| # taz.de -- Putins Krieg in der Ukraine: Jedes Haus, jede Seele | |
| > Kein Licht, keine Heizung, kaum Lebensmittelvorräte – die Hafenstadt | |
| > Mariupol wird von schwerer Artillerie, Luftwaffe und Marine beschossen. | |
| Bild: Mitten im Wohngebiet: Ein paar Menschen graben ein Loch für Kriegsopfer … | |
| Es ist eine humanitäre Katastrophe, die sich da in der ostukrainischen | |
| Hafenstadt Mariupol abspielt. [1][Russische Artillerie, Luftwaffe und | |
| Marine haben die Stadt weitgehend zerstört.] Nach Angaben des | |
| stellvertretenden Bürgermeisters Sergei Orlow sind 90 Prozent der Gebäude | |
| betroffen. Nach Angaben von Petro Andrjuschtschenko, einem Berater des | |
| Bürgermeisters von Mariupol, sind 20.000 Menschen bei diesen Beschüssen ums | |
| Leben gekommen. Die Zahl dürfte höher sein, ist doch diese Nachricht schon | |
| eine Woche alt. | |
| Der Kontakt zu den noch 300.000 Menschen, die in der Stadt verblieben sind, | |
| ist weitgehend abgebrochen. „Es gibt keine direkte Verbindung mehr zur | |
| Stadt“, berichtet Maxim Borodin (44), Mitglied des Stadtrates von Mariupol, | |
| der die Stadt inzwischen verlassen hat, der taz am Telefon. „Das Internet | |
| funktioniert nicht mehr, auch telefonisch kommt man nicht mehr durch. Nur | |
| ab und an kann man aus der Stadt anrufen. Die Lage ist schlimm, und sie | |
| wird von Tag zu Tag schlimmer. Nun wird Mariupol auch von Schiffen und | |
| schwerer Artillerie beschossen. Die Vorräte enden. Die Menschen hungern. | |
| Viele versuchen, die Stadt zu Fuß zu verlassen. In Mariupol kann man nicht | |
| mehr überleben. Trotzdem bleiben viele zurück. Es ist schrecklich, und es | |
| wird von Tag zu Tag schrecklicher“, so Borodin. | |
| Der griechische Konsul zu Mariupol, Manolis Androulakis, hat bei seiner | |
| Rückkehr aus dem ukrainischen Kriegsgebiet eine bittere Bilanz gezogen. | |
| „[2][Mariupol wird sich einreihen bei jenen Städten, die durch Krieg | |
| vollständig zerstört wurden] – ob Guernica, Coventry, Aleppo, Grosny oder | |
| Leningrad“, sagte der Diplomat bei seiner Ankunft in Athen am Sonntagabend | |
| vor Journalisten. „Es gab kein Leben mehr – binnen 24 Stunden wurde die | |
| gesamte Infrastruktur zerstört. Es wurde einfach alles bombardiert.“ | |
| Androulakis war einer der letzten westlichen Diplomaten, der die Stadt | |
| verließ. Athen hatte seine diplomatischen Vertretungen noch lange nach | |
| Kriegsbeginn geöffnet gehalten, weil in der Region zahlreiche | |
| griechischstämmige Ukrainer leben, denen bei der Flucht geholfen werden | |
| sollte. | |
| ## Erste Hungertote in der Stadt | |
| Gleichzeitig berichtet Maxim Borodin vom Stadtrat Mariupol, russische | |
| Soldaten würden Zivilisten aus der Stadt gegen ihren Willen nach Russland | |
| evakuieren. Der Verwaltungschef des Gebietes Donezk, Pawlo Kirilenko, | |
| berichtet von den ersten Hungertoten in der Stadt. | |
| Was wirklich in Mariupol los ist, lässt sich derzeit nur von Bürgern der | |
| Stadt in Erfahrung bringen, die diese inzwischen verlassen haben. „Schiwa“, | |
| schreibt Olga Demidko, eine Fernsehjournalistin aus Mariupol, auf ihrer | |
| Facebook-Seite. Doch auf dieses einzige Wort, auf Deutsch: ich lebe, | |
| antworten Hunderte. Und fast alle auf Ukrainisch. Dabei ist Mariupol eine | |
| Stadt, in der traditionell russisch gesprochen wird. Doch nun wollen auch | |
| die Überlebenden von Mariupol, die Kiew nie hatte zu einem Umstieg auf die | |
| ukrainische Sprache bewegen können, nicht mehr in der Sprache des | |
| Aggressors, wie sie es nennen, miteinander kommunizieren. | |
| Freuen kann sich Demidko, die zu Verwandten in Deutschland weiterreisen | |
| möchte, über ihre gelungene Flucht nicht. „Meine Mutter, sie kann nicht | |
| laufen, ist zurückgeblieben. Auch meine bettlägerige Großmutter und mein | |
| Vater sind noch in Mariupol … Dort leben sie ohne Licht, Heizung, | |
| Telekommunikation, es gibt nur sehr wenig zu essen … Heute Morgen stand | |
| meine Straße in Flammen … Meine besten Freunde kann ich telefonisch nicht | |
| erreichen. Wir haben überlebt, dank unserer guten Nachbarn, die mich und | |
| meinen kleinen Jungen heute mitgenommen haben … Aber ohne meine Eltern zu | |
| leben ist das größte Problem in meinem Leben. Freunde, bitte betet für | |
| meine Familie, alle Bürger von Mariupol und ganz Mariupol!“ | |
| Ja, antwortet ihr eine Liliya Yatsenko, „wir werden beten. Jeden Tag, Auch | |
| zu meinen Eltern in Mariupol ist der Kontakt abgerissen“. | |
| ## Schweigende Kinder und Bombenhagel | |
| „Am meisten haben mir die Kinder leid getan“, berichtet die aus Mariupol | |
| stammende Bloggerin Nadeschda Suhorukowa auf Facebook. „Sie sprachen kaum | |
| miteinander. Niemand hat gesprochen. Sie haben den Flugzeugen zugehört. Sie | |
| flogen sehr nah und warfen endlos viele Bomben ab. Der Boden sackte ab, das | |
| Haus wackelte, jemand im Keller schrie vor Angst. Ich hatte Angst, mir auch | |
| nur vorzustellen, was draußen war. … Als ich am Morgen sah, was von unserem | |
| Garten übrig war, hatte ich kein Gefühl. Ich stand einfach da und sah mir | |
| das alles an und habe mir gedacht: Das ist nicht meine Stadt. …“ | |
| Irgendwann sind unsere Kellernachbarn verschwunden. Einer nach dem anderen | |
| ist gegangen, kaum dass er Benzin gefunden hatte oder Freunde mit einem | |
| freien Platz in einem Auto sich meldeten. Niemand hat sich verabschiedet, | |
| niemand hat seine Sachen gepackt. Wer ging, ließ alles stehen und liegen | |
| und rannte zum Ausgang. | |
| Auch unsere Kellernachbarn wollten in dieser Nacht gehen. Sie wurden durch | |
| die Bombenangriffe aufgehalten. Die Flugzeuge flogen alle halbe Stunde. Ich | |
| glaube, es waren mehrere von ihnen. Denn sie warfen jeweils zwei Bomben ab. | |
| Jetzt bebte der Boden alle fünf Minuten vier, manchmal sechs Mal. Sie haben | |
| uns so stark bombardiert, als wollten sie jedes Haus, jeden Baum begraben, | |
| jede Seele in einem riesigen Krater zertrampeln.“ | |
| 21 Mar 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Bernhard Clasen | |
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