# taz.de -- Sexualaufklärung in Kinderbüchern: Zwei Störche und ein Pinguinb… | |
> Bei sexueller Aufklärung geht es heute um viel mehr als zu erklären, wie | |
> Sex funktioniert. Viele Kinderbuchverlage haben darauf reagiert. | |
Bild: Heutzutage geht es bei Aufklärung um viel mehr, als nur um Bienchen und … | |
Heute wird über Sexualität differenzierter gesprochen als noch vor wenigen | |
Jahren – auch mit Kindern. Doch wie klärt man am besten auf über Themen wie | |
Gendersensibilität, moderne Familienbilder, Körperbewusstsein, sexuelle | |
Orientierung? Wie vermittelt man Konzepte, die zu fassen so manchem | |
Erwachsenen schwerfällt? | |
Das sind Fragen, auf die inzwischen auch der Büchermarkt für [1][die junge | |
Zielgruppe Antworten sucht]. Mittlerweile gibt es jede Menge | |
Aufklärungsstoff, der weit über die Grundlagen der Fortpflanzung | |
hinausgeht. Sexuelle Aufklärung beinhaltet hier viel mehr als zu erklären, | |
wie Sex funktioniert. Denn die Nachfrage ist da. Und viele Verlage haben | |
das Potenzial erkannt. | |
Einer davon ist der Achse Verlag in Wien, in dem vor allem Kinderbücher | |
erscheinen. Den jungen Leser:innen will man ein „diverses Programm mit | |
feministisch-queerem Fokus“ bieten, sagt Verlegerin Teresa Mossbauer. | |
„Unser Ansatz ist, je früher man mit vollkommener Normalität über diese | |
ganzen Themen spricht, desto unkomplizierter wird es für alle.“ Wie genau | |
man aber Kindern Sexualität erklärt, das gehen auch die Autor:innen der | |
Branche ganz unterschiedlich an. | |
Zum Beispiel wenn es um das Thema sexuelle Orientierung geht. In „Papa | |
Storch“ erzählt Paloma Schreiber die Geschichte der Vögel Edgar und Holger, | |
die gemeinsam ein Pinguinbaby aufziehen. Die Autorin ist das Thema der | |
gleichgeschlechtlichen Elternschaft „ganz intuitiv“ angegangen, wie sie | |
sagt. Inspiration habe sie dabei aus dem realen Tierreich gezogen. Die | |
Tatsache, dass Homosexualität in dem Buch zwar dargestellt, aber überhaupt | |
nicht angesprochen wird, war für die Autorin eine natürliche Entscheidung: | |
„Das gehört einfach zum heutigen Leben dazu“, sagt die studierte | |
Künstlerin. | |
Ähnlich sieht das Stefan Timmermanns. Der Vorsitzende der Gesellschaft für | |
Sexualpädagogik und Professor für Sexualpädagogik an der Frankfurt | |
University of Applied Sciences findet es wichtig, dass das Thema der | |
homosexuellen Partnerschaft nicht immer als etwas Besonderes präsentiert | |
wird. „Aber“, schränkt er ein, „für manche Kinder ist das Thema natürl… | |
völlig neu.“ Wenn dann Fragen oder sogar Ablehnung aufträten, müssten | |
Eltern sich dem Thema sehr wohl widmen, statt es nur beiläufig zu erwähnen. | |
## Beiläufig erwähnen oder explizit aufklären? | |
Den Weg der expliziten Aufklärung ziehen auch so manche | |
Kinderbuchautor:innen vor. Zum Beispiel die des Buchs „Erbsenklein | |
Melonengroß“, die in ihrer Erzählung bewusst auf Diversität aufmerksam | |
machen. Die Geschichte von dem geschlechtsneutralen Kind Toni, das ein | |
Geschwisterchen bekommt, dient dabei eher als Rahmen für Informationen. Im | |
Vordergrund steht die Aufklärung. Auch hier geht es um | |
nicht-[2][traditionelle Familienbilder, aber genauso um die Vielfalt von | |
Körpern, Sexualität und Geburtsmethoden]. „Ich wollte, dass alle Kinder | |
reinschauen können und sich abgeholt fühlen“, erklärt die Autorin und | |
Sexualpädagogin Cornelia Lindner. Das hohe Maß an Inklusivität entsteht bei | |
„Erbsenklein Melonengroß“ auch durch eine differenzierte Sprache. Sätze | |
wie: „Wenn eine Person mit Penis und Hoden und eine Person mit Vulva und | |
Uterus Sex haben“ sind zumindest in ihrer Formulierung komplexer als die | |
gängige Kinderliteratur. | |
Das könnte man problematisch finden, zu schwierig für die jungen | |
Leser:innen. Aber Stefan Timmermanns hat die Erfahrung gemacht, dass Kinder | |
häufig offen für derartige Begriffe sind und nachfragen, wenn sie etwas | |
nicht verstehen. Allerdings hänge das insbesondere vom Umfeld ab: „Wenn | |
Kinder zu Hause eine andere Sprache gewöhnt sind, dann werden sie | |
sicherlich irgendwann abschalten, wenn zu viele unbekannte Begriffe | |
verwendet werden“, sagt er. Für die Autorin Cornelia Lindner sind es die | |
Erwachsenen, denen eine inklusive Sprache Probleme bereitet: „Für Kinder | |
ist es eigentlich ein ganz klares Herunterbrechen auf das Wesentliche“, | |
sagt sie. „Und das Wesentliche ist in diesem Zusammenhang, dass die eine | |
Person einen Penis hat und die andere eine Vagina und einen Uterus.“ | |
