# taz.de -- Belagerte Stadt in der Ukraine: Der letzte Bericht aus Mariupol | |
> Zwei Journalisten der Agentur AP haben aus Mariupol berichtet. Über | |
> Menschen in Kliniken und in Kellern. Dann wurden sie in Sicherheit | |
> gebracht. | |
Bild: Eine Frau mit einem Kind in einem improvisierten Luftschutzkeller in Mari… | |
Die Russen sind uns auf den Fersen. Sie haben eine Liste mit Namen – auch | |
unseren – und sie kommen näher. Wir haben [1][die Belagerung von Mariupol] | |
durch russische Truppen mehr als zwei Wochen lang dokumentiert. Wir sind | |
die einzigen internationalen Journalisten, die noch in der Stadt arbeiten. | |
Wir haben aus dem Krankenhaus berichtet, als schon Bewaffnete in den | |
Korridoren suchten. Chirurgen gaben uns weiße OP-Kittel, mit denen wir uns | |
getarnt haben. | |
Jetzt in der Abenddämmerung kommt plötzlich ein Dutzend Soldaten | |
hereingestürmt. „Wo sind die Journalisten, verdammt noch eins?“ Ich sehe, | |
dass sie blaue Armbänder wie ukrainische Truppen tragen und kalkuliere die | |
Möglichkeit, dass es Russen sein könnten, die uns täuschen wollen. Dann | |
trete ich vor und sage, wer ich bin. „Wir sind hier, um Euch | |
rauszubringen“, sagen sie. | |
Die Wände der chirurgischen Abteilung erzittern unter dem Feuer von | |
Artillerie und Maschinengewehren. Drinnen scheint es uns sicherer zu sein. | |
Doch die Soldaten erklären, sie hätten den Befehl, uns mitzunehmen. | |
Wir rennen auf die Straße, verlassen die Ärzte, die uns Unterschlupf | |
gewährt haben, die Schwangeren, die Beschuss überlebt haben, die Menschen, | |
die in Fluren schlafen, weil sie nicht wissen, wohin sonst. Ich fühle mich | |
schrecklich, sie alle zurückzulassen. | |
Wir laufen durch Straßen und ausgebombte Wohnhäuser – neun, vielleicht zehn | |
Minuten lang, aber gefühlt eine Ewigkeit. Granaten schlagen in der Nähe | |
ein, wir werfen uns zu Boden und halten den Atem an. Die Zeit zwischen den | |
Einschlägen ist knapp. Druckwelle auf Druckwelle rüttelt mich durch. Meine | |
Hände werden kalt. | |
Wir erreichen einen Eingang. Gepanzerte Fahrzeuge bringen uns zu einem | |
dunklen Keller. Erst dort erfahren wir von einem Polizisten, den ich kenne, | |
weshalb die Ukrainer das Leben ihrer Soldaten riskiert haben, um uns aus | |
dem Krankenhaus zu holen. „Wenn sie euch schnappen, werden sie euch vor | |
eine Kamera setzen und sie werden euch dazu bringen, zu sagen, dass alles, | |
was ihr gefilmt habt, eine Lüge ist“, sagt der Polizist. „Dann wären alle | |
eure Anstrengungen und alles umsonst, was ihr in Mariupol getan habt.“ | |
Der Polizist hat uns mal angefleht, der Welt zu zeigen, wie die Stadt | |
zugrunde gerichtet wird. Jetzt rät er uns, zu gehen. Er weist uns zu den | |
Tausenden Fahrzeugen, die sich darauf vorbereiten, Mariupol zu verlassen. | |
Es ist der 15. März, und wir haben keine Ahnung, ob wir hier lebend | |
rauskommen. | |
## Die Ukraine, argumentierte ich, sei doch von Freunden umzingelt | |
Als Teenager bin ich in Charkiw aufgewachsen, gut 30 Kilometer von der | |
russischen Grenze entfernt. Auf dem Lehrplan stand der Umgang mit | |
Schusswaffen. Ich hielt das für Blödsinn. Die Ukraine, argumentierte ich, | |
sei doch von Freunden umzingelt. Ich habe über die Kriege im Irak, | |
Afghanistan und Bergkarabach berichtet. Als die Amerikaner und Europäer im | |
vergangenen Winter ihre Botschaften in Kiew räumten, saß ich vor | |
Landkarten, auf denen der russische Truppenaufmarsch verzeichnet war und | |
dachte: „Mein armes Land.“ | |
Ich wusste, dass die russischen Truppen Mariupol als Angriffsziel auswählen | |
