# taz.de -- Prozess zu Tötung in Idar-Oberstein: Eine nicht fassbare Tat | |
> Mario N. erschoss einen Tankstellenverkäufer in Idar-Oberstein, um „ein | |
> Zeichen“ gegen die Coronapolitik zu setzten. Nun beginnt der Prozess. | |
Bild: Der Tatort wurde zur Gedenkstätte: Tankstelle, in der Alexander W. im He… | |
BERLIN taz | Diese Woche wird Michaela W. ihm gegenübersitzen und ihm ins | |
Gesicht blicken können. Mario N. Dem Mann, der am [1][18. September 2021 | |
ihren 20-jährigen Sohn Alex erschoss], in einer Tankstelle in | |
Idar-Oberstein, weil er Mario N. gebeten hatte, eine Maske aufzusetzen. Und | |
weil N. daraufhin „ein Zeichen“ setzen wollte, wie er in einer Vernehmung | |
sagte. Ein Zeichen gegen die Coronapolitik. | |
Das Aufeinandertreffen von Michaela W. und Mario N. wird im Saal 7 des | |
Landgerichts Bad Kreuznach stattfinden. Am Montag beginnt dort der Prozess | |
gegen den 50-Jährigen. Michaela W. ist als Nebenklägerin zugelassen. Ob | |
sie den Willen und die Kraft aufbringt, gleich zum Auftakt zu kommen, blieb | |
unklar. Aber am zweiten Prozesstag wird sie da sein. Dann ist Michaela W. | |
als Zeugin geladen. | |
## „Ein lebenslustiger, hilfsbereiter, charismatischer Mensch“ | |
Alexander W. hatte als Aushilfe in der Tankstelle gejobbt, auch um neben | |
seinem Studium einen Führerschein zu machen. Ihr Sohn sei lebenslustig, | |
hilfsbereit, intelligent, charismatisch, auch etwas chaotisch gewesen, | |
sagte Michaela W. auf der Trauerfeier für Alexander W. vor 400 Menschen | |
in Idar-Oberstein. „Er hätte nie gewollt, dass alle wegen ihm traurig | |
sind.“ Ein Video zeigt, wie die Mutter mit den Worten rang. | |
Corona habe alle auf die eine oder andere Weise verändert, sagte sie. Aber | |
die große Anteilnahme am Tod ihres Sohnes zeige, „dass die Menschlichkeit | |
nicht auf der Strecke geblieben ist“. Als Michaela W. nach ihrer Rede die | |
Bühne verließ, hielt sie vor einem aufgestellten Porträtbild ihres Sohnes | |
an, strich über sein Gesicht. | |
Die Tat stürzte nicht nur Michaela W. in tiefe Trauer – sie | |
[2][schockierte viele bundesweit]. Der Oberbürgermeister von | |
Idar-Oberstein, Frank Frühauf (CDU), sprach von einer „ganz unfassbaren, | |
ganz schrecklichen Tat“. Der damalige Bundesinnenminister Horst Seehofer | |
(CSU) nannte sie „tief erschütternd“, Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) | |
sprach von einem „kaltblütigen Mord“. Angela Merkels Sprecherin erklärte: | |
„Die Enthemmung von Gewalt macht sprachlos.“ | |
## Tat ist heute als „nicht zuzuordnen“ eingestuft | |
Doch wie diese Tat einzuordnen ist, bleibt bis heute strittig. Für viele | |
steht sie für [3][einen radikalisierten Coronaprotest] – der im Fall von | |
Mario N. gar in einen Mord mündete. Ein Sprecher Seehofers erklärte jedoch | |
früh, es handele sich um einen „extremen Einzelfall“, aus dem „keine | |
generalisierenden Rückschlüsse“ gezogen werden könnten. Und tatsächlich i… | |
die Tat bei der Polizei bis heute nicht etwa als rechtsmotiviert eingestuft | |
– sondern in der Kategorie „Nicht zuzuordnen“. Und die Bundesanwaltschaft | |
prüfte den Fall zwar, zog ihn aber nicht an sich. | |
Dabei ließ Mario N. in einer Vernehmung kurz nach der Tat kaum Zweifel an | |
seinem Motiv. Er habe sich von der Coronapolitik in die Enge gedrängt | |
gefühlt, erklärte er laut Anklage den Ermittlern. Als Alexander W. ihn in | |
der Tankstelle dann auf die fehlende Maske ansprach, habe es ihm gereicht. | |
