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# taz.de -- Krieg in der Ukraine: Wie geht's weiter?
> Vier Wochen Krieg und fünf Szenarien bezüglich eines möglichen weiteren
> Verlaufs: Regimewechsel in Moskau, Kapitulation in Kiew?
Bild: Ein ukrainischer Soldat an einem zerstörten russischen Militärfahrzeug,…
„Der Krieg ist das Gebiet der Ungewißheit“, heißt es bei Carl von
Clausewitz. Das gilt in diesen Tagen auch in der Ukraine. An vielen Fronten
wird gekämpft, unzählige Menschen starben, Millionen Menschen fliehen,
gleichzeitig wird immer wieder verhandelt und Russland und die Nato
tauschen Warnungen aus. Aber wie könnte dieser Krieg weitergehen?
## Ein Regimewechsel in Russland
Könnte Wladimir Putin an der Heimatfront stürzen – und eine neue russische
Regierung anschließend den Krieg beenden? Es gibt mehrere Berichte, die auf
Spannungen in Putins Machtmaschine hindeuten. [1][Zwei ranghohe Offiziere
des Geheimdienstes FSB wurden unter Hausarrest gestellt, der
stellvertretende Chef der mächtigen Nationalgarde, Roman Gawrilow, wurde
seiner Aufgaben enthoben.] Außerdem wird über den Verbleib von
Verteidigungsminister Sergei Schoigu spekuliert, der seit zwei Wochen nicht
mehr öffentlich aufgetreten ist.
Russland-Expertin Sabine Fischer vom Berliner Thinktank Stiftung
Wissenschaft und Politik warnt aber davor, dies überzuinterpretieren: „Das
kann der Versuch sein, Sündenböcke aufzubauen. Anzeichen für wirkliche
Risse im System Putin, in der Machtvertikalen und in den Eliten sehe ich im
Moment nicht. Dafür ist es noch zu früh.“
Der Druck auf das System sei durch die harten Sanktionen und die
militärischen Misserfolge stark gewachsen, zugleich habe der Druck auf die
Gesellschaft durch Zensur, harte Repressionen und die Abschottung nach
außen extrem zugenommen. „Im Moment sieht es so aus, als hielte sich das
die Waage. Und wir müssen davon ausgehen, dass das Regime diese Balance
noch eine ganze Weile halten kann“, sagt Fischer.
So schwierig Meinungsumfragen in autoritären Systemen sind, geht sie doch
davon aus, dass die gemessene Zustimmung für das Regime bisher belastbar
ist. „In einer Umfrage eines regierungsnahen Instituts ging es um die
Unterstützung für die Politik von Wladimir Putin und das Vertrauen in ihn.
Beide Werte sind seit Beginn des Krieges sogar um zehn Prozent gestiegen.“
Das sei ein Konsolidierungseffekt, wie er für eine Gesellschaft in einer
Kriegssituation zunächst relativ normal sei. „Diese Zustimmung ist aber auf
keinen Fall mit der nationalen Begeisterung im März 2014 nach der Annexion
der Krim vergleichbar.“
Die Sanktionen zeigen im Alltag der russischen Bevölkerung mittlerweile
Wirkung. Die Preise steigen, westliche Konsumgüter sind nicht mehr zu
bekommen, die unterbrochenen Lieferketten und der Rückzug vieler
internationaler Firmen legen bereits die Produktion in einzelnen
Wirtschaftsbereichen lahm. Bestimmte Regionen und Städte werden von der
folgenden Massenarbeitslosigkeit hart getroffen werden. „Das Problem ist
aber, dass es hier konfligierende Zeithorizonte gibt“, sagt Fischer. „Wir
haben zum einen den Angriffskrieg, wo alles sehr schnell abläuft. Zum
anderen die Sanktionen, die langsamer wirken. Sie werden sich mit hoher
Wahrscheinlichkeit innenpolitisch auswirken, aber wohl nicht in einem
Zeitraum, der für die Ukraine militärisch relevant ist.“
## Eine Kapitulaiton der Ukraine
Von Beginn an hat der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski klargemacht,
dass Kapitulation für ihn keine Option ist. Und mit den bisherigen Erfolgen
ihres Widerstands hat die Ukraine selbst jene Experten überrascht, die ihr
militärisch einiges zugetraut hatten. Die hohe Motivation ihrer Truppen,
gute Kenntnisse der Kampfgebiete und Waffenlieferungen aus dem Westen haben
der Ukraine in den vergangenen Tagen teils sogar erfolgreiche
Gegenoffensiven ermöglicht. Am Freitagnachmittag kündigte das russische
Militär überraschend an, sich militärisch künftig auf den Donbass zu
konzentrieren. Was auch immer von dieser Ankündigung zu halten ist: Eine
totale Niederlage und Kapitulation der Ukraine erscheint im Moment wenig
wahrscheinlich.