würden, weil die Stadt am Asowschen Meer strategisch wichtig ist. Am Abend | |
des 23. Februar bin ich mit meinem langjährigen Kollegen Evgeniy Maloletka | |
dorthin gefahren. Angekommen sind wir eine Stunde vor Kriegsbeginn. | |
Etwa ein Viertel der rund 430.000 Einwohnerinnen und Einwohner hat in den | |
ersten Kriegstagen die Stadt noch verlassen. Aber nur wenigen war klar, | |
dass der Krieg wirklich kommt. Als die anderen ihren Fehler begriffen, war | |
es zu spät. | |
Mit einer Bombe nach der anderen kappten die Russen den Strom, das Wasser, | |
die Nahrungsmittellieferungen und schließlich, was besonders wichtig war, | |
die Mobilfunk-, Radio- und Fernsehtürme in Mariupol. Die wenigen | |
Journalisten, die sich noch in der Stadt befanden, konnten die Stadt | |
verlassen, bevor die letzten Verbindungen gekappt waren und eine | |
vollständige Blockade einsetzte. | |
## Chaos und Panik und Straffreiheit | |
Während einer Blockade dient das Abschneiden von Informationen zwei Zielen: | |
Erstens dem Chaos – Leute, die nicht wissen, was passiert, verfallen in | |
Panik. Ich habe erst nicht verstanden, wieso Mariupol so schnell | |
auseinanderfiel. Heute weiß ich, es lag an der fehlenden Kommunikation der | |
Leute untereinander. | |
Das zweite Ziel ist Straffreiheit für die Angreifer. Wenn keine | |
Informationen aus der Stadt herauskommen, keine Bilder von zerstörten | |
Häusern und sterbenden Kindern, dann können die russischen Invasoren tun, | |
was sie wollen. | |
Ohne uns Berichterstatter gäbe es keine Informationen. Das ist der Grund, | |
warum wir solche Risiken eingegangen sind, um der Welt zu zeigen, was wir | |
mit angesehen haben. Und das ist der Grund, weshalb Russland uns wütend | |
verfolgt. Nie zuvor hatte ich das Gefühl, dass es so wichtig ist, das | |
Schweigen zu brechen. | |
## Die Krankenwagen holten die Verletzten nicht mehr | |
Bald gab es die ersten Toten in Mariupol. Am 27. Februar waren wir dabei, | |
wie ein Arzt versuchte, ein kleines Mädchen zu retten, das von einem | |
Splitter getroffen worden war. Es starb. Dann starb ein zweites Kind, | |
danach ein drittes. Die Krankenwagen holten die Verletzten nicht mehr ab, | |
weil Menschen ohne Telefonsignal keinen Notruf senden konnten. Außerdem | |
kamen die Fahrer auf den zerbombten Straßen nicht mehr durch. | |
Die Ärzte baten uns, Familien zu fotografieren, die ihre Verletzten und | |
Toten selbst ins Spital fuhren. Sie ließen uns unsere Kameras an ihren | |
schwächelnden Notstromgeneratoren aufladen. Sonst erfahre ja niemand, | |
[2][was in Mariupol passiere], sagten sie. | |
Granaten trafen das Krankenhaus und Nachbargebäude. Das Fenster unseres | |
Transporters zersplitterte. In einer Seite klaffte ein Loch. Ein Reifen | |
ging platt. Manchmal rannten wir los, um ein brennendes Haus zu filmen und | |
rannten zwischen Explosionen zurück. | |
Einen Platz gab es noch in der Stadt, von dem wir senden konnten – vor | |
einem geplünderten Geschäft in der Budiwel'nykiw-Allee. Einmal pro Tag sind | |
wir dorthin gefahren, haben uns unter die Treppe gekauert und Bilder und | |
Videos für die Außenwelt hochgeladen. Besonders geschützt hätten uns die | |
Treppen vermutlich nicht, aber es fühlte sich sicherer an. | |
Am 3. März verschwand das Signal. Wir versuchten es von einem Fenster im | |
siebten Stockwerk des Krankenhauses. Von dort sahen wir die letzten Reste | |
der einstigen Bürgerstadt Mariupol. | |
Tagelang war das Satellitentelefon unsere einzige Verbindung zur Außenwelt. | |
Es funktionierte aber nur im Freien direkt neben einem Granattrichter. Alle | |
