# taz.de -- Radklassiker Paris-Roubaix: Momente des puren Wahnsinns | |
> An Ostern startet wieder das Radrennen von Paris nach Roubaix. Es ist so | |
> hart und erbarmungslos wie der Landstrich, durch den es führt. | |
Bild: Selektion auf dem Kopfsteinpflaster: Sturz im Wald von Arenberg 2021 | |
Es ist nicht leicht, die berüchtigtste Schneise des Radsports zu finden, | |
wenn man kein ausgewiesener Connaisseur ist. Der Eingang ist ein kleiner, | |
unscheinbarer Waldparkplatz am Rande der Route Nummer 40 zwischen | |
Saint-Amand-les-Eaux und Wallers im französischen Departement Nord. Kein | |
Schild markiert den sandigen Flecken und wenn man schneller fährt als 50, | |
ist man im Nu daran vorbeigerauscht. | |
Vielleicht zehn Autos haben Platz hier vor der Schranke, die Autos daran | |
hindert, über die 200 Jahre alte Kopfsteinpflastergasse zu holpern, die 2,3 | |
Kilometer schnurgerade zum Städtchen Arenberg führt. Wobei Städtchen im | |
Grunde zu viel gesagt ist. Arenberg besteht aus dem Bergbaumuseum in der | |
alten Kohlegrube hier. Rund um den längst ausrangierten Förderturm schart | |
sich eine Ansammlung von armseligen Backsteinhäuschen – kaum aufpolierte | |
Arbeiterbehausungen aus dem 19. Jahrhundert. Nach einer Minute ist man | |
durch und wieder draußen zwischen den endlosen Stoppelackern, die im | |
Frühjahr diese Region kennzeichnen. | |
Am zweiten Sonntag im April verwandelt sich dieser Flecken jedoch in das | |
Zentrum der Radsportwelt und in das Zentrum dieser Region, für die das | |
Rennen von Paris nach Roubaix seit 1896 eines der größten Ereignisse des | |
Jahres ist. Zu Zehntausenden werden sie dann wieder hier in den Wald | |
kommen, um das vielleicht archaischste Spektakel zu beobachten, das der | |
moderne Sport zu bieten hat. | |
Es ist eine der großen Binsen des Radsports, dass Paris–Roubaix hier im | |
Wald von Arenberg niemals gewonnen, aber oft verloren wird. Und genau | |
deshalb zieht es die Menschen genau an diesen Ort. | |
## Garantierte Dramatik | |
Der Abschnitt über das kantige, oft schlammige napoleonische | |
Kopfsteinpflaster, die berüchtigten Pavés, ist noch weit vom Ziel im | |
Velodrom in Roubaix entfernt, zu weit, als dass hier schon der Sieg | |
ausgefahren würde. Doch die Dramaturgie von Paris–Roubaix will es, dass man | |
das Rennen nicht mehr gewinnen kann, wenn man nicht heil und an der Spitze | |
des Feldes durch diesen Wald kommt. | |
Die Bilder, die dieser Wald liefert, sind immer dramatisch. Das Feld rast | |
dicht gedrängt auf den Eingang der Schneise zu, schon viele Kilometer | |
vorher fangen die Positionskämpfe an. Jeder möchte vorne sein, um seine | |
Linie über den rutschigen, holprigen Untergrund selbst bestimmen zu können. | |
Wie eine Büffelherde stürmen sie in den Wald, an trockenen Tagen eine | |
riesige Staubwolke aufwirbelnd. Und dann geht der [1][Kampf ums Überleben] | |
los. | |
Die schmerzenden Handgelenke umfassen krampfend die Oberlenker, die | |
brennenden Oberschenkel treten so hart in die Pedale, wie sie eben noch | |
können. So schnell wie möglich über den trügerischen Untergrund zu rattern | |
ist die beste Chance, die Fahrt zu überstehen, doch Garantien gibt es | |
nicht. | |
## Der Kopfsteinpflasterteufel | |
Der Fahrer muss sich den Launen des Radsportgottes ausliefern und beten, | |
dass ihm keine Steinkante ein Loch in den Reifen treibt, eine Felge | |
verbiegt oder die Gabel zum Bersten bringt. Oder dass einem Mitstreiter bei | |
Tempo 45 unmittelbar vor dem eigenen Vorderrad ein solches Schicksal | |
widerfährt. | |
Vom Streckenrand aus sieht das dann so aus: Unvermittelt fliegen mitten im | |
Pulk Räder und Fahrer meterhoch durch die Luft und landen hart auf dem | |
