| # taz.de -- Freiburger Foto-Projekt: Vielfalt der Vulva | |
| > In der Kunst taucht die Vulva immer wieder auf. Aber an realistischen | |
| > Abbildungen fehlt es nach wie vor. Verschiedene Fotoprojekte wollen das | |
| > ändern. | |
| Bild: Rahel Locher achtet bei ihren Fotos auf empowernde Ästhetik | |
| Tin* zieht ihre Unterhose aus, hebt ihren bunten Rock hoch und setzt sich | |
| breitbeinig auf den Vulva-Thron. So nennt das Kollektiv Vulvaversity – ein | |
| Wortspiel aus [1][Vulva] und Diversity – den Sessel, auf dem es die Vulven | |
| ihrer freiwilligen Modelle fotografiert. Tin heißt eigentlich anders. Sie | |
| und Fotografin Gwen Weisser sind allein im Atelier, die Fotoecke ist | |
| abgetrennt durch einen dicken blauen Vorhang. | |
| Tin lässt sich zum ersten Mal fotografieren. Sie hält sich die Hand vor den | |
| Mund und kichert. Sie legt ihren Rock auf den Bauch und rutscht mit dem Po | |
| nach unten, näher an die Kamera. „Wenn du willst, kannst du deine | |
| Vulvalippen noch auseinanderziehen“, schlägt Weisser der jungen Frau vor. | |
| Dann stellt sie die Kamera ein und klick, Vulva fotografiert. | |
| Gegründet 2019 ist Vulvaversity ein Freiburger Kollektiv, welches die Vulva | |
| „aus dem politischen und kulturellen Exil holen möchte“, wie Indra Küster, | |
| eine der vier Gründerinnen, der taz erzählt. Dafür fotografieren sie Vulven | |
| und machen aus den Fotos unter anderem einen Kalender – 365 Vulven von | |
| unten, nah und anatomisch im Hochformat. Oberschenkel oder Bauch sind nicht | |
| zu sehen, so wirkt die Vulva losgelöst vom Menschen. | |
| Lange Zeit wurde das äußere weibliche Geschlechtsorgan diffamiert und | |
| verleugnet, schreibt die Kulturwissenschaftlerin [2][Mithu Sanyal in ihrem | |
| Buch „Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts“]. Deshalb werde die | |
| Vulva einfach nicht dargestellt, kritisiert Küster. „Und wenn, dann | |
| beschränkt es sich auf eine vorpubertäre Vulva, ohne Haare, ohne größere | |
| innere Vulvalippen, ausgeprägter Klitorisvorhaut oder Pigmentierung. Oder | |
| sie wird sexualisiert.“ Abgesehen vom medizinischen Kontext sei es nur in | |
| der Pornografie üblich, Vulvafotos zu finden. „So werden sie schnell mit | |
| Sexualität in Verbindung gebracht, statt sie einfach als Abbildung eines | |
| Körperteils zu sehen“, meint Küster. Das will das Kollektiv ändern. | |
| ## Die Vulva wird Mainstream | |
| Mit ihrer Ausstellung „Lippenbekenntnisse“ möchte auch die Schweizer | |
| Fotografin Rahel Locher Aufmerksamkeit für die Vielfalt der Vulva schaffen. | |
| Auf den Schwarz-Weiß-Fotos sind nur die verschiedenen Lippenformen zu | |
| erkennen, der Rest ist dunkel. „Ich wollte nicht, dass man mehr Körper | |
| sieht, weil das bei den Betrachter:innen die Fantasie anregt“, erklärt | |
| die Fotografin die besondere Lichtsetzung. Anders als bei Vulvaversity geht | |
| es Locher besonders um die Ästhetik: Wenn Menschen mit Vulva aus einer von | |
| Lochers Fotosessions kommen, sollen sie sich empowert fühlen. „Sie sollen | |
| sich auf den Fotos schön finden und merken, wie einzigartig sie sind“, sagt | |
| Locher. Damit möchte sie vor allem junge Frauen erreichen. | |
| Auch die australische Fotografin Ellie Sedgwick will zeigen, wie | |
| verschieden die Vulva sein kann. Dafür fotografiert sie Vulven aus zwei | |
| Perspektiven: von unten – wie Locher und Vulvaversity – und zusätzlich noch | |
| von vorne. So sehen sich Menschen mit Vulva auch, wenn sie stehend in den | |
| Spiegel schauen. Insbesondere in dieser Position wird erkennbar, wie | |
| unterschiedlich lang Vulvalippen wirklich sind. | |
| Die Vulva dient feministischen Künstler:innen schon seit den 1960ern als | |
| Motiv. Heute ist sie in der Popkultur sehr präsent: als Gipsabdruck im | |
