# taz.de -- Nachdenken über Gut und Böse: Sind wir die Guten, Opa? | |
> Manche Leute wollen Gutes – und tun Böses. Warum die Welt auch mit | |
> einiger Lebenserfahrung und einem Haufen Bücher nur schwer zu verstehen | |
> ist. | |
Bild: Ausruhen auf einer Parkbank: der fünfjährige Evgenii nach der Evakuieru… | |
Da fragst du mich was. Bloß weil ich alt bin und einen Haufen Bücher habe, | |
heißt das nicht, dass ich die Welt besser verstehe als du. Höchstens, dass | |
ich mehr darüber weiß, warum es so schwer ist, die Welt zu verstehen. | |
Nein, ich will mich nicht drücken. Es gibt da so ein Minigedicht von Erich | |
Kästner, den kennst du ja. „Es gibt nicht Gutes. Außer man tut es.“ Mit | |
einem Punkt dazwischen. | |
Was das heißt? Vielleicht so: Es gibt Leute, die etwas Gutes tun. Aber das | |
heißt nicht, dass alle drumherum die Guten sind. Es kann sogar sein, dass | |
die Leute, die auf die zeigen, die etwas Gutes tun, und sagen: „Da seht ihr | |
es! Dass wir die Guten sind“, eben ganz und gar keine Guten sind. Und wenn | |
einer so furchtbar Böses tut, heißt das nicht, dass die anderen automatisch | |
die Guten sind. | |
Ich meine, es kommt vielleicht nicht so darauf an, zu den Guten zu gehören, | |
sondern eher darauf, das Gute zu tun. Weißt du, was ich glaube? Viele von | |
denen, die böse Dinge tun, sind überzeugt davon, dass sie was Gutes machen. | |
Und manche von denen, die unbedingt zu den Guten gehören wollen, sind | |
bereit, etwas Böses zu tun, damit die Bösen bestraft werden. Man „gehört“ | |
nicht zu den Guten, man muss jeden Tag entscheiden, das Gute zu tun, oder | |
wenigstens das Böse zu lassen. | |
Ja, stimmt. Ich war bei den Ostermarschierern, ich war ein Hippie, ein | |
68er, sogar ein Punk und dann ein Ökofreak. Jetzt bin ich ein Altlinker. | |
Ich wollte eben immer bei den Guten sein. Jedenfalls war ich so immer bei | |
den Verlierern. Verzeih, manchmal muss ich über mich selbst lachen. Aber im | |
Ernst: Man muss vorsichtig sein mit Menschen, die ganz genau wissen, dass | |
sie die Guten sind. Wir, die Guten, gegen die anderen, die Bösen. So fängt | |
der Schlamassel immer an. | |
Helden und Heldinnen, das sind für mich die Menschen, die mittendrin im | |
Bösen stecken und die sagen: Da mache ich nicht mit! Das Böse nicht tun, | |
auch wenn es alle anderen tun. Das ist so schwer. Und so notwendig. Ein | |
Mensch, der sich weigert, das Böse zu tun, auch wenn es um das eigene Leben | |
geht, der ist mehr wert als tausend Leute, die schreien: Wir sind die | |
Guten! | |
Nein, ein Mensch allein kann das Böse nicht in die Welt bringen. Und keiner | |
führt einen Krieg allein. Er braucht Menschen, die ihn bewundern, die für | |
ihn lügen, die für ihn [1][töten und morden]. Und noch mehr Menschen, die | |
sich verstecken, die mitmachen, die ihm glauben oder aus Angst stillhalten. | |
Und er braucht Menschen, die ihn bezahlen, die ihm die Waffen und die | |
Gefängnisse bauen liefern. | |
Man kann fragen: Warum ist dieser eine Mensch so böse? Aber wichtiger ist | |
die Frage: Warum haben so viele Menschen ihm geholfen, warum glauben sie, | |
dass es gut ist, böse zu sein? Warum sagen sie nicht „Nein“ zu einer Zeit, | |
wo es noch möglich wäre? | |