fragten mich, wann der Krieg zu Ende sein werde, aber ich hatte keine | |
Antwort. Jeden Tag gab es Gerüchte, die ukrainische Armee werde den | |
Belagerungsring durchbrechen, aber es kam niemand. | |
Am 9. März zerfetzten zwei Luftangriffe das Plastikband über unseren | |
Fahrzeugfenstern. Schmerz bohrte sich in meinen Gehörgang, meine Haut, mein | |
Gesicht. Wir sahen Rauch über der Entbindungsklinik aufsteigen. Als wir | |
dort ankamen, waren Retter immer noch dabei, blutende Schwangere aus den | |
Ruinen zu holen. Unsere Batterien waren fast leer, wir hatten auch keine | |
Verbindung, um die Bilder zu senden. Bis zur Ausgangssperre waren es nur | |
noch ein paar Minuten. | |
Ein Polizist hörte zufällig, wie wir über den Angriff auf das Krankenhaus | |
sprachen. Er nahm uns mit an einen Ort mit Strom und Internetverbindung. | |
„Das wird den Kriegsverlauf ändern“, sagte er. Ich begriff nicht. Wir | |
hatten doch schon so viele Tote fotografiert, Erwachsene, Kinder – eine | |
endlose Reihe. Was sollte das jetzt noch ändern? | |
Ich lag falsch. | |
## Die Polizisten warteten geduldig | |
In der Dunkelheit übermittelten wir die Bilder. Wir teilten die Videodatei | |
in drei Teile und legten drei Mobiltelefone nebeneinander, um das Prozedere | |
zu beschleunigen. Trotzdem dauerte es Stunden, weit über die Ausgangssperre | |
hinaus. Der Beschuss ging weiter, aber die Polizisten, die uns durch die | |
Stadt eskortieren sollten, warteten geduldig. | |
Dann brach das Signal zur Außenwelt wieder ab. Wir kehrten zurück in einen | |
leeren Hotelkeller mit einem Aquarium voller toter Goldfische und bekamen | |
nicht mit, wie Russland eine ganze Desinformationskampagne lostrat, um | |
unseren Bericht unglaubwürdig zu machen. | |
Die russische Botschaft in London veröffentlichte Tweets, in denen sie die | |
AP-Fotos als Fälschung bezeichnete und behauptete, eine der Schwangeren sei | |
eine Schauspielerin. Der russische Botschafter hielt bei einer Sitzung des | |
UN-Sicherheitsrats Kopien der Fotos hoch und wiederholte Lügen über den | |
Angriff auf die Entbindungsklinik. | |
Die Menschen in Mariupol bettelten uns nach den neuesten Nachrichten an. | |
Ukrainische Sender waren nicht mehr zu empfangen, nur noch russische Lügen | |
– die Ukrainer hätten Mariupol als Geisel genommen, sie hätten die Gebäude | |
selbst beschossen und entwickelten chemische Waffen. Die einzige, ständig | |
wiederholte Botschaft im Sowjetstil lautete: Mariupol ist umzingelt, ergebt | |
euch. Manche Leute, mit denen wir sprachen, glaubten der Propaganda mehr | |
als dem, was sie mit eigenen Augen sahen. | |
Am 11. März rief uns unser Redakteur an. Wir sollten die Frauen finden, die | |
[3][den Angriff auf die Entbindungsklinik] überlebt hatten, und beweisen, | |
dass sie existieren. Ich begriff, dass wir die russische Regierung mit | |
unseren Bildern zu einer Reaktion gezwungen hatten. | |
## Andere lagen noch in den Wehen | |
Wir fanden die Frauen in einem Krankenhaus an der Frontlinie, einige hatten | |
bereits entbunden, andere lagen noch in den Wehen. Wir hörten auch, dass | |
eine von ihnen ihr Baby verloren hatte und dann selbst gestorben war. Dann | |
stiegen wir wieder in den siebten Stock, um eine Internetverbindung zu | |
bekommen. Von dort sah ich, wie ein Panzer nach dem anderen die Straße zum | |
Krankenhaus herunterrasselte, jeder mit einem Z bemalt, dem russischen | |
Kriegssymbol – wir waren umzingelt. Dutzende Ärzte, Hunderte Patienten und | |
wir Journalisten. | |
Die ukrainischen Soldaten, die das Krankenhaus geschützt hatten, waren | |