| Museum, als kämpferisches Graffiti an jeder Straßenecke, in der | |
| Netflix-Serie „[3][Sex Education]“ auf Cupcakes. Inzwischen ist die Vulva | |
| aber zum Mainstream geworden: In jeder Form und Farbe als Ohrring oder | |
| Kette, auf dem Jutebeutel oder dem T-Shirt im Etsy-Shop zu erwerben. Es | |
| sind aber symbolische Abbildungen, an realistischen fehlt es nach wie vor. | |
| Ein Grund dafür: „Fotos von der Vulva werden oft als pornografisches | |
| Material gewertet, unabhängig davon, ob die Vulva erigiert ist oder nicht“, | |
| so Küster. Deshalb gebe es beispielsweise in Schulbüchern nur Zeichnungen, | |
| medizinische Illustrationen oder Grafiken – aber keine Fotos. | |
| In Onlineforen, auf Social Media und in Dokus berichten Frauen, dass sie | |
| sich oft gefragt hätten, ob ihre Vulva „normal“ ist. Dafür macht Locher | |
| Schönheitsideale verantwortlich, die durch Zeitschriften wie [4][die | |
| Bravo], durch Pornos oder sexualisierter Werbung transportiert werden. Dort | |
| ist die Vulva fast kindlich dargestellt, rasiert, glatt, straff und mit | |
| kurzen Labien – fernab der Realität. Das sind ästhetische | |
| Idealvorstellungen, der nur wenige Vulven gerecht werden. | |
| Denn Vulven sind sehr vielfältig. Das ist das Fazit der bisher größten | |
| Studie zur Anatomie der Vulva. Forscher:innen des Luzerner Kantonspitals | |
| wollten 2018 herausfinden, wie eine „normale“ Vulva aussieht. [5][Dazu | |
| haben sie über 600 Vulven vermessen]. Anatomisch waren die Vulven jedoch | |
| einfach zu unterschiedlich, um eine Normvulva zu definieren. | |
| Diese Erkenntnis kommt spät: Seit Anfang der 2000er-Jahre boomt die | |
| Intimchirurgie. Weltweit haben intimchirurgische Eingriffe inzwischen die | |
| höchste Wachstumsrate – in Deutschland um jährlich 14 bis 17 Prozent, laut | |
| Vereinigung der deutschen ästhetisch-plastischen Chirurgen (VDÄPC), das | |
| sind im Durchschnitt jährlich knapp 2.500 Eingriffe. Dabei werden die | |
| inneren Vulvalippen gekürzt, die Klitorisvorhaut wird entfernt und sogar | |
| die Vagina gestrafft – aufgrund von Beschwerden, aber auch aus ästhetischen | |
| Gründen. | |
| ## Selbstoptimierung entgegenwirken | |
| Dass sich so viele Menschen und vor allem Frauen unter 30 für solch einen | |
| Eingriff entscheiden, war für Vulvaversity, Rahel Locher sowie für Ellie | |
| Sedgwick Auslöser für ihr Engagement. „Ich möchte mit meiner Ausstellung | |
| dieser ständigen Selbstoptimierung entgegenwirken und aufzeigen, dass es | |
| keine ‚Norm‘ in diesem Sinne gibt“, sagt Locher. Sedgwick erzählt [6][auf | |
| ihrer Webseite], sie habe sich sogar selbst fast operieren lassen – ohne | |
| genau zu wissen, was genau sie ändern wollte. Heute kritisiert sie solche | |
| Eingriffe vehement: „[Plastische Chirurgen] profitieren von diesen | |
| Unsicherheiten“ schreibt sie in einem Instagram-Post. | |
| Um mit Falschinformationen, Unsicherheit und Scham rund um die Vulva und | |
| die weibliche Sexualität aufzuräumen und die Selbstbestimmung von Menschen | |
| mit Vulva zu fördern, bemüht sich das Vulvaversity-Kollektiv deshalb | |
| zusätzlich um sexuelle Aufklärung. „Ärzt:innen und Sexpädagog:innen | |
| wollten für ihre Arbeit unsere Fotos nutzen, weil sie so wenig zur | |
| Verfügung haben, die sie ihren Patient:innen und Schüler:innen | |
| zeigen können“, sagt Küster. | |
| Daraus entwickelte sich schließlich das „Vulva-Museum“, ein fächerartiger | |
| Katalog mit 60 Vulven. Rasiert oder unrasiert, operiert, menstruierend, | |
| trans, intersex oder nach einer natürlichen Geburt – jedes Fotos ist mit | |
| einer Legende versehen. „Dank dieser Symbole kann man noch mehr vergleichen | |
