| # taz.de -- Film über Österreich der Nachkriegszeit: Die Verklärung des Mord… | |
| > Der Spielfilm „Murer – Anatomie eines Prozesses“ zeigt Abgründe der | |
| > Nachkriegspolitik. Die Ahndung von NS-Verbrechen wurde politisch | |
| > behindert. | |
| Bild: Karl Fischer (Mitte) spielt den NS-Verbrecher Murer | |
| Graz, Juni 1963: Kleiderprobe einen Tag vor der Eröffnung der | |
| Hauptverhandlung gegen Franz Murer. Murer wird zur Last gelegt, als | |
| Stellvertreter des Gebietskommissars von Wilna zentral verantwortlich | |
| gewesen zu sein für die Ermordung und Deportierung der Jüdinnen und Juden | |
| von Wilna. | |
| Zufrieden betrachtet Murers Verteidiger seinen Mandanten: „Glauben Sie mir, | |
| Frau Murer, eine abgewetzte Tracht – das ist Arbeit, das ist Heimat.“ Der | |
| Anzug hingegen, den Murer vorher an hatte: „zu feierlich, zu städtisch und | |
| vor allem – keine Abzeichen. Was ist, wenn unter den Geschworenen Sozis | |
| sind?“ | |
| Am nächsten Tag wird noch geschwind das Kruzifix gefeudelt, dann öffnen | |
| sich die Türen und die Zuschauerbänke füllen sich. Die Geschworenen werden | |
| noch einmal über ihre Aufgaben informiert, die Anklage wird verlesen. | |
| Christian Froschs Film „Murer – Anatomie eines Prozesses“ beginnt mit ein… | |
| Rekonstruktion auf der Basis der Gerichtsprotokolle des Prozesses gegen | |
| Franz Murer 18 Jahre nach Kriegsende. 1948 wurde Murer in der Sowjetunion | |
| wegen seiner Taten in Wilna verurteilt und 1955 im Rahmen eines | |
| Staatsvertrags an Österreich überstellt unter der Auflage, dass ihm in | |
| Österreich der Prozess gemacht wird. | |
| ## Anwälte stellten ihn als bloßen Angestellten dar | |
| Das geschah jedoch nicht. Erst auf Intervention Simon Wiesenthals begannen | |
| die Mühlen der österreichischen Justiz Bewegung zu simulieren. Der Prozess | |
| gegen Murer ist Teil einer Reihe von Geschworenengerichtsprozessen zu | |
| NS-Verbrechen, die seit Ende der 1950er Jahre stattfinden. | |
| Murers Verteidigung setzt darauf, wieder und wieder eine mögliche | |
| Verwechselung zu behaupten, kleinere Erinnerungslücken bezüglich der Farbe | |
| der Uniform aufzubauschen. Sie versucht immer wieder, die Verantwortung von | |
| den deutschen Besatzern auf die jüdische Gettopolizei abzuwälzen und Murer | |
| als bloßen Verwaltungsangestellten darzustellen. | |
| Murer kann sich des Wohlwollens eines erheblichen Teils der Zuhörer sicher | |
| sein und wendet sich einmal sogar direkt an alle unter den Zuhörern, die in | |
| Wehrmacht und SS gedient haben. Einige der Entlastungszeugen fühlen sich so | |
| sicher, dass sie nicht davor zurückschrecken, sich über die Zeugenaussagen | |
| zu Murers Gräueltaten lustig zu machen. | |
| Frosch lässt die Rekonstruktion des Prozesses immer wieder zurücktreten | |
| hinter kurze Szenen, die die Prozessbeteiligten vorstellen und das | |
| politische Umfeld des Prozesses sichtbar werden lassen. Die Vorgeschichte | |
| des Verfahrens erfahren wir aus einem Gespräch der | |
| New-York-Times-Journalistin Rosa Segev mit Simon Wiesenthal, die einzige | |
| Szene im Film, die gestelzt wirkt unter der Last der Fakten. | |
| ## Politisches Ringen im Hintergrund | |
| In der Unterkunft der Zeugen und Zeuginnen treten – wie kurz zuvor im | |
| Eichmann-Prozess in Jerusalem – die Spannungen unter den Überlebenden, die | |
| in der jüdischen „Selbstverwaltung“ beschäftigt waren und denen, die das | |
| nicht waren, offen zutage. | |
| Vor allem aber gewährt uns Frosch über die Figur des damaligen | |
| Justizministers Christian Broda einen Eindruck in das politische Ringen im | |
| Hintergrund des Prozesses: Broda, ehemaliger Kommunist und nun | |
| Sozialdemokrat, wird von den Konservativen unter Druck gesetzt, Einfluss | |
| auf das Verfahren gegen Murer, der in der Nachkriegszeit ÖVP-Politiker | |
| geworden ist, zu nehmen. | |
| Aus Sicht der Konservativen wiegt Brodas kommunistische Vergangenheit | |
| ebenso schwer wie das Nazisein von Murer und anderen. Dieser politischen | |
| Perfidie innerhalb der österreichischen Politik steht ein eklatanter | |
| Antisemitismus gegenüber, dessen sich Murers Verteidiger in und außerhalb | |
| des Gerichtssaals bedienen, um die Rolle von Simon Wiesenthal und der | |
| jüdischen Vereinigungen zu unterminieren. | |
| Die politische Gemengelage, die Christian Frosch rund um den Prozess | |
| schildert, macht „Murer – Anatomie eines Prozesses“ gemeinsam mit Ruth | |
| Beckermanns „Waldheims Walzer“ zu einem Diptychon der Abgründe der | |
| österreichischen Politik der Nachkriegszeit. | |
| ## Politischer Film in historischem Gewand | |
| Die Waldheim-Affäre, die im Zentrum von Ruth Beckermanns Film steht, steht | |
| hinsichtlich der Anrufung des Mythos von Österreich als „erstem Opfer“ des | |
| deutschen Expansionsdrangs und des eklatanten Antisemitismus der | |
| Verteidigungsstrategien in einer direkten Linie mit den Ereignissen in | |
| Christian Froschs „Murer“. | |
| Froschs Film ist ein politischer Film im historischen Gewand. Wie die | |
| Verklärung des Mordens von Angehörigen der Wehrmacht, Polizei und SS als | |
| Pflichterfüllung war auch der Schulterschluss zwischen den beiden größten | |
| Parteien Österreichs, um die Ahndung von NS-Verbrechen zu verhindern, auf | |
| Jahrzehnte hinaus prägend. | |
| Am Beispiel des Prozesses gegen Franz Murer und dem politischen Umfeld des | |
| Prozesses arbeitet „Murer“ die Funktionsweisen von Abwehr- und | |
| Vertuschungsstrategien heraus, die sich noch immer nicht erledigt haben. | |
| 22 Nov 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Fabian Tietke | |
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