Da habe er ein Zeichen setzen wollen. Denn: An Merkel oder Spahn komme man | |
ja nicht ran. Und jeder, der die Regeln einfordere, sei | |
„mitverantwortlich“. Für die Anklage ist klar: Es sei N.s „nachdrücklic… | |
Ablehnung“ der Coronaschutzmaßnahmen, die „mitursächlich für die | |
Tatbegehung“ gewesen sei. | |
[4][Es war um 19.48 Uhr am 18. September 2021], als Mario N. die | |
Aral-Tankstelle in Idar-Oberstein betrat, um zwei Sixpacks Bier zu kaufen – | |
so zeigte es eine Überwachungskamera. Eine Maske, wie es die | |
Infektionsschutzregeln verlangten, trug er nicht. Als ihn Alexander W. | |
darauf ansprach, verließ N. wütend die Tankstelle. Um 21.19 Uhr kam er dann | |
wieder, reihte sich hinter Kunden ein und stellte wieder ein Sixpack auf | |
den Tresen, diesmal mit Maske. Als er an der Reihe war, zog er die Maske | |
hinunter. Als ihn Alexander W. erneut ermahnte, holte Mario N. plötzlich | |
einen Revolver aus der Hosentasche und schoss dem 20-Jährigen ins Gesicht. | |
Alexander W. starb sofort. Mario N. wiederum zog sich die Maske wieder über | |
die Nase und lief zu Fuß nach Hause. Am nächsten Morgen stellte er sich der | |
Polizei. | |
## Keine Vorstrafen, aber einschlägige Chats | |
Für die Sicherheitsbehörden war Mario N. ein Unbekannter. Er arbeitete als | |
selbstständiger IT-Mann in der Stadt, lebte mit einer Partnerin | |
zurückgezogen, Vorstrafen besaß er nicht. Eine waffenrechtliche Erlaubnis | |
allerdings auch nicht. Den Tatrevolver, Smith & Wesson, großkalibrig, hatte | |
er wohl von seinem verstorbenen Vater – ganz geklärt ist das nicht. Die | |
Polizei fand bei N. zu Hause auch noch eine Česká-Pistole. | |
Aber die Ermittler stießen auf einschlägige Chats, etwa auf Telegram. In | |
denen äußerte sich Mario N. rau und verbittert, ätzte über die | |
Coronapolitik und die Politik insgesamt, hing Verschwörungsmythen an. Seine | |
Nachrichten soll er nur aus entsprechenden Kanälen bezogen haben, von | |
Tichys Einblick bis noch weiter rechts. Auf seinem Twitter-Profil folgte er | |
AfD-Politikern und erklärte, er freue sich „auf den nächsten Krieg“. Denn: | |
„Wir kommen aus dieser Spirale einfach nicht raus.“ Später schrieb er: | |
„Gnade denen, welche diese Situation heraufbeschworen haben. Oder nein, | |
Gnade wäre unrecht.“ | |
Laut Staatsanwaltschaft fanden sich aber keine Hinweise, dass Mario N. auch | |
selbst Coronademonstrationen besuchte oder einer Partei oder Gruppe | |
angehörte. Wegen seiner Chatkommentare und seinen Angaben bei der Polizei | |
verorten ihn die Ermittler dennoch in diesem Milieu. Dass Mario N. sein | |
Opfer als Repräsentant für die Coronapolitik tötete, markiert für sie einen | |
niederen Beweggrund – ein Mordmerkal. Das zweite ist die „heimtückische“ | |
Tatbegehung. | |
Die Polizei aber tut sich schwer mit Tätern wie Mario N. Sein Fall ist ein | |
Extrem, aber auch anderswo begingen zuletzt radikalisierte „Querdenker“ | |
Straftaten. Rund die Hälfte war laut Bundeskriminalamt (BKA) zuvor noch | |
nicht straffällig geworden. So warf in Delmenhorst ein 30-Jähriger aus | |
Protest gegen die Coronapolitik [5][Brandsätze auf das Rathaus] – auch er | |
nicht vorbestraft. In Unterfranken sollen ein 37-Jähriger und eine | |
60-Jährige Protestbanner über eine ICE-Strecke gespannt haben, ein Zug | |
musste eine Notbremsung einleiten. Auf einer Kundgebung hatte der Mann sich | |