| und besser einordnen, was man sieht“, so Küster. So seien die Fotos besser | |
| für Aufklärungsarbeit geeignet. | |
| Außerdem bietet das Kollektiv nun auch Aufklärungsworkshops für Jugendliche | |
| an, damit die nächste Generation mit mehr Wissen über die Vulva ins | |
| Erwachsenenleben starten kann. | |
| Im Vulvaversity-Kalender sind Frauen über 50, nichtweiße Frauen sowie | |
| trans* oder nichtbinäre Menschen unterrepräsentiert. „Wir hätten gerne noch | |
| mehr Diversität, beziehungsweise Realität gezeigt“, meint Küster. Auch | |
| Locher bedauert, dass sie meist weiße cis Frauen porträtiert. „Dafür haben | |
| wir beim Vulva-Museum besonders auf Diversität geachtet, zum Beispiel in | |
| Bezug auf Alter und Hautfarbe“, sagt Küster. Auffallend ist jedoch, dass | |
| nur rund ein Drittel der Vulven unrasiert ist. | |
| „Ich liebe es“, sagt Tin begeistert. Sie hält das Foto ihrer Vulva in der | |
| Hand. Zusammen mit Vulvaversity-Fotografin Gwen Weisser hat sie eins | |
| ausgesucht und gleich ausgedruckt – eine Kopie darf jedes Modell mit nach | |
| Hause nehmen. „Das hänge ich mir auf“, sagt sie. Tin habe eine enge | |
| Verbindung mit ihrer Vulva, erzählt sie. Aber das sei nicht der Fall bei | |
| allen, die sich fotografieren lassen, meint Weisser. „Die Vulva verbindet | |
| man mit vielen Geschichten. Auch mit traumatischen“, sagt sie. | |
| Nach der Fotosession tauscht sich Tin noch mit anderen aus. Im Innenhof | |
| sitzen sechs Frauen und erzählen, was sie mit ihrer Vulva verbinden. Wie | |
| sie das Fotoshooting erlebt haben. Was sie alles schon früher gewusst | |
| hätten. „Diese Shootings sind immer so besonders, weil sich alle ihre Vulva | |
| fotografieren lassen. Das verbindet“, sagt Küster. | |
| 2 Aug 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Vulva/!t5544606 | |
| [2] /Zeige-deine-Vulva-und-verjage-den-Teufel/!660785/ | |
| [3] /Kolumne-Die-Couchreporter/!5567474 | |
| [4] /Jugendmagazin-Bravo-wird-65/!5791530 | |
| [5] https://obgyn.onlinelibrary.wiley.com/doi/epdf/10.1111/1471-0528.15387 | |
| [6] https://www.comfortableinmyskin.com.au/blog/more-on-ellie | |
| ## AUTOREN | |
| Julika Kott | |
| ## TAGS | |
| Vulva | |
| Schwerpunkt Gender und Sexualitäten | |
| zeitgenössische Fotografie | |
| Fotografie | |
| GNS | |
| Podcast „Vorgelesen“ | |
| Sexualerziehung | |
| Vibrator | |
| Pornografie | |
| Schwerpunkt Gender und Sexualitäten | |
| Aufklärung | |
| Lust | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Ende von „Sex Education“: Das war’s mit Bildung | |
| „Sex Education“ geht in die finale Staffel. Ein Abschied, der schwerfällt. | |
| Auch wenn manchmal der Raum fehlt, um die Geschichten langsam aufzubauen. | |
| Vibratoren-Sammlerin Nadine Beck: „Ein Geschenk an die Menschheit“ | |
| Die Kulturwissenschaftlerin Nadine Beck hat über Vibratoren promoviert und | |
| zeigt ihre Sexspielzeuge-Sammlung im L'apotheque Museum auf St. Pauli. | |
| Serie „Nur für Erwachsene“ in der ARD: Wie bei McDonald’s | |
| Bei der britischen Serie „Nur für Erwachsene“ liegen die Sympathien ganz | |
| bei der Hauptfigur: einer Pornodarstellerin. | |
| Die Wochenvorschau für Berlin: Eine Weile ohne Penetration | |
| Noch immer sprechen Viele von der Vagina, wenn sie die Vulva meinen. Eine | |
| Gynäkologin erhält einen Preis, es gibt Frauenfilme und Romanzen. | |
| Sexualaufklärung in Kinderbüchern: Zwei Störche und ein Pinguinbaby | |
| Bei sexueller Aufklärung geht es heute um viel mehr als zu erklären, wie | |
| Sex funktioniert. Viele Kinderbuchverlage haben darauf reagiert. | |
| Biolehrerin über veraltete Schulbücher: „Nicht nur Scheide oder Vagina“ | |
| Die Klitoris war in Schulbüchern unvollständig abgebildet. Nach Kritik der | |
| Lehrerin Sina Krüger wurden viele Darstellungen erneuert. |