Auch die Autorin Katharina Schönborn-Hotter plädiert für explizite | |
Aufklärung und eine klare Sprache. In dem Buch „Lina die Entdeckerin“ | |
erzählen sie und ihre Co-Autor:innen die Geschichte eines Mädchens, das | |
eine buchstäbliche Reise in das eigene Geschlechtsorgan unternimmt. Dazu | |
gibt es Informationen über die Hygiene, Funktion und Bezeichnung der | |
entdeckten Körperteile. Das Buch enthält komplexe Begriffe und ist dennoch | |
kindgerecht erzählt, in Reimform und anhand von ausdrucksstarken | |
Illustrationen. | |
Die Idee zu einem Kinderbuch, das die Vulva ins Rampenlicht stellt, | |
entstand auch durch die sexualpädagogische Arbeit mit jungen Mädchen. | |
Katharina Schönborn-Hotter erzählt von Workshops mit Teenagerinnen, die | |
Bilder von Vulven als „grausig“ bezeichnet hätten. „Das ist doch irgendw… | |
verstörend und schade, weil es ein selbstverständlicher Teil des Körpers | |
ist“, sagt sie. Deshalb müsse Mädchen schon in der Kindheit ein schamloser | |
Zugang zum eigenen Körper vermittelt werden. „Wir wollen niemandem | |
verbieten, [3][Koseworte oder Familienausdrücke zu verwenden]“, sagt | |
Schönborn-Hotter. „Gleichzeitig ist es wichtig, Begriffe einzuführen, mit | |
denen man sich allgemein verständigen kann.“ Das sei auch bei der | |
Kommunikation von Schmerzen entscheidend. | |
Aber wie viel Komplexität kann man Kindern – nicht nur sprachlich, sondern | |
auch inhaltlich – in Sachen sexueller Bildung zutrauen? Mehr als so mancher | |
denkt, glaubt auch der Autor und Sexualpädagoge Carsten Müller. Mit seinem | |
Sachbuch für Kinder „Von wegen Bienchen und Blümchen“, das im EMF Verlag | |
erscheint, will er unter anderem einen Beitrag zur Prävention | |
sexualisierter Gewalt leisten – ein besonders sensibles Thema. Laut Müller | |
geht es dabei vor allem darum, die eigenen Gefühle verstehen und einordnen | |
zu können. Die Unterscheidung zwischen Schuld und Scham, die er Kindern | |
dabei vermitteln will, ist zwar zielgruppengerecht formuliert, trotzdem | |
aber nicht einfach zu greifen. „Das fällt vielen enorm schwer“, sagt Müll… | |
und spricht genauso von Erwachsenen wie von Kindern. | |
## Auf Interessen eingehen | |
Genau deshalb sei es aber wichtig, dieses Thema und andere komplexe | |
Zusammenhänge schon in der Kindheit zu besprechen, so der Sexualpädagoge: | |
„Wenn ich als Kind Klavierspielen lerne, dann wird mir das deutlich | |
leichter fallen, als wenn ich erst mit 40 damit anfange.“ Dennoch: Stefan | |
Timmermanns weist darauf hin, dass nur wenige Kinder die | |
Konzentrationsfähigkeit dafür hätten, ein solches Buch am Stück zu lesen. | |
Auch der Autor Carsten Müller sagt, dass seine Kapitel so konzipiert seien, | |
dass sie unabhängig voneinander angeschaut werden können. | |
Dasselbe gelte für die Bücher vom Achse Verlag, sagt die Verlegerin Teresa | |
Mossbauer: „Wenn man das Gefühl hat, die ein oder andere Info ist noch zu | |
kompliziert für das Kind, kann man die auch weglassen und dann vielleicht | |
ein oder zwei Jahre später noch mal behandeln. „Es ist nicht so gedacht, | |
dass man seinem dreijährigen Kind von A bis Z das Vulva-Kinderbuch vorlesen | |
muss.“ Vielmehr solle auf das Interesse des Kindes eingegangen werden. | |
Generell, das betonen die Experten, gehe es bei der sexuellen Bildung vor | |
allem darum, die Fragen zu beantworten, die sich Kinder ohnehin stellen. | |
Auch wenn das Interesse dabei von Fall zu Fall unterschiedlich ausfalle, | |
beschäftigen sich Kinder in bestimmten Altersgruppen auch mit Themen, die | |
darüber hinausgehen, wie das Baby in den Bauch kommt. Zum Beispiel mit | |
Geschlechteridentität. „Irgendwann taucht die Frage auf, bin ich wie die | |
Mama oder bin ich wie der Papa?“, sagt die Autorin und Sexualpädagogin | |
Katarina Schönborn-Hotter. | |
Für Kinder sei es ganz üblich, davon auszugehen, dass sie sich für ein | |
Geschlecht entscheiden könnten. Laut Stefan Timmermanns kommt das Thema der | |
geschlechtlichen Identität im Kindergartenalter auf. Die Frage der | |
sexuellen Orientierung sei entwicklungspsychologisch in der Pubertät oder | |
Vorpubertät verankert, wobei Formen des Zusammenlebens schon in der Kita | |
oder Grundschule interessant werden könnten. Carsten Müller drückt es so | |
aus: „Die Kinder machen diese Themen automatische zum Thema. Weil sie eben | |
spannend sind.“ | |
6 May 2022 | |
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## AUTOREN | |
Vincent Büssow | |
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