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# taz.de -- Psychologin über 80 Jahre Pogromnacht: „Die Gleichgültigkeit ha…
> 1938 versagte die Welt, als sie jüdischen Flüchtlingen nicht half. Und
> heute? Die Psychologin Marina Chernivsky warnt vor historischen
> Vergleichen.
Bild: „Jüdinnen und Juden wurden sukzessive aus dem Kollektiv ausgeschlossen…
taz: Frau Chernivsky, in diesen Tagen diskutieren Sie beim Jüdischen
Zukunftskongress unter dem Titel [1][„Évian Revisited“ über Flucht und die
Festung Europa]. In Évian berieten 1938 32 Staaten und 24
Hilfsorganisationen über das Schicksal jüdischer Flüchtlinge – mit dem
Ergebnis, dass niemand geholfen hat. Was hat das mit heute zu tun?
Marina Chernivsky: 1938 fliehen bereits Zehntausende aus Deutschland und
Österreich, um der Demütigung, Entrechtung und Verfolgung zu entkommen. Zu
dem Zeitpunkt weiß die Welt noch nichts von der Shoah. Die Katastrophe hat
sich noch nicht ereignet; der Bedarf an Schutz ist aber damals schon
offensichtlich. Trotzdem verschärfen die Staaten nach und nach die
Aufnahmequoten und Einreisebestimmungen. Die Folgen sind verheerend. Und
auch heute können wir nicht in die Zukunft sehen und die Folgen der
Asylpolitik einschätzen.
Golda Meir, spätere Ministerpräsidentin Israels, sagte über die Konferenz:
„Dazusitzen, in diesem wunderbaren Saal, zuzuhören, wie die Vertreter von
32 Staaten nacheinander aufstanden und erklärten, wie furchtbar gern sie
eine größere Zahl Flüchtlinge aufnehmen würden und wie schrecklich leid es
ihnen tue, dass sie das leider nicht tun könnten, war eine erschütternde
Erfahrung.“ Passen diese Worte auch ins Europa 2018?
Dieser Satz hat in der Tat einen starken Gegenwartsbezug. Wenn es eine
Lehre aus dieser Konferenz gibt, dann ist es die Etablierung der
völkerrechtlichen Genfer Flüchtlingskonvention 1951. Die
Staatengemeinschaft hat festgelegt, dass sie ihre Verantwortung annimmt und
unter Berücksichtigung asylrechtlicher Kriterien Schutz gewährt. Wir haben
heute etwas, was damals nicht möglich war. Gleichzeitig haben aber auch die
Gleichgültigkeit und Solidaritätsverweigerung bis heute Bestand. Trotzdem:
Historische Vergleiche sind immer mit Vorsicht zu genießen.
Was ist an einem Vergleich das Problem?
Der Historiker Michael Brenner sagte in einem Interview, die Geschichte
wiederhole sich nicht. Wir machen es uns zu einfach, wenn wir meinen, es
sei ja alles schon einmal da gewesen. Denn es kommt stark auf den Kontext
an, und der ist immer ein anderer. Ich bin keine Historikerin – aber als
Psychologin frage ich: Woher kommt der Bedarf, Dinge zu vergleichen? Geht
es da nicht auch um ein Angleichen, ein Gegeneinander-Aufwiegen – also
letztlich darum, eine Konkurrenz herstellen? Da sehe ich ein Risiko,
deswegen bin ich skeptisch beim Wort „gleich“. Geschichte wird viel zu
häufig trivialisiert, dadurch werden auch die Betroffenenbiografien
vereinnahmt und verhöhnt.
Gerne bemühen Menschen Vergleiche mit den 1930er Jahren – in den USA unter
Trump oder in Bezug auf rechte Demos in Sachsen. Wie sollten wir mit der
Vergangenheit umgehen?
Wir sollten Geschichte und Gegenwart in Beziehung setzen. Das ist das,
worum es meiner Meinung nach auf dem Panel geht. Dass die rechten Proteste
in Chemnitz im Jahr 2018 etwas mit der Vergangenheit zu tun haben, würde
ich sofort unterschreiben. Das Erbe des NS ist in Deutschland in mehrerer
Hinsicht relevant – in den Familien, aber auch in Ressentiments,
Erinnerungsritualen oder politischen Überzeugungen.
Im Titel der Veranstaltung steckt das Stichwort „Festung Europa“. Wie passt
das ins Bild?
Wie gesagt, resultierend aus den Verbrechen des NS haben wir heute
verbindliche völkerrechtliche Vereinbarungen, was Flucht und Asyl angeht.
Das sind große Errungenschaften, aber es gibt dort auch Defizite. Menschen
nehmen einen gefährlichen Weg auf sich, um Europa zu erreichen, viele
sterben dabei. Wir sehen zu.
Zum „Schutz der Außengrenzen“, so das Credo.
