# taz.de -- Frühkindliche Sexualerziehung: Wege aus der Pullermannkrise | |
> Damit Kleinkinder eine unbedarfte, positive Sprache für ihre Sexualität | |
> finden, sind Worte wie Pullermann und Zizi sind ideal. Sagen | |
> Aufklärungsprofis. Ein Bischof sieht das anders. | |
Bild: "Du Schwulie" nennen Sechsjährige einen Jungen, der Barbies frisiert. Wa… | |
Die Musiker singen vom "Pullermann", der auch "Buhbuh" heißt, von | |
"Kullern", die in Säckchen baumeln: Seit vier Jahren schon tingelt das | |
Aufklärungsmusical "Bauch, Nase, Po" durch Säle und Kindertagesstätten. Vor | |
wenigen Tagen aber kam es zum Eklat. Entzürnt rief Fuldas Bischof Heinz | |
Josef Algermissen die Gläubigen zum Bühnenboykott. Zu einseitig richte das | |
Singstück "Sexualität auf körperliche Zusammenhänge" aus. | |
Der Fuldaer Geistliche ist nicht der Einzige, der sich derzeit über Fragen | |
kindlicher Sexualbildung ereifert. Im Juli zog das Familienministerium eine | |
Broschüre aus dem Vertrieb, die Experten zwar für unbedenklich halten - an | |
deren Sicht auf "Doktorspiele" sich jedoch einige störten. In beiden Fällen | |
- beim Heftchen wie beim Musikstück - ist es die Bundeszentrale für | |
gesundheitliche Aufklärung (BzGA), die den Inhalt verantwortet. | |
Diese Beispiele werfen ein Schlaglicht auf die Frage, wie Sexualität im | |
Kindergarten behandelt werden sollte. Vor allem aber zeigen sie, wie wenig | |
selbstverständlich das Thema auch im aufgeklärten 21. Jahrhundert ist. | |
Selbst die Profis sind oft ratlos. "In der Ausbildung der Erzieherinnen ist | |
das noch zu wenig präsent", sagt Eckhard Schroll, der bei der BzGA für | |
Sexualerziehung zuständig ist. "Auch Eltern denken oft: Das reicht ja, wenn | |
ich mit meinem Kind in der Pubertät darüber spreche." | |
Teil des Problems ist ein tradierter Irrtum. Noch in den Achtzigern galten | |
Kinder oft als asexuelle Wesen, die Geschlechterfragen nicht betreffen. | |
Dieses Denken ist noch längst nicht vergessen. Teil des Missverständnisses | |
sei es auch, sagt Schroll, dass "Erwachsene ihre Vorstellungen von | |
Sexualität eins zu eins auf Kinder übertragen". | |
Dabei kreist kindliche Sexualität nicht um Orgasmen und genitale Lust. Zwar | |
erforschen die Kleinen - unverkrampft und unbelastet von Moralfragen - | |
ihren Körper. "Vor allem aber geht es Kindern um Kuscheln und Toben, um | |
Zuneigung, Scham und Eifersucht", sagt Schroll. | |
Mittlerweile sind sich Psychologen darin einig, dass die Art, wie ein | |
Erwachsener seine Sexualität lebt, maßgeblich schon in diesem frühen Alter | |
geprägt wird. Sie erlernen Grundbegriffe: Was möchte ich, was darf ich, wo | |
setze ich Grenzen? Sie sollten lernen, dass sie nicht jede alte Tante | |
küssen müssen. Und dass es in Ordnung ist, wenn ein Mensch, der einen liebt | |
- wie Vater oder Mutter -, mal keine Lust auf Kuscheln hat, dass dies ihr | |
gutes Recht ist und kein Liebesentzug. | |
Laut dem Psychologen Tim Rohrmann sind es gerade Jahre zwischen drei und | |
sechs, in denen Kinder viel über ihre Identität lernen. Mit drei Jahren | |
wissen sie in der Regel, dass sie Junge oder Mädchen sind. Sie wissen aber | |
noch nicht, dass dies auch so bleiben wird. Und dass es etwas mit | |
