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# taz.de -- Fehler der Ukraine: Nicht zu rechtfertigen
> Die Ukraine bekämpft einen Aggressor. Doch das entschuldigt nicht eigenes
> Fehlverhalten. Über ein verstörendes Video und unnötige Parteiverbote.
Bild: Graffiti mit dem Gesicht Putins. „Sieg der Ukraine“ bedeutet die Schr…
Die Ukraine verteidigt sich nicht nur gegen einen Aggressor, sie verteidigt
auch europäische Werte, heißt es immer wieder aus Kiew. Das stimmt, doch
gleichzeitig sind Entwicklungen zu beobachten, die so gar nicht zu diesem
Leitsatz passen und die der Glaubwürdigkeit des Landes Schaden zufügen
könnten.
Ein Beispiel: Derzeit macht ein [1][Video in den ukrainischen sozialen
Netzen die Runde]. Es zeigt russische Kriegsgefangene zusammengepfercht und
mit verbundenen Augen auf dem Boden liegend, vor ihnen steht wie ein
Dirigent ein ukrainischer Soldat, schreit auf sie ein. Und die Gefangenen
singen die ukrainische Nationalhymne.
Natürlich tun sie das nicht freiwillig. Der ukrainische Soldat, der sie
auffordert, lauter zu singen, weiß, wie er sich einen lauten Chor erzwingen
kann. Derartige Bilder mögen für die vom russischen Überfall geschundenen
ukrainischen Seelen Balsam sein. Doch sie spielen Putin in die Hände, der
mit derartigen Bildern das eigene Volk aufputschen kann.
Kürzlich haben der Nationale Sicherheitsrat und Präsident Wolodimir
Selenski [2][elf politische Parteien verboten]. Ihnen allen werden
Beziehungen zu Russland vorgeworfen. Verfassungsrechtlich ist das Verbot
durch das Kriegsrecht zwar gedeckt, aber ist es Ausdruck einer liberalen
Grundhaltung? In Umfragen wurde die mit 44 von 450 Abgeordneten in
Parlament vertretene Partei „Oppositionsplattform für das Leben“, die nun
verboten ist, zeitweise mit 17 Prozent Zustimmung gehandelt.
Es ist ein Fehler der ukrainischen Regierenden, viele ihrer Kritiker als
„prorussisch“ auszugrenzen. Genauso wie Russlands Herrscher Wladimir Putin
hat sich auch das Umfeld von Selenski geirrt: Die meisten der vermeintlich
„prorussischen“ Gegner des ukrainischen Präsidenten sind keine 5. Kolonne
Moskaus. Und das haben sie in den ersten Wochen des russischen Überfalls
auf die Ukraine auch längst bewiesen.
Am 20. August 2021 hatte der Nationale Sicherheitsrat der Ukraine das
Selenski-kritische Portal strana.ua landesweit gesperrt. Auch wenn
offiziell keine Begründung für diese Zensur angegeben wurde, war der Grund
klar: Das Portal galt als „prorussisch“ und so etwas wollte man nicht
haben. Doch wer strana.best, wie es sich jetzt nennt, in diesen Tagen
liest, kann kaum noch einen Unterschied zu „proukrainischen“ Medien
feststellen.
Wohl kaum ein ukrainischer Politiker hatte so das Label „prorussisch“ an
seinem Image haften wie der Politiker Oleksander Wilkul, derzeit Leiter der
Militärverwaltung von Krywyj Rih. Er ist Mitglied der Werchowna Rada und
war von Dezember 2012 bis zum 27. Februar 2014 unter Wiktor Janukowitsch
stellvertretender Ministerpräsident der Ukraine.