Bei allen damit verbundenen Herausforderungen: Migrationsbewegungen haben
eine ungebrochene Kontinuität, und sie waren im Zuge der beiden Weltkriege
fester Bestandteil gesellschaftlicher Entwicklung. Aber auch die
reaktionären Kräfte, die Widerstände gegen Migration, ziehen sich durch die
Geschichte. Der Schutz der sogenannten Außengrenzen wirft die Frage der
Grenzziehung im Inneren einer Gesellschaft auf. Das ist nicht nur eine
territoriale Frage, sondern bedeutet auch: Wer sind „wir“, wer gehört dazu
– und wer nicht? Verstehen wir uns als eine Gesellschaft von vielen, oder
sind wir doch eine Gesellschaft der wenigen?
Sind diese Grenzen zwischen Menschen beweglich?
Ja. Nehmen wir Évian: Die Gleichgültigkeit und die Bürokratie haben damals
verheerende Folgen gehabt. Später hat sich ein beispielloser Völkermord
ereignet, im Herzen Europas, unter Beobachtung der Weltgemeinschaft. So
etwas kann sich nur ereignen, wenn normative und moralische Grenzen sich
schon davor verschoben haben: Dass man Jüdinnen und Juden verfolgen kann,
diese Verschiebung war in der Gesellschaft schon verankert. Die Grenzen
zwischen Gruppen werden hergestellt, sie entstehen nicht auf natürlichem
Wege. Wenn sie erst einmal zementiert sind, ist die Gleichgültigkeit
vorprogrammiert.
Inwiefern?
Die Strategien der Entwürdigung und Entmenschlichung im Nationalsozialismus
haben dazu geführt, dass Jüdinnen und Juden nicht mehr als Zugehörige,
nicht mehr als Menschen wahrgenommen wurden. Sie wurden sukzessive aus dem
Kollektiv ausgeschlossen – durch diskursive Praktiken, Propaganda,
Regelungen, Vorschriften, Gesetze. Wenn diese Strategien greifen, ist
später vieles möglich. Wir können über rechtliche Möglichkeiten und Grenzen
der Einwanderungspolitik diskutieren, aber nicht über die
Selbstverständlichkeit des Rechts auf Leben – und damit auf Schutz, wenn es
offensichtliche Bedrohungslagen gibt.
Stigmatisierung und Ausgrenzung erfahren auch viele muslimische Menschen.
Gibt es da Gemeinsamkeiten?
Stigmatisierung und Grenzverschiebung haben es damals möglich gemacht,
Menschen systematisch auszugrenzen und zu ermorden; dazu sehe ich derzeit
keine Parallelen. Allgemein würde ich sagen: Antisemitismus hat in
Deutschland und Europa Tradition, er zieht sich durch alle
gesellschaftlichen Gruppen. Auch antimuslimischer Rassismus ist aktuell
leider sehr verbreitet. Wir tun uns bei beiden Phänomenen schwer, ihre
Existenz anzuerkennen.
Was meinen Sie damit?
Ausgrenzung ist nie das Problem der anderen, irgendwo am Rand; sie ist
mitten in unserer Sprache, in der Schule, auf Facebook. Allzu oft werden
verschiedene Formen der Ausgrenzung gegeneinander ausgespielt, dadurch
entsteht eine Konkurrenz, die nicht hilfreich ist. All diese Phänomene
haben ganz spezifische Aspekte – beim Antisemitismus ist das zum Beispiel
die Zuschreibung angeblicher Weltherrschaft, die Schuldumkehr oder das
zwanghafte Bedürfnis nach „Israelkritik“. Bei all den Unterschieden sollten
wir aber die Phänomene nicht isoliert betrachten, schließlich ereignen sie
sich in ein und derselben Gesellschaft.
Und was folgt daraus?
Wir müssen reden, miteinander, nicht übereinander. Wir müssen auf die
Sensibilisierung der Mehrheitsgesellschaft hinarbeiten. Was sehe ich, und
was nicht – das ist eine Kernfrage, die uns dabei navigieren kann. Die
deutsch-jüdische Beziehungsgeschichte ist Teil unserer Gegenwart. Brüche
und Distanz gehören genauso dazu wie Nähe, Symbiosen und Verflechtungen.
Sich diese Beziehungskonstellationen zu vergegenwärtigen, ist ein Ziel
dieses Kongresses, aber auch unserer Arbeit am Kompetenzzentrum. Wir wollen
Wahrnehmbarkeit fördern, gesellschaftspolitische Akteure ausbilden,
fachpolitische Diskurse mitgestalten. Wir wollen auch den innerjüdischen
Diskurs anfeuern, nicht zuletzt über Solidarisierungsmöglichkeiten zwischen
verschiedenen Gruppen. Was wir brauchen, ist eine partizipative
Zivilgesellschaft, die ihre Stimme erhebt. Wir brauchen mehr Allianzen,
davon bin ich fest überzeugt.
5 Nov 2018
## LINKS
[1] https://www.juedischer-zukunftskongress.org/session/evian-revisited-emigrat…
## AUTOREN
Dinah Riese
## TAGS
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Chemnitz
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