Aber was, falls es doch anders kommt? Eine Kapitulation würde de facto das
Ende der ukrainischen Eigenstaatlichkeit bedeuten. Der Kreml würde in Kiew
eine Moskau-treue Marionettenregierung installieren und versuchen, mit
einer Art Militärdiktatur das Land zu regieren. Aus von Russland bereits
besetzten Orten in der Ostukraine gibt es Berichte, dass russische Soldaten
mit Listen herumgehen und Einzelne verhaften.
Dass Russland aber dauerhaft die gesamte Ukraine militärisch unter
Kontrolle behalten kann, gilt als ausgeschlossen. Dafür bräuchte es mehr
Soldaten, als die russische Armee aufbringen könnte, ohne die Verteidigung
des eigenen Landes völlig zu vernachlässigen. Deshalb wäre ein mögliches
Szenario nach einer Kapitulation das Aufteilen der Ukraine in einen
Ostteil, der von Moskau beherrscht wird, und eine Rumpf-Ukraine im Westen.
Frieden herrschte dann vielleicht aber immer noch nicht: Gut möglich, dass
aufständische Ukrainer in besetzten Gebieten als Partisanen weiterkämpfen
würden.
## Erfolgreiche Friedensverhandlungen
Die meisten Beobachter sind sich einig, dass die momentanen Gespräche
zwischen Russland und der Ukraine von russischer Seite noch nicht ernsthaft
geführt werden. „Es bräuchte dafür einen Waffenstillstand, der gleichzeitig
den Erhalt der Ukraine als unabhängigen Staat gewährleistet“, sagt Sabine
Fischer von der Stiftung Wissenschaft und Politik. „Das setzt aber eine
grundsätzliche Veränderung der russischen Verhandlungsposition voraus. Und
dafür bräuchte es auf russischer Seite die Einsicht, dass man den Krieg
nicht gewinnen kann. Das ist ein sehr schwer zu erreichendes Ziel.“
Ein zentraler Punkt ist die Frage: Wie soll man Wladimir Putin jemals
wieder glauben, dass er sich an Vereinbarungen hält? Mit dem Überfall auf
die Ukraine hat er zahlreiche internationale Abkommen gebrochen, in denen
sich Russland verpflichtet hatte, die Eigenstaatlichkeit anderer Staaten
und explizit auch der Ukraine zu achten. Von den mündlichen Versprechen,
keinen Angriff zu planen, ganz zu schweigen.
Die ukrainische Seite hat in den vergangen Tagen mehrmals signalisiert,
dass sie bereit ist, über eine Neutralität zu sprechen. Aber was heißt
Neutralität? Die Ukraine würde vielleicht auf eine Nato-Mitgliedschaft
verzichten, fordert dafür aber Sicherheitsgarantien, also de facto
militärischen Beistand aus dem Ausland im Fall eines erneuten russischen
Angriffs.
Als Länder, die dafür in Frage kommen, wurden [2][aus ukrainischen Kreisen
die USA, Großbritannien und die Türkei genannt]. Offen ist aber, ob diese
Nato-Länder die Garantien abgeben würden – und ob so ein Modell für
Russland akzeptabel wäre. Zudem geht es auch um territoriale Fragen. Ist
Kiew bereit, Gebiete abzugeben? Womit würde sich Russland zufriedengeben?
Theoretisch sind hier viele Modelle denkbar, praktisch hängt vieles vom
weiteren Kriegsverlauf und der Wirkung der westlichen Sanktionen ab.
## Das Modell Syrien
So bitter es ist: Die meisten Experten gehen davon aus, dass ein lang
anhaltender Krieg, in dem keine Seite eindeutig die Oberhand gewinnt, das
wahrscheinlichste Szenario für die nächsten Wochen und Monate ist. Das
würde auch einen Terrorkrieg gegen die Zivilbevölkerung bedeuten, wie man
es in Mariupol gesehen hat – und wie man es aus der russischen
Kriegsführung in Tschetschenien und Syrien kennt: Die Einnahme umkämpfter
Großstädte ist aufwendig, laut Militärexperten brauchen Angreifer dafür
rund sechsmal so viele Soldaten wie die Verteidiger. Die russische Taktik
zielt deshalb darauf ab, einen Teil der Bevölkerung fliehen zu lassen, alle
verbliebenen Personen zu Kriegsgegnern zu erklären und die Städte dann
schlicht zu zerstören.
Zu größeren Geländegewinnen ist die russische Armee derzeit aufgrund hoher
Verluste an Soldaten und Material offenbar nicht in der Lage. Schon vor der
Ankündigung vom Freitag [3][konzentrierte man sich zuletzt auf den Versuch,
im Osten Teile der ukrainischen Armee einzukreisen]. Möglicherweise fressen
sich die Kämpfe auf längere Zeit entlang der jetzigen Fronten fest.
