# taz.de -- Lage in der ukrainischen Hauptstadt: „Das sind alles Lügen“ | |
> Kiew erlebt das Gegenteil dessen, was Russland bei den Verhandlungen | |
> angekündigt hatte. Statt Rückzug wird die Hauptstadt weiter beschossen. | |
Bild: Eine 82-Jährige nach der Evakuierung aus der Stadt Irpin am 30. März, b… | |
Kiew taz | Es ist schon interessant, dass die Russen mit so viel Lärm | |
abziehen, oder helfen ihnen unsere Soldaten etwa dabei, damit es schneller | |
geht?“, wundert sich der Rentner Petr Iwanowitsch, der auf seinem Balkon | |
eine Zigarette raucht. Es ist Dienstagabend. In der Ferne ist Donner zu | |
hören, in den nördlichen und östlichen Außenbezirken von Kiew wird | |
gekämpft. Es klingt, als schlüge jemand mit einem Hammer auf eine | |
Betonwand. „Hört sich an, als ob Panzer schießen würden. Ihre oder unsere�… | |
sinniert der Rentner und fügt hinzu: „Den Russen zu vertrauen heißt, sich | |
selbst nicht zu respektieren.“ | |
Ungeachtet der Tatsache, dass die russische Seite als Ergebnis der | |
Verhandlungen mit der Ukraine in Istanbul am Dienstag ihre Absicht | |
verkündigt hat, [1][„die militärischen Aktivitäten in den Regionen Kiew und | |
Tschernihiw erheblich zu reduzieren“], dauern die Kämpfe um Kiew die ganze | |
Nacht und den nächsten Morgen danach an. „Es gibt keinen Rückgang der | |
militärischen Aktivitäten in der Nähe von Kiew. Die ganze Nacht lang wurde | |
dort gekämpft. Daher können wir derzeit nicht feststellen, dass die Russen | |
die Intensität der Feindseligkeiten in dieser Richtung verringern“, sagt | |
der Berater des ukrainischen Innenministers, Vadim Denisenko, am | |
Mittwochmorgen. | |
Auch die Kiewer*innen sind misstrauisch gegenüber [2][Russlands | |
angeblichen Zusagen]. Ohnehin hat hier niemand großes Vertrauen in die | |
Verhandlungen gesetzt. Gleichzeitig betrachten viele in der Ukraine eine | |
solche radikale Veränderung der russischen Rhetorik gegenüber Kiew jedoch | |
als ein Eingeständnis der Niederlage. „Am Anfang haben sie angekündigt, | |
dass sie Kiew in zwei bis drei Tagen einnehmen würden. Jetzt sagen sie | |
bereits, dass sie die Intensität der Kämpfe um Kiew herum reduzieren | |
werden. Das ist lächerlich! Und es bedeutet nur eines: Bei dem Versuch, | |
Kiew zu stürmen, sind so viele russische Soldaten gestorben, dass sie | |
einfach nicht mehr die Kraft haben, die Hauptstadt einzunehmen“, glaubt | |
Wjatscheslaw aus Kiew. Seiner Meinung nach ist das Scheitern der russischen | |
Offensive ein großer Erfolg für die ukrainische Armee. | |
Das sieht auch der Freiwillige Witali so. Russlands Begründung, die | |
militärischen Aktivitäten würden verringert, um das gegenseitige Vertrauen | |
zu stärken, hält er für einen Bluff. „Die russische Führung muss dieses | |
Scheitern vor der eigenen Bevölkerung legitimieren. Ihre Propaganda wird | |
diese Niederlage in eine Geste des guten Willens umdeuten. Tatsächlich | |
handelt es sich aber um eine Fehleinschätzung der russischen | |
Militärführung, die Tausende Menschen das Leben gekostet hat“, sagt Witali. | |
Vor einer Bäckerei in Kiew stehen die Menschen nach Brot an. Auch hier sind | |
die Verhandlungen in Istanbul vom Dienstagabend Gesprächsthema. „Alle | |
russischen Äußerungen sind reiner Quatsch. Die Russen haben nach den | |
Kämpfen in der Kiewer Region einfach große Probleme mit ihrem Personal und | |
mit ihrer Ausrüstung. Wahrscheinlich werden alle diese Truppen rotieren und | |
woanders zusammengezogen. Und dann schlagen sie wieder zu. Darauf müssen | |
wir vorbereitet sein“, sagt ein Mann. | |
## Angriff auf die Schlüsselstädte | |
Auch ein anderer Mann, der sich als Georgier zu erkennen gibt, schaltet | |
sich ein. „Das sind alles Lügen! Solange wir sie nicht von unserem | |
Territorium vertreiben, wird das nicht aufhören. Russland kann man nicht | |
trauen. In den vergangenen acht Jahren haben wir das oft erfahren müssen“, | |
sagt er. | |
Niemand zweifelt daran, dass sich die russischen Truppen jetzt auf die | |
Gebiete Luhansk und Donezk konzentrieren werden. Dort werden die | |
Luftangriffe von Tag zu Tag intensiver. Die Städte Sewerodonetsk, | |
Lisichansk, Awdeewka, Marinka und Krasnogorow, die ukrainische Truppen | |
bereits 2014/15 von den prorussischen Kämpfern der „Volksrepubliken“ Donezk | |
und Luhansk zurückerobert hatten, werden dem Erdboden gleichgemacht. Dies | |
alles sind die Schlüsselstädte, die die Kämpfer der selbst ernannten | |
Republiken besetzen wollen, um schließlich die gesamten Regionen Luhansk | |
und Donezk unter ihre Kontrolle zu bringen. Nach Angaben des | |
Verteidigungsministeriums der Ukraine kontrollieren die Kämpfer bereits 70 | |
Prozent der Region Lugansk und 60 Prozent der Region Donezk. | |
Die Autorin war Teilnehmerin eines Osteuropaworkshops der taz Panter | |
Stiftung. | |
Aus dem Russischen: Barbara Oertel | |
30 Mar 2022 | |
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## AUTOREN | |
Anastasia Magasowa | |
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