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# taz.de -- Flucht innerhalb der Ukraine: Wo die Sirenen schweigen
> Eine Kleinstadt in den Karpaten ist für Frauen zum Fluchtpunkt geworden.
> In Solotwyno heult keine Sirene. Ein Besuch im sichersten Ort im
> Kriegsgebiet.
Bis zum ersten Mal, dass sich Lilya Solodovnik wieder in Sicherheit fühlte,
waren acht Tage Krieg vergangen. Charkiw, ihr Zuhause, war eine der ersten
Städte, auf die Putins Bomben und Raketen fielen. Noch immer kauern ihre
Freunde und Familie in feuchten Kellern und in U-Bahn-Stationen, während
russische Kampfflieger Wohngebäude, Krankenhäuser und Schulen zerstören.
Hier aber, im dritten Stock eines ehemaligen Waisenhauses in den
ukrainischen Karpaten, blickt Solodovnik auf ihre Tochter Lena, und
schmunzelt. Die Sechsjährige wippt auf einem blauen Schaukelpferd, ganz
leicht schwingen ihre langen Zöpfe mit. Durch das Fenster scheint die warme
Nachmittagssonne. Nicht einen einzigen Fliegeralarm habe sie seit ihrer
Ankunft gehört, erzählt die junge Frau, die bis vor Kurzem als
Heilmasseurin gearbeitet hat. Ihr Mann war Fahrer, sie hatten ein kleines
Auto, eine eigene Wohnung. Es war ein gutes Leben.
Wie Tausende Frauen und Kindern aus den belagerten und zerbombten Städten
fanden Solodovnik und ihre Tochter Zuflucht in einem kleinen Ort, der
Flüchtlinge bisher nur aus den Nachrichten kannte: [1][Solotwyno] zählt
kaum 8.500 Einwohner, liegt hoch in den Bergen der Karpaten, einem rauen
Grenzland, dünn besiedelt und nahezu abgeschnitten von den ukrainischen
Städten, die sich in den vergangen Jahren so rasant entwickelt haben.
Vom ehemaligen Waisenhaus des Orts, das jetzt Geflohene aufnimmt, sind es
gerade einmal einen Kilometer bis zur rumänischen Grenze: Die gewundene
Hauptstraße hinunter, vorbei am Friseur, der weiterhin Haare schneidet, und
an den jungen ukrainischen Soldaten, die während der Passkontrolle
Schokokekse essen. Den Koffer mit den wenigen Habseligkeiten über die
schmale Holzbrücke über den Grenzfluss Tisza ziehen – und in
Nato-Mitgliedsland Rumänien Schutz finden.
Mehr als 10.000 Ukrainer flüchteten bereits so durch Solotwyno, einem der
kleinsten Grenzübergänge des Landes. Insgesamt haben bereits mehr als 3
Millionen die Ukraine verlassen, so die Vereinten Nationen.
## Den letzten Schritt nicht tun – in der Ukraine bleiben
Doch Patriotismus und Liebe binden die Frauen, die in dem ehemaligen
Waisenhaus von Solotwyno eingezogen sind. Sie weigern sich, die letzten
Schritt aus der Heimat zu tun.
Ihr Mann habe sie hier in Sicherheit gebracht, erzählt Solodovnik. Die
Reise dauerte zwei Tage, erst wegen der vielen Straßenkontrollen, der
zerstörten Brücken und Fahrbahnen, bald wegen der Abgeschiedenheit der
Grenze: Die nächstgrößere Stadt liegt am Fuße der Berge, danach wird das
Gelände unwegsam, windige Straßen voller Schlaglöcher, auf denen sie nur
mühsam Landwirte mit Pferdefuhrwerken überholen konnten.
Vor zehn Minuten haben sie sich verabschiedet. Ihr Mann wird zurück ins
Landesinnere fahren, um für die Freiheit der Ukraine und die Zukunft seiner
Tochter zu kämpfen. „Ich will meinen Mann nicht allein in der Ukraine
lassen, und das hier – das ist noch immer die Ukraine. Das ist mein
Zuhause“, sagt Solodovnik.
Zwei Zimmer weiter spricht Nina, eine pensionierte Kindergartenpädagogin
aus einem schmucken Vorort Kiews, über ähnliche Gefühle. Schon am ersten
Tag hatten Freiwillige ihr gezeigt, wie nah die Grenze sei. „Aber wir haben
uns gedacht: Warum sollten wir gehen? Hier sind wir ja zu Hause, in der
Ukraine“, erklärt sie.
In Solotwyno haben die Frauen ein emotionales Niemandsland gefunden: Weder
sind sie ganz aus ihrer Heimat geflüchtet, noch sind sie bei ihren Männern,
Brüder, Vätern und Söhnen.
