# taz.de -- Rassismus als Propagandawerkzeug: Da läuft was falsch | |
> Seit Kriegsbeginn wird von Angriffen auf russischsprachige Menschen in | |
> Deutschland berichtet. Aber darunter mischen sich Falschmeldungen. | |
Bild: Screenshot aus dem Film von Olessja P. auf Telegram | |
Das Gespräch dauert gut 30 Sekunden, als das Wort zum ersten Mal fällt. | |
„Das ist Rassismus“, sagt eine aufgebrachte Frauenstimme. „Was Sie jetzt | |
machen mit Kindern, das ist Rassismus.“ Die Frau, die das ruft, filmt die | |
Szene unbemerkt mit ihrem Smartphone. Sie steht in einem Jugendklub in | |
einem kleinen Ort in Nordrhein-Westfalen und stellt zwei Mitarbeiterinnen | |
zur Rede. Die Kamera zeigt die meiste Zeit den Fliesenboden. Kurz schwenkt | |
sie zu den Gesichtern der beiden Mitarbeiterinnen und zu dem 13-jährigen | |
Jungen, um den es in dem Streit geht. | |
Lucas, ihr Sohn, sei aus dem Jugendzentrum rausgeworfen worden, behauptet | |
die Sprecherin. Weil er russischstämmig ist? „Deutschland wacht auf! Was | |
haben unsere Kinder damit zu tun? Nur weil die russische Wurzeln haben, | |
werden die diskriminiert“, steht als Texteinblendung über dem Video. Mit | |
Schrei-Emoji. | |
Was in dem Jugendtreff genau passiert ist, bevor die Videoaufnahme beginnt, | |
darüber gibt es verschiedene Versionen. Der Jugendklub sagt: Der Junge habe | |
sich positiv zum Krieg in der Ukraine geäußert. Die Mutter sagt: Ihr Sohn | |
habe nur die Wahrheit über den Krieg gesagt. | |
Fest steht: Die knapp achtminütige Sequenz hat eine enorme Kraft | |
entwickelt. Sie hat sich rasend schnell in sozialen Netzwerken und | |
Messengerdiensten verbreitet. Sie hat Menschen dazu gebracht, | |
Google-Bewertungen, Onlinekommentare und E-Mails zu verfassen, in denen die | |
Mitarbeiterinnen des Jugendklubs „Unmenschen“ genannt werden, die | |
„irgendwann mal dafür böse bezahlen“ werden. Die Jugendorganisation der A… | |
hat das Video aufgegriffen und die russische Botschaft in Berlin. Harry | |
Lause, der Leiter des Jugendtreffs, sagt: „Der Hass hat uns überrollt.“ | |
Der Krieg in der Ukraine ist auch ein Krieg um Informationen und | |
Wahrheiten. [1][Soldaten posieren in Tiktok-Videos], in Whatsapp-Gruppen | |
kursieren Aufnahmen von Vandalismus in russischen Supermärkten, aus | |
Telegram-Kanälen von Coronaleugner*innen sind Putin-Fanklubs | |
geworden. Dabei geht es auch immer wieder um „Russophobie“. In den sozialen | |
Netzwerken werden Hunderte Meldungen geteilt, kommentiert und geliked, die | |
zeigen sollen, wie russische Institutionen und russischsprachige Menschen | |
beleidigt oder angegriffen werden. Russische Lkw-Fahrer*innen berichten, | |
dass ihre Lkws auf deutschen Raststätten beschmiert werden; | |
Betreiber*innen von russischen Restaurants, dass sie von Gästen | |
beschimpft wurden. | |
Und es stimmt ja auch: Menschen, die Wurzeln in der ehemaligen Sowjetunion | |
haben, wie Spätaussiedler*innen, jüdische Kontingentflüchtlinge, | |
Russ*innen und russischsprachige Deutsche, erfahren Diskriminierung. Seit | |
dem Beginn des Kriegs in der Ukraine gehen bei den Behörden mehr Meldungen | |
über Angriffe ein. Allein die Berliner Polizei zählt seit dem 24. Februar | |
57 Übergriffe auf russische Institutionen und Personen. Darunter sind vor | |
allem Sachbeschädigung und Graffiti. Das Bundeskriminalamt gehe von rund | |
