Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Nazis in der Bundesrepublik: Mord in Odessa
> Wofür der Code „Odessa“ nach 1945 stand, ist umstritten. Womöglich
> organisierten sich in der „Organisation der ehemaligen SS-Angehörigen“
> Altnazis.
Bild: Strassenszene aus Odessa, 30. März 2022
Am 3. Juli 1946 schrieb der Emigrant Otto Urbach einen Geheimdienstbericht
mit der Betreffzeile: Subversive Organisation von entlassenen SS-Gefangenen
„ODESSA“.
Urbach war nie in seinem Leben in Odessa gewesen und auf den ersten Blick
schien sein Bericht in keinem Zusammenhang mit der ukrainischen Stadt zu
stehen. Tatsächlich gibt es bis heute zwei Theorien, warum SS-Männer
ausgerechnet den Name Odessa benutzten: Entweder war es eine Abkürzung oder
man meinte die Stadt selbst.
Für Otto Urbach bedeutete der Odessa-Bericht reine Routine. Er arbeitete
für das Counter Intelligence Corps (CIC), die amerikanische Gegenspionage.
Seine Aufgabe lautete, Kriegsverbrecher aufzuspüren. Von denen gab es 1946
in Deutschland genug und Urbach hatte gute Gründe, sie zu suchen.
Er kam ursprünglich aus Wien, und dort hatte Gauleiter Baldur von Schirach
1942 dafür gesorgt, dass ein Großteil von Urbachs Verwandtschaft in die
Vernichtungslager im Osten abtransportiert wurde. Schirach bekam für seinen
Massenmord 20 Jahre Gefängnis. Seinen Mittätern erging es noch besser,
viele von ihnen konnten untertauchen. Sie wurden dabei von SS-Netzwerken
unterstützt, die Essen, Unterkunft und Papiere besorgten. Urbachs
Geheimdienstbericht von 1946 betraf genau so ein SS-Netzwerk.
## Odessa als Codewort
SS-Männer benutzten das Codewort „Odessa“, um an Verpflegung heranzukommen.
Der Bericht löste eine lange Kette von Nachforschungen aus. Mehrere geheime
Hilfsorganisationen wurden in den darauffolgenden Monaten entdeckt, die
ständig ihre Namen wechselten. Sie nannten sich „Skorzeny“, „Scharnhorst…
oder „Leibwache“. Mit all diesen Namen verbanden SS-Männer etwas Positives.
Aber warum hatten sie Odessa als Codewort gewählt? Was war daran positiv?
[1][Der Nazijäger Simon Wiesenthal hatte eine Theorie.] Er glaubte, es
handle sich um eine Abkürzung und stünde für „Organisation der ehemaligen
SS-Angehörigen“ (Odessa).
Bis heute ist unklar, auf welchem Weg Wiesenthal überhaupt von dem
Odessa-Bericht erfuhr. Otto Urbach hatte ihn zwar 1946 geschrieben, aber er
war geheim und wurde erst im Jahr 2000 freigegeben.
Ein Grund, warum der Bericht aber schon früh an Wiesenthal durchsickerte,
lag in den vielen jüdische CIC-Mitarbeitern. Sie waren entsetzt über die
Kooperation ihrer Vorgesetzten mit Alt-Nazis. Im Kalten Krieg machten die
jetzt plötzlich [2][Deals mit Kriegsverbrechern wie Klaus Barbie.]
## Netzwerke schleusen Nazis außer Landes
Um diese Deals zu behindern, gaben jüdische CIC-Agenten Informationen
diskret an Wiesenthal weiter. Und er erzählte dem britischen Journalisten
Frederick Forsyth von „Odessa“. Forsyth wiederum schmückte die Geschichte
aus und macht daraus seinen Besteller „Die Akte Odessa“. Er beschrieb darin
eine geheime NS-Organisationen namens Odessa, die Kriegsverbrechern die
Flucht nach Südamerika ermöglicht. Und natürlich war genau so etwas seit
1945 geschehen. Nazi-Netzwerke hatten Ihre Mittäter ins Ausland
geschmuggelt, [3][Adolf Eichmann inklusive.]
Aber eine Frage blieb weiterhin offen. Stand Odessa wirklich für die
komplizierte Bezeichnung „Organisation der ehemaligen SS-Angehörigen“, wie
Wiesenthal und Forsyth glaubten?
Tatsächlich gibt es eine andere, sehr viel plausiblere Erklärung: Es ging
um die Stadt Odessa: SS-Männer sind für ihren makaberen Humor bekannt, und
die Stadt Odessa bedeutete in ihren Augen etwas sehr Positives: Im Oktober
1941 hatten rumänische Truppen unter deutscher Führung 25.000 Juden im
Massaker von Odessa erschossen und verbrannt.
Danach hatte man diese „erfolgreiche“ Mord-Kooperation fortgesetzt und in
der Umgebung Odessas über 100.000 Juden umgebracht. Der Name Odessa stand
also für eine Tat, auf die man stolz war.
Die Bewohner von Odessa sind heute wieder bedroht. Man kann nur hoffen,
[4][dass Putin damit nicht davonkommt], anders als so viele Mörder vor ihm.
5 Apr 2022
## LINKS
[1] /Film-ueber-Oesterreich-der-Nachkriegszeit/!5549935
[2] /Memorial-de-la-Shoah-Ausstellung-in-Paris/!5407255
[3] /Nachruf-auf-Gabriel-Bach/!5836428
[4] /Putins-Krieg-und-die-Folgen/!5835282
## AUTOREN
Karina Urbach
## TAGS
Kolumne Blast from the Past
Schwerpunkt Nationalsozialismus
Deutsche Geschichte
Geschichte
Schwerpunkt Nationalsozialismus
Odessa
Kolumne Blast from the Past
Wien
Kolumne Blast from the Past
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Kolumne Blast from the Past
Kolumne Blast from the Past
## ARTIKEL ZUM THEMA
Die Grenzen des britischen Stoizismus: Aufräumen nach der Party
Buhrufe für Boris Johnson – von konservativer Seite. Ist das ein Omen, dass
es ihm schon bald ähnlich ergehen könnte wie einst Margaret Thatcher?
Jewish Welcome Service Wien: Versöhnung mit Wien
Der Jewish Welcome Service ließ sich in Wien auch durch Attentate nicht
aufhalten. Heute ist er eine wichtige Institution.
Scholz will kein Held sein: Held oder Heizung?
Pinya, Scholz, Selenskyj: Parallelen zwischen literarischen Helden und
heutigen Staatschefs.
Putins Krieg und die Folgen: Ein Fall für Medizinhistoriker?
Putin könnte die Folgen seines Einmarsches in der Ukraine unterschätzt
haben, sein Schicksal könnte in Teilen jenes von Anthony Eden wiederholen.
Historische Zeitungen online: Digitalisiert unsere Vergangenheit
Im Internet gibt es 24 Millionen historische Zeitungsseiten aus Österreich
kostenlos zu lesen. Doch in Deutschland sperrt man sich gegen Transparenz.
Filmschaffende im Kalten Krieg: Nicht jeder war, was er vorgab
Der deutsche Nachkriegsfilm „Wir Wunderkinder“ war ein globaler Erfolg.
Doch viele Mitspielende mussten ihre Vergangenheit vertuschen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.