## Die Einsamkeit wird jetzt zum Segen
Die Nähe zur rumänischen Grenze, aber vor allem die große Distanz zu den
Städten und die unwegsamen Karpaten, die den wirtschaftlichen Fortschritt
jahrzehntelang aufgehalten haben – jetzt, im Krieg, seien sie ein Segen,
meint Bezirkschef Timur Averin. Gerade besucht er den Bürgermeister
Solotwynos. Immer mehr Leute melden sich hier. Die Bevölkerung Solotwyno
habe sich bereits in den ersten beiden Wochen des Kriegs verdoppelt.
„Es ist der sicherste Ort in der Ukraine“, erklärt er den großen Zustrom.
Auch er habe Verwandte in Westeuropa, verbrachte mehrere Sommer in der
österreichischen Stadt Linz. Zwar sei die Ausreise für Männern bis zum
Alter von 60 verboten, doch ohnehin würde kaum ein Ukrainer daran denken,
das Land zu verlassen, meint er.
Auch nachdem der russische Präsident Wladimir Putin in der vergangenen
Woche begann, auch den Westen des Landes bis hin zur polnischen Grenze
bombardieren zu lassen, ertönten hier in Solotwyno keine Alarmsirenen.
[2][Ivano-Frankivsk] war bisher das am nächsten gelegene Ziel – 180
Kilometer entfernt, am Fuße des Gebirges.
Eine der Helferinnen vor Ort zeigt eine Karte auf ihrem Handy, auf der die
Angriffe und Kampfhandlungen zu sehen sind. Zwei große Landstriche der
Ukraine sind bisher weder mit Kreuzen noch Punkten markiert. Der eine
grenzt an das mit Russland verbündete Belarus, sagt sie: „Und der andere
sind wir.“
Für Bezirkschef Averin wäre auch eine Verdreifachung der Einwohner um
Solotwyno möglich. Er rechnet mit noch mehr Frauen und Kindern, die das
Land nicht verlassen wollen – zumindest noch nicht. „Unsere Frauen sind
echte Patriotinnen“, gibt er sich beeindruckt.
Gegenüber des Gemeindehauses werden die Schlangen vor dem Bankomat immer
länger. Benzin und Diesel wurden bereits rationiert. Sonntags aber schallen
die Gebete der Gläubigen aus der gedrungenen orthodoxen Kirche weiterhin
über den Hauptplatz. Die Inhaberin des kleinen Modegeschäfts bietet
Wintermäntel zum Abverkauf an, um Platz für die Frühlingsmode zu machen.
„Ich mag, dass hier keine Bomben fallen“, sagt ein kleines Mädchen aus
Charkiw, auf dessen rosa Pullover ein Einhorn glitzert.
## Ihre Art der Hilfe: Tarnnetze für die Armee herstellen
Im Waisenhaus Solotwynos leisten Frauen und Kinder ihren eigenen Beitrag,
um den Krieg zu gewinnen: Emsig zerschneiden die Kleinsten alte T-Shirts
und Hosen und knüpfen die Stoffstreifen zu Tarnnetzen zusammen. „Für unsere
Soldaten und ihre Panzer“, erklärt ein Junge.
Gerade ist ein Pick-up aus Rumänien über die matschige Zufahrt gerollt, die
Hände der Fahrer zittern – sie wollen schnellstmöglich zurück. Eine Gruppe
junger Fußballer eilt aus dem Waisenhaus. Vor gut zwei Monaten hatte der
Bürgermeister die Spieler aus den größeren Städten gekauft, der neue Verein
sollte Solotwyno auch außerhalb der Karpaten einen Namen machen. Anstatt
sich im kürzlich renovierten Stadion auf die ersten Siege vorzubereiten,
springen die jungen Männer jetzt auf die Ladefläche des Pick-ups und laden
die Spendentüten ab.
„In welchem Raum lagern jetzt die Konservendosen?“, ruft eine der
Koordinatorinnen. Die Zimmer, die nicht mit Geflüchteten belegt sind,
laufen bereits mit Hilfsgütern über. Mehl, Babynahrung, Wasser und Jacken
sortieren die Frauen und verpacken sie neu, um sie an ihre Landsleute in
den Städten zu schicken.
„Wir bekommen wirklich viel Unterstützung aus Rumänien“, sagt Angela
Biletska, eine Krankenschwester, die 14 Stunden pro Tag
Medikamentenlieferungen sortiert. Die vielen Schachteln und Hilfsgüter, die
sie schleppt, haben ihre Schienbeine mit blauen Flecken und kleinen
Schnitten überzogen. „Weniger werden es wohl nicht“, scherzt sie. Die Gän…
sind bereits voll, innerhalb eines Tages beginnen sich die Tüten und Kisten
auch an der Außenmauer zu stapeln.
Wie alle Ukrainer hier glaubt Biletska fest an den bevorstehenden Sieg der
Ukraine, doch bevor es dazu kommt, würden wohl noch mehr Menschen vor der
Gefahr und der großen Not in den belagerten Städten fliehen.