[6][als besorgter Familienvater präsentiert]. Immer wieder wurden | |
Maskenverweigerer und Coronaleugner auch auf Demonstrationen oder im Alltag | |
handgreiflich, kam es zu [7][Anschlägen auf Impf- und Testzentren]. | |
## 21.200 Taten kann die Polizei nicht zuordnen | |
In vorläufigen Zahlen für das Jahr 2021 zählt die Polizei gut 47.000 | |
politisch motivierte Straftaten – 21.200 davon konnte sie ideologisch nicht | |
zuordnen, darunter die Tat von Idar-Oberstein. Laut BKA-Präsident Holger | |
Münch stammten etliche aus dem „Querdenken“-Spektrum. Und die Polizei sieht | |
durchaus eine Gefahr: Inzwischen ordnet sie der Kategorie „Nicht | |
zuzuordnen“ sogar einen Gefährder und sechs „relevante Personen“ zu, den… | |
sie schwere Straftaten zutraut. | |
In der Politik regt sich Kritik an der Unbestimmtheit. Dass die Behörden so | |
viele Delikte politisch nicht zuordnen könnten, sei „gefährlich“, erklärt | |
die Linke-Innenexpertin Martina Renner. Gerade den Fall in Idar-Oberstein | |
nicht als rechtsmotiviert einzustufen sei „absolut unverständlich“. Das | |
Motiv habe einen sozialdarwinistischen Hintergrund, auch die | |
Social-Media-Aktivitäten des Beschuldigten seien rechts, so Renner. | |
Auch aus der Koalition kommt Kritik. Für ihn werfe die Nichtzuordnung des | |
Falls Idar-Oberstein „durchaus Fragen auf“, sagte der Grünen-Fraktionsvize | |
Konstantin von Notz der taz. „Bei Taten, bei denen auch nur der leiseste | |
Verdacht besteht, dass die Täter dem Querdenker-Spektrum oder anderen | |
radikalisierten Gruppierungen zuzurechnen sind, muss sehr entschlossen | |
hingeschaut und gehandelt werden.“ Es dürfe sich hier nicht der Fehler | |
wiederholen, der zuvor bei den Reichsbürgern begangen wurde, die als | |
„harmlose Spinner abgetan“ wurden. | |
Beim BKA ist die Kritik inzwischen angekommen. Hinter verschlossenen Türen | |
des Innenausschusses im Bundestag erklärte eine BKA-Vertreterin kürzlich, | |
die Formulierung „Nicht zuzuordnen“ sei vielleicht „nicht die günstigste… | |
Aber die Taten kämen eben aus einer „Gemengelage“, die nicht mehr klassisch | |
links oder rechts einzuordnen sei – ein wachsendes Phänomen. Man wolle sich | |
zu der Straftatenerfassung nun noch einmal mit Wissenschaftlern und anderen | |
Sicherheitsbehörden zusammensetzen, um diese zu überprüfen. | |
## Angeklagter will sich im Prozess einlassen | |
Vor dem Landgericht Bad Kreuznach wird diese Debatte vorerst keine Rolle | |
spielen. Dort geht es um die konkrete Schuld des Angeklagten Mario N. am | |
Tod von Alexander W. Angeklagt ist N. auch wegen unerlaubten | |
Waffenbesitzes. Verteidiger Alexander Klein sagte der taz, Mario N. könne | |
sich die Tat selbst nicht richtig erklären. „Da kam vieles zusammen.“ Mario | |
N. wolle im Prozess deshalb seine „persönliche Vorgeschichte“ zu der Tat | |
schildern. Die Mordmotive aber bestreite er, auch sei N. stark | |
alkoholisiert gewesen. Ein Urteil ist für Mitte Mai geplant. | |
Michaela W., die Mutter von Alexander W., nimmt zumindest die Familie von | |
Mario N. in Schutz. Dass diese angefeindet wird, hätte ihr Sohn nicht | |
gewollt, sagte sie auf der Trauerfeier. „Auch sie sind nur Opfer.“ Und Hass | |
bringe nicht weiter. „Liebe war schon immer stärker als der Hass. Daran | |
glaube ich noch immer.“ | |
20 Mar 2022 | |
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## AUTOREN | |
Konrad Litschko | |
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