alten Stein. Die wenigsten von ihnen stehen wieder auf und fahren weiter. | |
Mitten im Gemenge haut mit einem Mal der Pavéteufel eine breite Schneise. | |
Es ist, als würden unsichtbare MG-Schützen wahllos Salven auf den Pulk | |
abfeuern. | |
Mehr als einmal wurden in diesem Wald Schicksale besiegelt. So wie 1998, | |
als der große Favorit Johan Museeuw sich hier die Kniescheibe zertrümmerte. | |
Seine Karriere galt bereits als beendet, man stempelte ihn als | |
Sportinvaliden ab. Dass er zwei Jahre später zurückkam und Paris–Roubaix | |
gewonnen hat, gilt als eines der großen Wunder des Radsports. | |
Oder 1970, als der noch junge Eddy Merckx alleine im Wald von Arenberg dem | |
Feld davonfuhr und schließlich das Rennen mit mehr als fünf Minuten | |
Vorsprung gewann. Es war eine jener Attacken, die nicht nur für Merckx | |
typisch waren, sondern speziell für dieses Rennen. Sie war nach jedem | |
Maßstab des Sportverstandes unvernünftig und aussichtslos. Es war ein | |
Moment des reinen heroischen Wahnsinns, so wie bei einem Soldaten, der aus | |
seiner Deckung hervorbricht und mit Todesverachtung im Alleingang eine | |
halbe gegnerische Kompanie auseinandernimmt. | |
## Rennen für Hasardeure | |
Das Rennen taugt nicht für jene Art von [2][Rennfahrer, welche die Tour de | |
France gewinnen]. Große Landesrundfahrten werden von Strategen und | |
Taktikern gewonnen. Paris–Roubaix gehört den Hasardeuren und Kämpfern. | |
Bei einer Tour de France wird der Kapitän, von seiner Mannschaft geschützt, | |
zu der Stelle gebracht, an welcher er die entscheidende Attacke setzt. Oft | |
reicht es, wenn er das in den drei Wochen zwei- oder dreimal macht, um die | |
Rundfahrt zu gewinnen. | |
Das Drehbuch zu Paris–Roubaix ist hingegen ein ganz anderes, um vieles | |
dichter und spannungsreicher, geladen mit Hochs und Tiefs und | |
überraschenden Wendungen. Mannschaftstaktik spielt eine untergeordnete | |
Rolle, Paris–Roubaix ist ein Ausscheidungsfahren, Mann gegen Mann. | |
Der 270 Kilometer lange Kurs beginnt mit einem rund 100 Kilometer langen | |
Warmfahren auf gewöhnlichen asphaltierten Landstraßen. Dann fängt das | |
eigentliche Rennen an mit den 27 legendären Kopfsteinpflasterabschnitten, | |
zwischen ein paar Hundert Metern und drei Kilometern lang. | |
## Nichts für Gentlemen | |
Das Fahrerfeld, das bei jedem anderen Radrennen wie ein Fischschwarm durch | |
die Landschaft gleitet, wird bei jedem dieser Abschnitte | |
auseinandergesprengt. Jedes Mal stürzen sie zu Dutzenden, brechen sich | |
Knochen, fallen zurück oder verlieren einfach nur den Anschluss, weil sie | |
im Schlamm stecken bleiben oder hinter einem Knäuel von über die | |
Katzenköpfe verteilten, sich windenden Leibern. | |
Bis zu den letzten Abschnitten sind meist nur noch wenige Fahrer übrig, | |
diejenigen, die an jenem Tag die richtige Kombination aus Kraft, Geschick | |
und Glück erwischt haben. Und wer von diesen wenigen Erschöpften noch den | |
Willen finden kann, sich ein letztes Mal aufzubäumen und anzugreifen, hat | |
die Chance auf einen Sieg. | |
Es sind keine Gentlemen-Sportler, die Männer von Paris–Roubaix. Es sind | |
Soldaten und Arbeiter, Männer wie die Landschaft, die dieses Rennen | |
beheimatet. Der industrielle Norden Frankreichs hat nichts mit den | |
grandiosen Szenerien gemein, welche die Tour de France vorzeigt – die | |
erhabenen Alpengipfel, das liebliche Rhônetal oder die Sonnenblumenfelder | |
des Zentralmassivs. Er ist so hart und erbarmungslos wie das Rennen. | |
Man nehme den Ort Arenberg. Die verfluchte Schneise durch den Wald wurde | |
während des ersten Weltkrieges von den Deutschen dazu genutzt, Holz für die | |
Befestigung ihrer Schützengräben zu schlagen. Seit der Schlacht an der | |
