# taz.de -- EU-Verteilung ukrainischer Geflüchteter: Vor dem Exodus | |
> Die Fluchtbewegung aus der Ukraine hat längst begonnen. Doch Europa muss | |
> sich nun auf Millionen weitere Menschen vorbereiten. | |
Bild: Larissa aus Bucha mit ihrer Tante und deren Söhnen in einem Zelt am Berl… | |
Es ist vielleicht gar kein schlechter Zeitpunkt, um daran zu erinnern, wie | |
Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei sich verhalten haben, als der | |
Süden der EU 2015 wegen einer [1][hohen Zahl ankommender Flüchtlinge] in | |
Nöten war. Die EU beschloss damals, 160.000 Flüchtlinge aus Italien und | |
Griechenland im Rest der EU umzuverteilen, die Zahl wurde später auf 98.000 | |
gesenkt. Die Regierung Ungarns giftete deshalb gegen Brüssel, klagte, | |
verlor – und setzte den Gerichtsbeschluss einfach nicht um. | |
Ungarn nahm damals 0 Flüchtlinge auf, genau wie Polen und Dänemark. | |
Tschechien nahm 12, die Slowakei, die mit Ungarn geklagt hatte, 16, | |
Österreich 43. [2][So sah europäische Solidarität] in Sachen | |
Flüchtlingsaufnahme aus, bevor Putin die Ukraine überfiel. Wie erbittert um | |
im Vergleich zu heute mikroskopisch anmutende Flüchtlingszahlen gestritten | |
wurde, zeigt, wie fundamental sich die Dinge geändert haben. | |
Vor allem die östlichen Länder stehen heute vor einem Exodus, dessen Ausmaß | |
noch nicht abzusehen ist. Durchaus denkbar ist, dass ein länger andauernder | |
Krieg die Zahl der Flüchtenden in den zweistelligen Millionenbereich hebt. | |
Kein Land der Welt ist darauf vorbereitet. | |
Den rechtspopulistisch regierten Ländern muss nun klar werden, wie sehr | |
auch sie auf Solidarität und Lastenteilung angewiesen sind – eine | |
Erkenntnis, die über das Ende der [3][Ukraine-Krise] hinaus Bestand haben | |
sollte. Den Flüchtlingen von heute aber hilft das noch nicht. Sie brauchen | |
Unterstützung, für die in kürzester Zeit enorme Ressourcen mobilisiert | |
werden müssen. Bislang sind es vielfach Ehrenamtliche, die in | |
beeindruckender Weise leisten, was nötig ist – ganz ähnlich wie 2015/2016. | |
## Es braucht einen formalen Mechanismus | |
Die Staaten aber dürfen sich darauf nicht verlassen. Sie müssen die | |
Verwaltungen und die großen Hilfsorganisationen schnell in die Lage | |
versetzen zu reagieren und die professionellen Strukturen zu erweitern. | |
Denn so wichtig die Arbeit der zahlreichen Freiwilligen ist – sie kann | |
professionelle Hilfe über den Moment hinaus nur ergänzen, aber nie | |
ersetzen. Bislang setzt die EU auf Bewegungsfreiheit der Ankommenden, in | |
der legitimen Hoffnung, dass viele zu Freund:innen und Verwandten ziehen. | |
Je länger der Krieg andauert, desto drängender wird die Frage nach | |
innereuropäischer Umverteilung, auch in die Länder ohne nennenswerte | |
ukrainische Diaspora. Schon jetzt nehmen Staaten wie Frankreich den | |
Nachbarn der Ukraine – wie etwa Moldau – auf freiwilliger Basis Flüchtende | |
ab. Auf Dauer dürfte kein Weg daran vorbeiführen, einen formalen | |
Mechanismus dafür einzuführen. Persönliche Kontakte und Sprachkenntnisse | |
müssen dabei berücksichtigt werden. | |
Und die EU muss sicherstellen, dass die Aufnahmebedingungen überall | |
angemessen sind. Deutschland hat EU-weit den bislang konkretesten Plan zur | |
Binnenverteilung der Ankommenden vorgelegt. Das vergrößert die | |
Möglichkeiten, Menschen auch außerhalb der Ballungsräume Wohnungen | |
anzubieten, statt sie in Großstädten in Sammellager zu stecken. Wichtig | |
ist, dass trotzdem freie Wohnortwahl für diejenigen herrscht, die | |
persönliche Kontakte haben. | |
Auch andere Fehler der Vergangenheit werden nun offenbar vermieden. Die | |
Ukrainer:innen sollen sofort arbeiten dürfen. Das erfordert aber auch | |
Zugang zu Integrations- und Sprachkursen – der nicht auf Kosten anderer | |
Flüchtlingsgruppen gehen darf –, Kita-Plätze für ukrainische Kinder und | |
harte Mindestlohnkontrollen. Nur sie verhindern, was nun viele fürchten: | |
Dass die hohe Zahl neuer Arbeitskräfte für Lohndumping und Ausbeutung | |
ausgenutzt wird. | |
Die Gelegenheit, die dafür zuständige, bisher völlig unterbesetzte | |
Finanzkontrolle Schwarzarbeit aufzustocken, war nie besser als jetzt. Denn | |
wirksam zu verhindern, dass die Ankommenden zu Billiglöhnen arbeiten, | |
hilft, nebenbei, auch möglichen Ressentiments vorzubeugen. | |
16 Mar 2022 | |
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## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
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