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# taz.de -- Geflüchtete in Schneeberg: Nur ein bisschen Würde
> In einem maroden Heim im Erzgebirge sind Hunderte Geflüchtete
> untergebracht. Die Menschen sind frustriert und warten darauf, wegziehen
> zu dürfen.
Bild: Die Unterkunft in Schneeberg sollte schon mehrfach geschlossen werden
Schneeberg taz | Fünf Menschen trotten über das abgeerntete Feld den Hang
hinab und verschwinden hinter dem nächsten Hügel. In ungefähr 40 Minuten
erreichen sie den Supermarkt im Nachbarort Zschorlau. Sie wohnen in der
Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete, die isoliert am Ortsrand von
Schneeberg liegt, einer kleinen Gemeinde im Erzgebirge. Hier fährt kein
Bus, hier gibt es keinen Supermarkt um die Ecke.
Die drei vierstöckigen Gebäuderiegel der ehemaligen Kaserne liegen hinter
einem hohen Zaun, der oben mit Stacheldraht versehen ist. Am Eingang scannt
der Sicherheitsdienst die Unterkunftsausweise zurückkehrender
Bewohner:innen, durch die Drehtür betreten diese das abgeriegelte Gelände.
Dann Taschenkontrolle: Alkohol und Drogen dürfen nicht mitgebracht werden,
genauso wenig wie Teppiche oder Fernseher.
Aktuell sind um die 630 Geflüchtete aus Syrien, Afghanistan, dem Irak oder
Libyen in Schneeberg untergebracht. Niemand [1][aus der Ukraine] – nicht
mehr. Anfang März waren zwar 138 Ukrainer:innen in Schneeberg
angekommen, aber „sie haben wegen der schlechten Umstände vor dem Gebäude
protestiert und sich geweigert zu essen“, so beschreibt es Sara Awad, die
seit mehreren Wochen in der Unterkunft wohnt. Nach wenigen Tagen seien sie
mit Bussen in eine Unterkunft nach Chemnitz gebracht worden. „Ihre
Beschwerden wurden erhört und bei uns wird sogar die Bitte nach einem
Klempner ignoriert.“
Viele warten hier fünf, sechs, zwölf Monate auf ihr Interview mit dem
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und darauf, in eine bessere
Unterkunft umziehen zu können. Dabei sind in Sachsen eigentlich nur maximal
drei Monate in einer Erstaufnahmeeinrichtung vorgesehen.
Seit der Abfahrt der Ukrainer:innen wächst unter den verbleibenden
Bewohner:innen der Unmut über die Situation in Schneeberg. Viele fühlen
sich ungerecht behandelt, weil sie monatelang in der unbeliebten Unterkunft
ausharren müssen. Dave Schmidtke vom Sächsischen Flüchtlingsrat haben
seitdem mehr Beschwerden erreicht: „Die Menschen sehen, dass es auch anders
geht. Viele Ukrainer:innen wurden hier innerhalb eines Tages versetzt.
Dadurch wächst die Frustration unter den Bewohner:innen, die schon lange
darauf warten.“
Sara Awad steht vor der Unterkunft auf der Straße, ihre schwarzen Haare hat
sie im Nacken zusammengebunden. Sie trägt Lippenstift, der farblich auf
ihren lila Pulli abgestimmt ist. Eigentlich heißt Sara Awad anders, aus
Sorge, dass ihre Schilderungen ihr Asylverfahren negativ beeinflussen
könnten, werden ihr richtiger Name und ihre Nationalität hier nicht
genannt. Hinter dem Zaun hat sich vor dem mittleren Gebäude eine Traube aus
Menschen gebildet. „Heute ist Taschengeldtag“, erklärt sie. Am Morgen hät…
sie auch schon mehrere Stunden angestanden, um die 80 Euro abzuholen, die
sie wöchentlich für sich und ihre zwei Kinder bekommt.
Von den 80 Euro bezahlt sie Hygieneartikel oder eine Fahrt nach Chemnitz.
Das meiste Geld gehe aber für Lebensmittel drauf, die sie dazukaufen muss.