Lilya Solodovnik aus [3][Charkiw] hat die Zerstörungen selbst erfahren. „Es
ist ununterbrochen, jede Minuten“, beschreibt sie den Donner der Bomben in
der Millionenstadt. Der Großteil ihrer Freunde und Familie sitze noch fest,
am Handy erreiche sie sie kaum noch. „Sie haben nichts – kein Essen – gar
nichts“, sagt sie.
## Die Flucht vor dem Krieg
Nina und ihre Familie wollten ihrer Heimatstadt Kiew nicht den Rücken
kehren. Anfangs liefen sie bei jedem Alarm in den Keller, bis sie ihn kaum
noch verließen. Ihr Hund, ein Chihuahua namens Rave – „nach der Musik“,
sagt die 62-Jährige – habe gezittert.
Als sie nach acht Tagen voller Angst und Terror auf die Straße ging, um
Lebensmittel zu besorgen, hielt sie ein vorbeifahrendes Auto an. Die letzte
Chance zur Flucht, dachte sie, und bat den Fahrer sie mitzunehmen – egal
wohin, nur raus aus Kiew. „Er gab uns fünf Minuten, um zu packen“, sagt
Nina. Ihren Nachnamen wolle sie nicht nennen, zu groß sei ihre Angst,
wieder im Visier der Russen zu landen.
In ihrem Zimmer starrt Ninas Tochter die Wand an. Sie habe Schlimmes
erlebt, es sei zu schmerzlich, darüber zu sprechen, sagt die Mutter. Erst
am Vortag sprangen die zwei Frauen erschrocken von ihren Betten auf: Eine
freiwillige Helferin hatte an ihre Tür geklopft, um sie zum Abendessen zu
holen. „Für uns klang es wie die Bombenangriffe“, erinnert sich Nina.
Tränen laufen über ihr Gesicht. „Man kann sich diese Geräusche gar nicht
vorstellen.“
Im Spielzimmer versucht Magdalena Myhailivna, die seit über fünfzig Jahren
als Kunstlehrerin arbeitet, zumindest den Kindern etwas Ablenkung zu
bieten. Die kleine Frau mit den hellrosa Haaren instruiert Sofia, Yera,
Arina, Elena und Anastasia – alle aus Charkiw und Kiew – im Malen mit
Wasserfarben. Grüne Bäume, rote Tulpen. „Es ist wichtig, dass sie auch
normale Dinge tun“, erklärt Myhailivna. Am Weltfrauentag ging sie mit den
Kindern im Ort spazieren, sie pflückten die ersten Frühlingsboten, ließen
sich von der Nachmittagssonne wärmen.
## Das Gedicht von Lesya Ukrainka
„Überall im Land haben wir Krieg, aber hier ist es ruhig und friedlich“,
sagt die achtjährige Anastasia, während sie einem Frauengesicht rote Lippen
malt. Wenn sie mal groß sei, wolle sie in ihrer Heimatstadt Kiew als
Tierärztin arbeiten. Dann steht sie auf und trägt ein Gedicht von Lesya
Ukrainka vor, eine der bedeutendsten Schriftstellerinnen des Landes:
„Wenn ich mal hinfiel, als ich rannte,
Was vorkam in Kindestagen,
Obgleich der Schmerz mich übermannte,
Erhob ich mich, ohne zu klagen.
„Tut’s weh?“ – die Frage war gewesen.
Doch ich zwang mich, sie zu verneinen,
Als Kind war ich von stolzem Wesen,
So lachte ich, um nicht zu weinen.“
Schon bevor Ukrainka 1871 geboren wurde, hatte der russische Zar die
ukrainische Sprache in seinem Reich verboten, bis nach ihrem Tod drohte den
Ukrainern auf die Verwendung drakonische Strafen. Ukrainka schrieb trotzdem
auf Ukrainisch. Ein Akt des zivilen Ungehorsams, des Widerstands gegen den
Unterdrücker.
Ein ähnlicher Mut findet sich in den Frauen von Solotwyno. Gerade weil nun
auch die westlichen Regionen Raketenangriffen ausgesetzt sind, glaubt man
im Grenzland der Karpaten, immer wichtiger für die Versorgung der Truppen
und der Zivilbevölkerung zu werden.
Im Waisenhaus lässt Koordinatorin Elena Sierosa die Betten daher noch ein
Stück näher zusammenrücken. Die Neuankömmlinge brauchen Platz. „Es werden
immer mehr kommen“, sagt Sierosa. In einem dicken Wirtschaftsbuch versucht
sie, einen Überblick über die Familien zu behalten und über die Hilfsgüter,
die sie täglich erreichen. Dass in ihrem kleinen Ort Bomben fallen könnten,
glaubt sie nicht. „Und falls doch, dann können wir die Kinder über der
Grenze retten“, sagt sie, stoisch über ihren Aufzeichnungen sitzend. „Aber
wir werden hier bleiben. Wir werden kämpfen.“
17 Mar 2022
## LINKS
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Solotwyno
[2] /Zuflucht-in-Berlin/!5835289
[3] /Millionen-Metropole-Charkiw/!5839527
## AUTOREN
Denise Hruby
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