Marne verlief die Front mitten durch die Region, die Deutschen hielten das | |
französische Flandern und die Gegend von Cambrai, die Franzosen hatten sich | |
bei Arras und Lens eingegraben. Rund 650 Soldatenfriedhöfe in der Gegend | |
künden bis heute von dem sinnlosen Gemetzel, bei dem es drei Jahre lang | |
keinen nennenswerten Raumgewinn gab. | |
## Das ewige Verprechen | |
Mittendrin stand Charles Crupelandt, ein Sohn der Industriestadt Roubaix | |
und Gewinner des Rennens in den Jahren 1912 und 1914. Beim Kriegsausbruch | |
hielt Crupelandt sich in Berlin auf, um Sechstagerennen zu fahren. | |
Unmittelbar nach seiner waghalsigen Rückkehr über Holland wurde er | |
eingezogen und in einer der ersten Schlachten des Krieges schwer verwundet. | |
Nach dem Krieg wollte Crupelandt dann seine Karriere wieder aufnehmen, doch | |
man sperrte ihn wegen Schwarzmarktgeschäften und Kleindiebstählen in den | |
Hungermonaten der Jahre 18/19. Crupelandt starb 1955 völlig verarmt in | |
seiner Heimatstadt Roubaix. Erst lange nach seinem Tod ehrte ihn das | |
Rennen, indem es den allerletzten Kopfsteinpflasterabschnitt kurz vor dem | |
Ziel im Velodrom von Roubaix dauerhaft nach ihm benannte. | |
Das Bergbaumuseum von Arenberg erzählt derweil die andere Geschichte dieser | |
Landschaft. Im Jahr 1994 wurde hier die Verfilmung des Émile-Zola-Romans | |
„Germinal“ gedreht – der Geschichte eines blutigen Bergarbeiteraufstands … | |
den 1860er Jahren. Zola hatte die unmenschlichen Bedingungen in den Gruben | |
des Nordens 1884 in Anzin recherchiert – einer Bergbaustadt nur elf | |
Kilometer von Arenberg entfernt. | |
Der Bergbau bestimmte die Region bis in die 1950er Jahre ebenso wie die | |
Textilindustrie die Stadt Roubaix. Seither ringt die triste Gegend zwischen | |
Amiens und der belgischen Grenze um eine Identität und eine Zukunft. | |
Was sich in der Region jedoch nicht geändert hat, ist das Radrennen, das am | |
Osterwochenende durch die Dörfer rollt. Es ist ein Lichtblick für die | |
Menschen, denn es erzählt, ähnlich wie Zolas Roman, die Geschichte des | |
Bestehens gegen alle Härten des Daseins. Germinal bedeutet Keim, das ewige | |
Versprechen der Blüte. Dieses Versprechen treibt die 200 Männer, die am | |
Sonntag in Compiègne am Start stehen werden, durch die härtesten sieben | |
Stunden ihres Arbeitsjahres. | |
16 Apr 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Radsportklassiker-Paris--Roubaix/!5494696 | |
[2] /Pogacar-wohl-als-Sieger-in-Paris/!5781459 | |
## AUTOREN | |
Sebastian Moll | |
## TAGS | |
Radsport | |
Profisport | |
Maskulinismus | |
GNS | |
Kolumne Press-Schlag | |
Radsport | |
Radsport | |
Radsport | |
Radsport | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Sturzserie im Radsport: Geschäftsmodell Lebensgefahr | |
Wieder mal sorgt ein Massensturz für Entsetzen im Peloton. Doch es ist auch | |
dieses Risiko, von dem der Radsport lebt. | |
Radklassiker in Belgien: Munter ins letzte Monument | |
Liane Lippert wurde bereits zwei Mal von Corona ausgebremst. Beim | |
Radklassiker Lüttich-Bastogne-Lüttich zählt sie dennoch zu den | |
Favoritinnen. | |
Radsportklassiker Mailand-Sanremo: Der Erfinder rast runter | |
Der Slowene Matej Mohorič riskiert beim ersten Radsportklassiker der Saison | |
am meisten. Er siegt – auch dank seiner Experimentierfreude. | |
Frauen im Profiradsport: Ein bisschen weiblicher | |
Der Weltradsportverband feiert sich selbst, was er alles für | |
Geschlechtergerechtigkeit unternimmt. Doch bei Licht besehen ist das nicht | |
allzu viel. | |
Radsportklassiker Paris – Roubaix: Das Marionettenrennen | |
Peter Sagan triumphiert bei der „Hölle des Nordens“ auf untypische Weise. | |
Überschattet wird sein Erfolg aber vom Tod des Profis Michael Goolaerts. |