verschwunden. Der Weg zu unserem Transporter, unserer Nahrung, unserem | |
Wasser, unserer Ausrüstung lag im Schussfeld eines russischen | |
Scharfschützen. Er hatte bereits einen Sanitäter erwischt, der sich nach | |
draußen gewagt hatte. Stundenlang kauerten wir im Dunklen und hörten die | |
Detonationen. | |
Und dann kamen plötzlich diese Soldaten und riefen auf Ukrainisch nach uns. | |
Aber ich fühlte mich nicht gerettet. Ich kam mir vor, als würde ich von | |
einer Gefahr in die andere geschickt. In Mariupol war gerade überhaupt | |
nichts mehr sicher. Man konnte jeden Augenblick erschossen werden. | |
Ich war den Soldaten unglaublich dankbar, aber ich fühlte mich wie betäubt | |
und habe mich geschämt, als ich mit ihnen ging. | |
## Im Stau auf der Flucht | |
Und jetzt sitzen wir zusammengepfercht mit einer dreiköpfigen Familie in | |
einem Personenwagen, der sich durch einen fünf Kilometer langen | |
Verkehrsstau aus der Stadt quält. Etwa 30.000 Menschen werden es heute aus | |
Mariupol heraus schaffen. – Bei dieser Zahl haben die russischen Soldaten | |
keine Zeit, alle Fahrzeuge genauer zu kontrollieren, zumal viele Fenster | |
mit Plastik verklebt sind. | |
Die Menschen sind nervös, sie streiten, brüllen sich an. Ständig sind | |
Flugzeuge und Luftangriffe zu hören. Der Boden zittert. Wir passieren mehr | |
als ein Dutzend russische Kontrollpunkte. An jedem fängt die Mutter mit | |
ihrem Kind auf dem Vordersitz wie rasend an zu beten. | |
An jedem Kontrollpunkt stehen russische Soldaten mit schweren Waffen und | |
bei jeder Kontrolle schwindet meine Hoffnung, Mariupol könne überleben. Ich | |
begreife, wie weit es für die ukrainische Armee wäre, die Stadt auch nur zu | |
erreichen. Und nicht einmal das wird sie schaffen. | |
Bei Sonnenuntergang erreichen wir eine Brücke, die die Ukrainer zerstört | |
haben, um den russischen Vormarsch zu stoppen. Ein Konvoi des Roten Kreuzes | |
mit etwa 20 Fahrzeugen sitzt hier bereits fest. Wir alle biegen von der | |
Straße ab und fahren über Felder und Nebenstraßen. | |
Die Wachen am 15. Kontrollpunkt sprechen Russisch mit rauem kaukasischen | |
Akzent. Sie befehlen dem gesamten Konvoi, die Scheinwerfer auszuschalten, | |
um die am Straßenrand geparkten Waffen und Ausrüstungen zu verbergen. Ich | |
kann das weiße Z kaum erkennen, das sie auf die Fahrzeuge gemalt haben. | |
Am nächsten Kontrollpunkt hören wir Stimmen, die Ukrainisch sprechen. Mich | |
überwältigt die Erleichterung. Die Mutter vorn im Auto bricht in Tränen | |
aus. Wir sind raus aus der Stadt. | |
## Wir waren die letzten Journalisten | |
Wir waren die letzten Journalisten in Mariupol. Jetzt sind da keine mehr. | |
Wir werden mit Fragen von Leuten überschwemmt, die wissen wollen, was aus | |
ihren Angehörigen geworden ist, die wir fotografiert und gefilmt haben. Sie | |
schreiben uns verzweifelt und vertraut, als wären wir keine Fremden, als ob | |
wir ihnen helfen könnten. | |
Als vergangene Woche [4][ein russischer Luftangriff ein Theater in | |
Mariupol] traf, unter dem Hunderte Menschen Schutz gesucht hatten, wusste | |
ich genau, wo wir hin müssten, um etwas von Überlebenden zu hören und wie | |
es war, endlose Stunden unter den Trümmern eingeschlossen zu sein. Ich | |
kenne das Gebäude und die zerstörten Häuser ringsum. Ich kenne Menschen, | |
die darunter eingeschlossen waren. | |
Aber wir können nicht mehr dorthin und berichten. Auch nicht, als die | |
ukrainischen Behörden am Sonntag bekanntgeben, Russland habe [5][in | |
Mariupol eine Kunstschule mit etwa 400 Menschen bombardiert]. | |
22 Mar 2022 | |
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