Der Militäranalytiker Gustav Gressel vom Thinktank European Council on
Foreign Relations betont, [4][dass der russische Stillstand momentan eher
eine „operative Pause“ sei]. „Das ist noch nicht der große Wendepunkt.�…
erwartet, dass Russland in den nächsten Wochen neue Soldaten und Einheiten
in die Ukraine bringen wird. Ein wichtiges Datum ist der 1. April, an dem
für viele Wehrpflichtige ihr Dienst endet. Viele könnten sich – aus freien
Stücken oder dazu gedrängt – dann länger verpflichten. Als Berufssoldaten
könnten sie anschließend im Ausland in den Krieg geschickt werden.
Nach [5][einem Bericht des Wall Street Journal] sind die USA und ihre
Nato-Partner auch von den Erfolgen der ukrainischen Armee überrascht: Der
längerfristige Plan war, sie bei einem Partisanenkrieg nach der Besetzung
des Landes zu unterstützen. Nun hat man Probleme, schnell genug Material
und Munition für eine Armee bereitzustellen, die einen konventionellen
Krieg an mehreren Fronten führt.
## Eine weitere Eskalation
Joe Biden hat Russland in dieser Woche mehrmals davor gewarnt, Chemiewaffen
einzusetzen – das wäre eine weitere Eskalation des Krieges. Die Nato
kündigte für diesen Fall „schwerwiegende Folgen“ an, ohne diese genauer
auszuführen. Theoretisch ist ein sehr breites Spektrum an Reaktionen
denkbar, von weiter verschärften Sanktionen bis hin zu einem militärischen
Eingreifen. Einen solchen Schritt schließt der Westen bisher zwar
einigermaßen geschlossen aus, in einer neuen Lage könnte sich aber eine
neue Dynamik entwickeln.
Obwohl international geächtet, wurden Chemiewaffen etwa in Syrien vom
Assad-Regime eingesetzt, um den Willen einer aufständischen Bevölkerung zu
brechen. In einer dicht bewohnten Stadt freigesetzt, können chemische
Kampfstoffe eine große Anzahl Menschen qualvoll töten – es ist eine Waffe,
die auf reinen Terror setzt. Russland hat dem Assad-Regime dabei politisch
immer den Rücken frei gehalten und bei den Vereinten Nationen [6][mehrmals
gegen weitreichendere Untersuchungen von UN-Inspektoren gestimmt].
Eine andere Form der Eskalation wäre der Einsatz einer taktischen Atomwaffe
durch Russland. Das sind Bomben, deren Sprengkraft und Wirkungskreis
geringer ist als bei den großen, strategischen Atomwaffen. Aber auch ihr
Einsatz führt zu schwersten Zerstörungen und dem Freisetzen großer Mengen
von Radioaktivität.
Eine solche Waffe könnte entweder direkt in der Ukraine oder zum Beispiel
über der Ostsee eingesetzt werden, um die Nato vor einem weiteren
Eingreifen abzuschrecken. Eine russische Militärdoktrin soll sich [7][auf
das Konzept des „Eskalierens, um zu deeskalieren“, stützen]. Wenn Russland
in einem Krieg bedroht werde, sei es legitim, mit atomaren Waffen zu
eskalieren, um die Auseinandersetzung zu beenden.
[8][Laut New York Times arbeitet im Weißen Haus eine Gruppe von
Sicherheitsexperten daran,] sofortige Antworten vorzubereiten, sollte
Russland mit Chemie- oder Atomwaffen eskalieren.
Der Russland-Experte Stefan Meister von der Deutschen Gesellschaft für
Auswärtige Politik betont aber auch: „Putin ist kein Selbstmörder. Er will
selber überleben.“
26 Mar 2022
## LINKS
[1] https://www.deutschlandfunk.de/wie-viel-rueckhalt-hat-putin-noch-100.html
[2] https://www.rnd.de/politik/ukraine-will-sicherheitsgarantien-was-taugen-die…
[3] https://twitter.com/HoansSolo/status/1507229113702133776?s=20&t=mgjv7S8…
[4] https://tvthek.orf.at/profile/ZIB-2/1211/ZIB-2/14128999/Militaeranalytiker-…
[5] https://www.wsj.com/articles/weapons-for-ukraines-fight-against-russia-flow…
[6] https://www.zeit.de/politik/ausland/2017-10/un-sicherheitsrat-syrien-giftga…
[7] /Waffenexperte-ueber-Russlands-Aggression/!5838971
[8] https://www.nytimes.com/2022/03/23/us/politics/biden-russia-nuclear-weapons…
## AUTOREN
Jan Pfaff
Tobias Schulze
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