückziehen. Je stärker sich das professionalisiert und | |
verlässlich wird, desto mehr kann sich die Politik darauf ausruhen. | |
Die Berliner Tafel wirbt nun mit einer großen Kampagne neue Mitglieder. Das | |
Wachstum geht also weiter. Wie kommt das? | |
Es geht heute nicht mehr darum, den Überfluss zu verteilen, sondern auch | |
Almosen zu sammeln und eine immer größere Nachfrage zu befriedigen. Die | |
Berliner Tafel wurde 1993 ursprünglich als kleine Aktion wohltätiger Damen | |
gegründet, die gesammelt haben, was übrig war, um es zu | |
Obdachloseneinrichtungen zu bringen. Nach kurzer Zeit wurde immer weiter | |
[1][expandiert], auch andere Stellen wurden beliefert. Dann wurden die | |
Abgabestellen „Laib und Seele“ gegründet. Heute stehen nicht mehr die im | |
Mittelpunkt, die aus dem sozialen Netz gefallen sind, sondern jene, die | |
eigentlich davon aufgefangen werden sollten. | |
Wer geht denn alles zur Tafel? | |
Viele Leute glauben immer noch, dass es einzig um Obdachlose geht. Doch die | |
machen nur noch um die zwei Prozent der Nutzer aus. Heute kommen vor allem | |
alleinerziehende Frauen, die ihren Kindern auch mal Obst und Gemüse | |
anbieten wollen, Rentner, Familien. Ein Viertel der Nutzer sind Kinder. Die | |
Scham ist beim ersten Besuch meistens sehr groß. Aber mit der Zeit tritt | |
eine Gewöhnung ein. | |
Sie haben auch erforscht, wie sich der Diskurs über die Tafeln in Berlin | |
gewandelt hat. Was kam dabei heraus? | |
1993 glaubte man, dass außer den Obdachlosen keiner von Armut betroffen | |
ist. Als die Tafel gegründet wurde, sagte die damalige Sozialsenatorin: „Es | |
gibt in Berlin kein hungerndes Kind, die Sozialleistungen sind | |
ausreichend.“ Zehn Jahre später sah das schon ganz anders aus: Die Tafeln | |
galten nun als Vorreiter des gesellschaftlichen Engagements. Inzwischen | |
geben die Politiker zu, dass es ein Armutsproblem gibt, wollen daran aber | |
nichts ändern, sondern sagen: „Wir haben doch die Tafeln.“ Die Grenzen | |
zwischen garantierten Rechten und einer willkürlichen Hilfe auf | |
Almosenbasis verschwimmen immer mehr. Es kommt immer häufiger vor, dass | |
Jobcenter auf die Tafeln verweisen, wenn das Geld nicht reicht. Kommunen | |
zahlen Räumlichkeiten, 1-Euro-Jobber werden eingestellt. Und Politiker | |
übernehmen die Schirmherrschaft. Klaus Wowereit ist ein Ehrenmitglied bei | |
der Berliner Tafel. | |
Aber warum entstehen immer mehr Tafeln? Deutschlandweit sind es fast | |
tausend. Liegt es nur an der Zunahme der Armut? | |
Nach der Einführung von Hartz IV gab es eine starke Zunahme. Es liegt aber | |
auch daran, dass das Charity-Prinzip der Tafeln sehr gut in die neoliberale | |
Zeit passt. Der Sozialstaat bedeutet für die Unternehmen letztlich eine | |
Minderung des Profits. Bei den Tafeln ist es umgekehrt: Die Unternehmen | |
können dadurch Entsorgungskosten sparen, die großen Sponsoren polieren ihr | |
Image damit auf und die Politik wird entlastet. Außerdem hat der große Hype | |
der Tausenderjahre um das Ehrenamt dazu beigetragen. Das sind Einflüsse aus | |
den USA – wo man die Armut im lokalen Rahmen privat bekämpfen will. Es gibt | |
tausende Ehrenamtliche, die die Armut lindern wollen, aber kaum jemanden, | |
der sie ursächlich bekämpft. Darum geht es uns mit dem Bündnis. | |
Verfestigen die Tafeln also ungerechte Strukturen? | |
Die Armut hat bei den Tafeln ihren Ort gefunden und wird dort gelindert, | |
damit unser aller Gewissen beruhigt ist. An den Ursachen ändert es nichts. | |
Es entsteht eine Parallelgesellschaft, wenn sich nur Armutsbetroffene mit | |
anderen Betroffenen treffen. Das trägt nicht dazu bei, dass sie | |
gesellschaftlich integriert sind. | |
Aber wie müsste die soziale Absicherung aussehen, damit die Tafeln | |
überflüssig werden? | |
Wir wollten das relativ allgemein halten, damit das [2][Bündnis] eine | |
möglichst breite Unterstützung findet. Es geht uns darum, dass erst einmal | |
unabhängig berechnet wird, was denn so ein soziokulturelles Minimum | |
beinhaltet. Es geht uns auf jeden Fall um eine deutliche Erhöhung der | |
Regelsätze, die dann auch nicht mehr durch Sanktionen eingeschränkt werden | |
dürfen. | |
21 Feb 2013 | |
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