„Sonst gehen meine Kinder hungrig ins Bett. Die Portionen sind viel zu
klein und Nachschlag bekommen wir auch nicht“, sagt sie. Morgens und abends
gebe es ein paar Scheiben Toast mit Butter und Marmelade. Ein Foto des
Mittagessens zeigt eine Portion Kartoffeln mit Erbsen und einem kleinen
Stück paniertem Fleisch. Die Aluform, in der es serviert wird, ist nur zur
Hälfte gefüllt.
## Ungleiche juristische Lage sorgt für Frust
Um sich ein Bild über die Lage vor Ort zu machen, ist Dave Schmidtke mit
zwei Kolleg:innen, die dolmetschen, nach Schneeberg gefahren. Sie verteilen
Visitenkarten, weisen die Geflüchteten auf ihre Rechte hin und bieten Hilfe
beim Ausfüllen des Transferantrags an. Schnell bildet sich eine große
Menschengruppe um die drei, der Bedarf an Beratung ist riesig.
Normalerweise kommen pro Woche zwei Mitarbeiter:innen des Bundesamts
für Migration und Flüchtlinge nach Schneeberg und vergeben für den Tag 40
Termine. Schmidtkes Kollege erzählt, dass sich Bewohner:innen teilweise
um 3 Uhr nachts in die Schlange stellen, um morgens einen Slot zu
ergattern.
„Auch die ungleiche juristische Lage sorgt für Frustration“, sagt
Schmidtke. Die Ukrainer:innen könnten sich nach ihrer Registrierung eine
Arbeit suchen oder Sozialhilfe beantragen. Nachdem die Taliban im August
2021 die Macht in Afghanistan übernommen hatten, seien hingegen lediglich
Abschiebungen nach Afghanistan gestoppt worden, eine Aussicht auf
Familiennachzug gebe es zum Beispiel nicht.
Sara Awad freut sich für die Ukrainer:innen über die Solidarität, die
ihnen entgegengebracht wird. Auch Schmidtke betont, dass die schnell
[2][umgesetzten Hilfeleistungen für die Ukrainer:innen richtig] und
wichtig seien. Trotzdem stelle sich die Frage, warum ähnliche Maßnahmen
nicht schon in den vergangenen Jahren ergriffen wurden, warum viele
Geflüchtete beispielsweise nicht arbeiten dürften. Für Schmidtke bleibt
deshalb ein „bitterer Beigeschmack“ zurück.
Auch im Schneeberger Alltag seien die Ukrainer:innen bevorzugt worden,
erzählt Awad. Sie ist aufgebracht und ihre Liste lang: Einen Tag vor ihrer
Ankunft hätten plötzlich Kaffee und Tee beim Frühstück gestanden. Zuvor
habe es nur heißes Wasser an der Rezeption gegeben. Die Ukrainer:innen
hätten im Gegensatz zu ihr neue, saubere Bettwäsche bekommen. Container mit
Duschen und Toiletten wurde vor ihrem Gebäude aufgebaut. Awad teile sich
mit den 30 anderen Frauen auf ihrem Stockwerk plus Kindern derzeit zwei
ramponierte Toiletten. Eine Kabinentür ließe sich nicht mehr schließen,
eine der Klobrillen sei gebrochen. Die übrigen Toiletten und auch die
Mehrzahl der Waschbecken seien seit Monaten defekt. Ihre Bitte nach einem
Klempner wäre noch nicht erfüllt worden. Sie wischt durch Fotos mit
randvollen, verstopften Kloschüsseln und Waschbecken.
## Schlechte Versorgung mit Absicht?
Die für die Unterkunft in Schneeberg zuständige Landesdirektion Sachsen
weist die Vorwürfe auf Anfrage zurück: „In den Unterkünften der sächsisch…
Erstaufnahmeeinrichtungen gilt der Gleichbehandlungsgrundsatz. Das heißt,
alle Flüchtlinge werden – unabhängig von ihrer Herkunft – gleich
behandelt.“ Über defekte Sanitäranlagen seien sie nicht informiert.
