# taz.de -- IT-Branche in Russland: Krieg ohne Nerds | |
> Die Sanktionen des Westens treffen die russische Hochtechnologiebranche | |
> hart. Viele junge IT-Spezialist*innen verlassen deshalb das Land. | |
Bild: Kostya Amelichev ist mit seiner Freundin nach Tiflis geflohen, um als Pro… | |
MOSKAU taz | Seine Augen schauen nervös umher, er gestikuliert wild, wirkt | |
unruhig. „Jungs“, sagt der russische Ministerpräsident Michail Mischustin | |
vor der Staatsduma, dem russischen Parlament Anfang April. „Entwickler, | |
Programmierer, IT-Spezialisten, lasst uns ein eigenes Ökosystem schaffen. | |
Wir haben alles dafür da, wir müssen uns nur anstrengen.“ Der 56-Jährige, | |
der sonst wie ein unbeweglicher Stein dasitzt, klingt flehentlich, während | |
er spricht. | |
Das „Ökosystem“, von dem Mischustin bei seinem Rechenschaftsbericht redet, | |
sind eigene Internetplattformen, Apps und Entwicklungen im IT-Bereich. | |
„Habt keine Angst, es wird alles gut werden, ihr werdet in Ruhe im eigenen | |
Land arbeiten können, gut verdienen können, bequem hier leben können“, sagt | |
er. Viele russische IT‑Spezialist*innen glauben diesen Worten allerdings | |
längst nicht mehr – und verlassen in Scharen ihr Land, seit es seine | |
„militärische Spezialoperation“ in der Ukraine gestartet hat, wie Moskau | |
den Krieg offiziell nennt. | |
Zehntausende Russ*innen sind seit dem 24. Februar [1][aus Russland | |
geflohen]. Nicht nur aus politischen Motiven. Viele sind schlicht darauf | |
angewiesen, ihren Job zu behalten oder schnell einen zu finden. Der Exodus | |
aus der Hochtechnologiebranche ist besonders stark. Bereits im März sprach | |
Sergei Plugotarenko, der Chef der russischen Vereinigung elektronischer | |
Kommunikation, ebenfalls in der Duma, von bis zu 70.000 | |
IT‑Spezialist*innen, die das Land verlassen haben. Für April kam er auf | |
Zahlen von 100.000 Programmierer*innen und Software-Entwickler*innen. | |
Dabei hatte das russische Ministerium für digitale Entwicklung noch im | |
Januar Zahlen vorgelegt, wonach der IT-Branche im Land etwa eine Million | |
Fachkräfte fehlen. Eigentlich ist die Branche beliebt. Dreißig Prozent der | |
Schulabsolvent*innen, so schreibt die russische Recruitingagentur Outside | |
Digital, wollen ihr Geld dort verdienen. | |
Die IT-Unternehmen lockten bislang vor allem Jobanfänger*innen mit | |
hohen Gehältern und Annehmlichkeiten wie längerem Urlaub oder | |
Mitgliedskarten in Fitnessklubs. Umgerechnet knapp 2.000 Euro verdienen | |
IT-ler*innen quer durch Russland durchschnittlich im Monat. Das ist | |
weitaus mehr als das russische Durchschnittsgehalt von umgerechnet knapp | |
400 Euro. | |
Technik aus dem Ausland fehlt | |
Manche Tech-Unternehmen warben zuweilen mit einmaligen Einstiegsboni um die | |
klugen Köpfe. Banken suchten App-Entwickler*innen und Chemiekonzerne | |
Spezialist*innen für künstliche Intelligenz. Offene Grenzen, der | |
Austausch mit ausländischen Unternehmen, aber auch junge Teams machten die | |
Arbeit dabei attraktiv. Das ist nun vorbei. | |
Die oft jungen und gut ausgebildeten Spezialist*innen fürchten um ihre | |
Entwicklung im Land. Es sind nicht nur politische Verhärtungen, die bis zur | |
Abriegelung des Internets führen könnten. Es ist auch die Technik aus dem | |
Ausland, die nun fehlt. Wegen der Sanktionen kommen die | |
Entwickler*innen nicht mehr an die in westlichen Ländern gefertigten | |
Komponenten wie beispielsweise Halbleiter heran. Die Lieferketten sind | |