Geschlechtsorganen zu tun hat. Die Kinder orientieren sich eher an anderen | |
Äußerlichkeiten: Männer sind die mit der rauen Haut, Frauen sind die mit | |
der hohen Stimme. Im Laufe der Kindergartenzeit werden die Vorstellungen | |
dann präziser. Mit fünf oder sechs wissen Kinder, dass Mannsein oder | |
Frausein etwas Unabänderliches ist. Sie lernen, dass es verschiedene | |
Sprachebenen für sexuelle Vorgänge gibt, dass manche zärtlich sind und | |
manche ein Schimpfwort. Und sie lernen, dass es viele Eigenschaften und | |
Verhaltensweisen Männern und Frauen unterschiedlich zugeordnet werden. Ein | |
zweijähriger Junge macht noch gerne beim Ballett mit. Ein Fünfjähriger | |
sagt: Nee, da sind ja nur Mädchen, und alle tragen sie Rosa. "Sechsjährige | |
haben oft rigide Vorstellungen im Sinne von: Männer fahren Auto, Frauen | |
kochen", sagt der Braunschweiger Jungenforscher Rohrmann. | |
Schon Sechsjährige beschimpfen einen Jungen, der Barbies frisiert, als "du | |
Schwuli". Sie haben zwar noch wenig Vorstellung davon, was Schwulsein | |
überhaupt ist. Aber sie haben beobachtet, dass "Puppen kämmen" etwas ist, | |
dass manche Erwachsene als nicht jungsgemäß betrachten - und belegen es | |
dann mit nebulösen Worten. | |
Umso wichtiger werten es Experten, dass Erzieherinnen die Fragen der Kinder | |
offen beantworten. Die Realität aber sieht anders aus. ErzieherInnen seien | |
oft angesichts der diffusen gesellschaftlichen Regeln verunsichert, | |
schreibt Lilian Fried, Expertin für frühkindliche Pädagogik an der Uni | |
Dortmund, in einem Aufsatz. Ihnen sei unklar, wie sie sich etwa gegenüber | |
Doktorspielen verhalten sollen. Oft wüssten sie sich nicht anders zu | |
helfen, als wegzusehen. Sie schreckten davor zurück, auf sexuelle Praktiken | |
bei jüngeren Kindern positiv zu reagieren. | |
Für Rohrmann ist das auch ein grundsätzliches Problem. Er kritisiert, dass | |
Sexualität im Kindergarten oft erst dann behandelt wird, wenn es Probleme | |
gibt. "Ich finde es ganz fatal, wenn das Erste, was Kinder zum Thema hören, | |
der sexuelle Missbrauch ist", sagt Rohrmann. Oder wenn über Sex erst | |
geredet wird, wenn ein Kind den Sandkastenkumpan mit "du Wichser" begrüßt. | |
Besser sei es, für Vorgänge, die man vor Kindern sowieso nicht verbergen | |
kann, eine altersgemäße Sprache zu entwickeln. "Auf undramatische, | |
beiläufige Weise eine positive Sprache für Geschlechtsorgane und sexuelle | |
Vorgänge zu entwickeln", nennt das Rohrmann. Auch Schroll bemängelt, dass | |
die Missbrauchsdebatte der Neunziger, so hilfreich sie in vieler Hinsicht | |
war, einen Aspekt unter den Tisch hat fallen lassen: "Es fehlte das | |
positive Pendant, das Jasagen zu Dingen, die man mag", sagt Schroll. | |
Der derzeit bekannteste Versuch, das zu ändern, tourt diesen Monat durch | |
Brandenburg. Das Kindermusical ist gut gebucht. Heute zum Beispiel werden | |
die Lieder von Pullermann und Po in der "Inselhalle" in Eisenhüttenstadt | |
erklingen. Sexualaufklärung zum Gitarren-schramm-schramm - das ist immerhin | |
ein Anfang. | |
7 Nov 2007 | |
## AUTOREN | |
Cosima Schmitt | |
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