Schmidtke vermutet Absicht hinter der schlechten Versorgung: „Sie glauben,
dass einige dadurch in ihre Heimatländer zurückgehen.“ Die Transfers in
bessere Unterkünfte hätten in den letzten Jahren schneller erfolgen können,
wenn mehr Wohnungen zur Verfügung gestellt worden wären. „Den Platz haben
wir in Sachsen, aber Schneeberg ist billig und hier können viele Leute an
einem Ort untergebracht werden“, erklärt er. Mehrfach sollte die Unterkunft
schon geschlossen werden, aber im Endeffekt „scheitert es am politischen
Willen, die Lage für die Menschen zu verbessern“.
Stattdessen sei die Situation jetzt chaotisch. Damit die Ukrainer:innen
Schneeberg verlassen konnten, mussten um die 200 Geflüchtete aus einer
Unterkunft in Chemnitz stattdessen nach Schneeberg verlegt werden. Nach
ihrer Zustimmung werden Geflüchtete generell nicht gefragt. Sie erhalten
die Nachricht per Brief oder finden ihren Namen auf einer aushängenden
Transferliste.
Laut Landesdirektion Sachsen sei dieser Tausch nötig gewesen, um die
ukrainischen Geflüchteten gemeinsam in Chemnitz unterzubringen. Dies habe
auch organisatorische Gründe, wie die schnelle Registrierung der Menschen
aus der Ukraine. Man habe einen Teil der Ukrainer:innen zuerst nach
Schneeberg gebracht, weil in Chemnitz vorerst nicht genügend Platz war.
Proteste der Ukrainer:innen gegen die Unterbringung in Schneeberg seien
der Landesdirektion hingegen nicht bekannt.
## Gefühl der Ungleichbehandlung
Ein solches Umhergeschiebe findet nicht nur in Sachsen statt.
Deutschlandweit werden Unterkünfte geräumt und Menschen verlegt, um Platz
für Ukrainer:innen zu schaffen, so auch in Berlin. Eine Sprecherin des
Berliner Landesamts für Flüchtlingsangelegenheiten nennt dafür logistische
Gründe. Es sei praktischer, wenn Unterkünfte nur von Ukrainer:innen
bewohnt würden, weil diese zum Beispiel Windeln, Babynahrung oder
Menstruationsprodukte bräuchten – Artikel, die normalerweise nicht auf
Einkaufslisten von Geflüchtetenunterkünften stünden, weil in den letzten
Jahren überwiegend Männer nach Deutschland geflohen sind. Auch der
Weitertransport per Bus in andere Bundesländer sei dadurch einfacher, weil
dieser dann nicht verschiedene Unterkünfte abklappern müsse. Es sind
einleuchtende Gründe, die den umverteilten Geflüchteten allerdings nicht
kommuniziert werden.
Ähnlich wie Schmidtke beobachtet auch Günter Burkhardt, Geschäftsführer von
Pro Asyl, die Räumungen der Unterkünfte mit Sorge. Sie könnten den Zugang
zu Sprachkursen erschweren, für Kinder könnten sie einen Schulwechsel
bedeuten. Das könne „fatal“ sein für die nachhaltige Integration der
Menschen, die vor längerer Zeit hierher geflohen seien. Burkhardt warnt
davor, dass Räumungen Unmut und das Gefühl schüren, „dass sich
Zugangschancen zu Wohnungen und Integration in Deutschland nach Hautfarbe
oder Herkunft richten. Das ist inakzeptabel und sozialpolitisch falsch.“
Bei Sara Awad hat der Austausch der Bewohner:innen in Schneeberg das
Gefühl ungleicher Behandlung bereits geweckt. Denn die Ukrainer:innen
hätten das Privileg, in der besseren Unterkunft in Chemnitz untergebracht
zu sein. „Wir sind alle Menschen, das ist nicht fair“, sagt sie leise. Es
gehe ihr nicht darum, in einer schicken Unterkunft zu wohnen, sondern nur
„um ein bisschen Würde“. Zum Beispiel darum, die Toilettentür schließen
zu können.
12 Apr 2022
## LINKS
[1] /Deutsche-Behoerden-entziehen-Paesse/!5845005
[2] /Flucht-aus-der-Ukraine/!5844707
## AUTOREN
Sophie Fichtner
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