unterbrochen oder ganz eingestellt. Westliche Tech-Riesen wie Apple, | |
Microsoft, Cisco [2][haben das Land verlassen]. So manch russisches | |
IT-Unternehmen sucht deshalb nach Co-Working-Spaces außerhalb Russlands, | |
eine russische Firmenadresse ist mittlerweile toxisch. | |
Manche Firmen charterten deshalb bereits Anfang März Flugzeuge und ließen | |
ganze Belegschaften außer Landes bringen. One Way. Vor allem junge und | |
ungebundene Menschen, ohne Hypotheken und Haustiere, nutzten diese | |
Möglichkeit. Viele junge Männer hatten schlicht Angst, eingezogen zu werden | |
und in einem Krieg zu kämpfen, den sie barbarisch und sinnlos finden. Sie | |
programmieren nun woanders. | |
„Unsere Branche ist innerhalb weniger Tage in eine tiefe Krise geraten“, | |
sagt Roman Stez, der mit seinem Start-up Stets Media in Twer, einer Stadt | |
160 Kilometer nördlich von Moskau, an Modellen erweiterter Realität | |
arbeitet. Er ist vorerst geblieben. Ein anderer Programmierer, der seinen | |
Namen nicht öffentlich machen will, weil er eine Ausreise plant, meint: | |
„Wir fallen auf Anfang der 90er Jahre zurück, und viel Eigenes haben wir | |
nicht. Die IT-Branche ist auf internationale Zusammenarbeit angewiesen. | |
Klar, dass viele von uns gehen wollen. Woanders ist einfach mehr Freiheit.“ | |
Der aufstrebenden russischen IT-Branche droht der Ruin. | |
Und so klammert sich die russische Führung geradezu an die „Aitischniki“, | |
wie die ITler im Russischen genannt werden. Bereits Anfang März hatte der | |
russische Präsident Wladimir Putin einen Ukas unterschrieben, wonach | |
Fachkräfte in der IT-Branche vom Militärdienst befreit würden. Zudem sollen | |
IT-Unternehmen von der Gewinnsteuer und staatlichen Überprüfungen für drei | |
Jahre ausgenommen werden. Russ:innen, die in der IT-Branche arbeiten, | |
können sich um günstige Kredite für Immobilien und einige Stipendien | |
bewerben. Moskau, der digitale Vorreiter Russlands, verdreifachte zudem | |
seine Subventionsprogramme für IT-Start-ups. | |
Patriotisch gesinnte Russ*innen fordern dagegen andere Maßnahmen: | |
IT-Expert*innen sollen erst mit einer Genehmigung des russischen | |
Geheimdienstes FSB ins Ausland reisen dürfen. Gerade auch solche Drohungen | |
führen dazu, dass sich junge Menschen aus der IT-Branche ins Ausland | |
absetzen. Die sich ausweitende Kontrolle des Staates schränkt sie immer | |
stärker ein. | |
Die meisten zieht es in die als IT-Hubs bekannten Länder wie Tschechien, | |
Serbien, Montenegro oder Kroatien. Viele gehen auch nach Armenien und | |
Georgien, weil sie dafür kein Visum brauchen. In Telegram-Chats wie „IT-Job | |
in Armenien“ oder „IT Georgien“ tauschen sich die IT-Exilant*innen über | |
Wohnungssuche, Kontoeröffnung und die Transportmöglichkeiten von wichtigen | |
Dokumenten aus. Einige, die in Russland bleiben, aber nicht bleiben wollen, | |
lassen sich derweil zum Informatiker umschulen. | |
„Als IT-lerin habe ich einfach mehr Chancen im Ausland, deshalb pauke ich | |
nun abends, lerne an einer Onlineschule Programmieren“, erzählt Albina, die | |
nicht namentlich genannt werden will. Sie ist Mitte zwanzig und eigentlich | |
Eventmanagerin aus Moskau. „Das heutige Russland bietet jungen Leuten keine | |
Zukunft“, sagt sie. | |
29 Apr 2022 | |
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## AUTOREN | |
Inna Hartwich | |
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