Wie das möglich ist, dass wir von den Bösen immer noch Gas und Strom | |
kaufen? Weil es zuerst immer um das Nützliche geht. Wenn Leute etwas Böses | |
tun oder sagen, die für andere Leute nützlich sind, dann schauen auch die, | |
die meinen, sie sind die Guten, gern über das Böse hinweg. Und wenn das | |
Nützliche wichtiger ist als das Gute, dann sind die, die meinen, [2][sie | |
sind die Guten], total überrascht, wenn die Bösen dann nicht mehr nur die | |
Bösen sind, sondern auch sehr, sehr böse Dinge tun. Wir haben nichts Gutes | |
getan, wir haben nur darauf geschaut, was das Nützliche für uns ist. | |
## Solche Leute gibt es auch bei uns | |
Klar, kann man jemandem, der etwas Böses getan hat, auch einmal verzeihen. | |
Wenn man nicht verzeihen kann, kann man gar nicht miteinander leben. Aber | |
ich glaube ehrlich gesagt, dass es auch Dinge gibt, die unverzeihlich sind. | |
Mit Leuten, denen das Leiden und das Sterben von Menschen egal ist, weil | |
sie irgendeine Idee im Kopf haben, kann man nicht reden. Aber solche Leute | |
gibt es auch bei uns. Wenn man dem Guten eine Chance geben will in der | |
Welt, dann muss man auch dafür sorgen, dass die Bösen nicht davonkommen mit | |
dem, was sie getan haben. | |
Die, die jetzt zu den Guten gehören wollen, die haben vorher Menschen | |
ertrinken und verhungern lassen, bloß weil sie die falsche Hautfarbe gehabt | |
haben und aus der falschen Gegend der Welt gekommen sind. Und die, die | |
„Willkommen“ zu den neuen Flüchtlingen sagen, rechnen uns jetzt schon vor, | |
wie sie nützlich sein können, und wer zahlen soll, wenn sie es nicht gleich | |
sind. Und die, die reich sind, werden durch den Krieg noch reicher, und die | |
Armen werden noch ärmer, [3][weil man jetzt Geld für das Militär braucht]. | |
Weißt du, wenn man glaubt, zu den Guten zu gehören, dann merkt man manchmal | |
einfach nicht mehr, wo das Böse in der eigenen Welt steckt. Dann meint man | |
vielleicht, alles ist gut, was gegen das Böse ist. Und dann sind die, die | |
gestern noch die Bösen waren, auf einmal die Guten, bloß weil sie gegen das | |
andere Böse sind. Es ist Politik, klar. Und da geht es nicht nur um das | |
Gute, sondern auch um das Mögliche, das Nützliche, das Vernünftige. Aber | |
wenn man sagt „Wir sind die Guten“ muss man sehr gut aufpassen, wer alles | |
zu diesem „Wir“ gehören will. | |
Wo das Böse anfängt? Ich weiß es nicht. In einem Erwachsenenroman von Erich | |
Kästner endet die Geschichte damit, dass ein Mann, der es immer wieder mit | |
dem Gutsein probiert hat, in einen Fluss springt, um ein Kind zu retten. | |
Und da erst fällt ihm ein, dass er gar nicht schwimmen kann. Das Kind wird | |
trotzdem gerettet, aber der Mann ertrinkt. | |
Was das bedeutet? Eines bestimmt: Dass es auch auf das Gut-sein-Können | |
ankommt. Nirgendwo auf der Welt wäre es so leicht, das Gute zu tun wie bei | |
uns. Und nirgendwo wird es so wenig getan. Weil man hier zu den Guten | |
gehören will, aber auf keinen Fall zu den Verlierern. | |
Ich habe es ja gleich gesagt. Ich weiß auch nicht viel mehr als du. Ich bin | |
genauso traurig. Genauso zornig. Und will das Gute tun, ohne zu denen zu | |
gehören, die glauben, sie sind die Guten. | |
30 Mar 2022 | |
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