Als vor wenigen Tagen sein ehemaliger Parteifreund Oleg Zarew, der
inzwischen auf der Seite der Russen steht, ihm eine Zusammenarbeit mit den
vor Krywyj Rih stehenden russischen Truppen vorschlug, erwiderte Wilkul ihm
nur: „Verpiss dich, du Verräter.“ Und der „prorussische“ Politiker Mic…
Dopkin, ehemaliger Bürgermeister von Charkiw und 2014 noch ein Gegner der
Maidan-Bewegung, hatte sich kurz nach dem russischen Überfall auf die Seite
von Präsident Selenski und der ukrainischen Armee gestellt.
## Chance zur Versöhnung
Ähnlich verhielten sich das Oberhaupt der Orthodoxen Kirche des Moskauer
Patriarchats in der Ukraine, Metropolit Onufri, und der
Schwergewichtsprofiboxer Oleksandr Usyk. Der beste Boxer der Welt, dem man
immer wieder Sympathien für Russland unterstellt hatte, hatte sich sofort
nach Beginn des Überfalls mit dem Gewehr in der Hand der ukrainischen
Landesverteidigung angeschlossen.
Niemand aus dem sogenannten „prorussischen Milieu“ der Ukraine hat die
russischen Besatzer mit Blumen empfangen. Deswegen ist es ein Fehler, diese
Kräfte mit Verboten auszugrenzen. Vielmehr sollte die Regierung sie noch
mehr einbinden. Jedes Besatzerregime braucht für eine Besatzung ein
Mindestmaß von Unterstützung eines Teils der Bevölkerung. Diese
Unterstützung hatte man sich in Russland wohl von den sogenannten
„prorussischen“ Kräften erhofft.
Aufgabe der ukrainischen Regierung ist es jetzt, diese Kreise für sich zu
gewinnen. Gelingt das der Regierung, nimmt sie der russischen Propaganda
den Wind aus den Segeln. Gerade jetzt, so der Charkiwer Journalist
Stanislaw Kibalnyk, gibt es im Angesicht des russischen Überfalls die
Chance, die Kluft zwischen den verfeindeten ukrainischen Milieus von
„prorussischen“ und „proukrainischen“ Kräften zu überwinden.
## Die Fehler der „Guten“
Am 2. Mai 2014 wurden Dutzende „prorussicher“ [3][Demonstranten im
Gewerkschaftshaus] von Odessa verbrannt. Dieser Brand ist auch heute ein
weitgehend unbearbeitetes Trauma in der ukrainischen Gesellschaft. Während
der prowestlichen Opfer des Maidan mit Denkmälern und Straßennamen gedacht
wird, unterdrücken die ukrainischen Behörden jedes Erinnern an diese Opfer.
Mehrmals versuchten Angehörige der Opfer von Odessa, ein Denkmal für die
Toten zu errichten, und immer wieder scheiterten sie am Widerstand der
Behörden. Die Errichtung eines Denkmals für die Opfer von Odessa, Worte von
Präsident Selenski an die trauernden Angehörigen des Brandes vom 2. Mai
2014 wären ein Balsam für ein friedliches Zusammenleben verfeindeter
Milieus und gleichzeitig ein Imagegewinn für die Ukraine.
In jedem Krieg kommt es zu Verbrechen, Menschenrechtsverletzungen und
Fehlentscheidungen – auch auf der Seite der „Guten“. Nicht alles lässt s…
unter Bombenhagel und angesichts abgeschnittener Kommunikationswege
verhindern. Die ukrainische Regierung wäre jedoch gut beraten, sich dem
unzweideutig entgegenzustellen und sich von allem fernzuhalten, was mit
demokratischen Werten schwer vereinbar ist. Man kann nicht für Ideale
kämpfen, für die man selbst nicht einsteht.
29 Mar 2022
## LINKS
[1] https://www.youtube.com/watch?v=danOf8p5KME
[2] https://www.theguardian.com/world/2022/mar/20/ukraine-suspends-11-political…
[3] https://www.opendemocracy.net/en/odr/ukraine-suspends-labour-law-war-russia/
## AUTOREN
Bernhard Clasen
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