500 strafrechtlich relevanten Delikten mit Bezug zum Ukrainekrieg aus, | |
berichtete die „Tagesschau“, darunter seien vor allem Beleidigungen und | |
Drohungen im Internet. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier warnt vor | |
Hetze gegenüber russischen Menschen. | |
## Doch nicht alle Meldungen, die kursieren, sind tatsächlich wahr. | |
Am vergangenen Wochenende [2][verbreitete sich das Video einer Frau], die | |
behauptete, in Euskirchen sei ein 16-jähriger Junge von ukrainischen | |
Geflüchteten erschlagen worden. Weil er Russisch gesprochen habe. Das | |
Verbrechen gab es nicht, das stellte die Bonner Polizei schnell klar. Das | |
Bundesinnenministerium [3][warnte bei Twitter auf Russisch vor dem Fake]. | |
Die Nachricht vom erschlagenen Russen in Euskirchen stand zuerst auf einer | |
Nachrichtenseite aus Russland. Die Frau, die daraus das Video gemacht hat, | |
hat sich mittlerweile entschuldigt und das Video gelöscht. | |
Bei Facebook kursierte die Meldung, [4][dass bei Hamburg die Busse eines | |
Unternehmens zerstört worden seien, angeblich weil der Besitzer russische | |
Wurzeln habe]. Zwar wurden tatsächlich Busscheiben zertrümmert, aber den | |
russischstämmigen Besitzer gibt es nicht. Der Zusammenhang sei frei | |
erfunden, sagt das Unternehmen der „Tagesschau“. Auch die Polizei sieht | |
kein politisches Motiv. [5][Bei Whatsapp wurde eine Sprachnachricht zigfach | |
weitergeleitet], in der behauptet wird, in Kehl seien ältere | |
russischsprachige Frauen beim Dolmetschen von ukrainischen Geflüchteten | |
angegriffen worden. Die Nachricht erweist sich als Fake. | |
## Aber was ist mit dem Video aus dem Jugendtreff? | |
Hövelhof ist eine kleine Stadt in Nordrhein-Westfalen, eine halbe Stunde | |
nördlich von Paderborn. Dort steht das Haus der offenen Tür, kurz HoT: | |
Mittags verbringen die Kinder aus den benachbarten Schulen hier ihre Pause, | |
ab 14 Uhr öffnet das Haus für die Jugendlichen aus dem Ort. Vier | |
Sozialarbeiter*innen arbeiten hier, 35 Stunden in der Woche ist | |
geöffnet. Der Instagram-Account zeigt den Alltag: Für den HipHop-Kurs | |
wurde gerade eine Spiegelwand gebaut, die Umwelt AG entwirft | |
Insektenhotels. „Wir wollen den Kindern ein zweites Zuhause sein“, sagt | |
Harry Lause, der Leiter des Hauses, am Telefon. | |
Gepostet wird das Video aus dem Jugendzentrum am 3. März zuerst auf dem | |
Tiktok-Kanal von Olessja P. Bis zum Krieg in der Ukraine ist sie dort kaum | |
aktiv. Seit Anfang März teilt sie Videos, in denen Wladimir Putin als „Der | |
beste Mann und President“ gefeiert wird oder in denen behauptet wird, | |
ukrainische Frauen hätten vor, russische Kinder zu töten. | |
## Auf eine Gesprächsanfrage der taz reagiert Olessja P. nicht. | |
Das Originalvideo aus dem Jugendtreff hat sie gelöscht. Mittlerweile | |
ermittelt die Polizei gegen den illegalen Mitschnitt. Aber die Stiefmutter | |
des Jungen, Julia P., hat es auf ihrem Instagram-Account gepostet. Dort | |
steht es immer noch, von dort wurde es weiterverteilt, zu Facebook und | |
Telegram. | |
Sie wolle nachfragen, wegen ihres Sohns, was da abgehe, spricht Olessja P. | |
in dem Video die Mitarbeiterin des Jugendklubs an. Warum er rausgeflogen | |
sei. Die Mitarbeiterin antwortet: Lucas wurde nicht aus dem Jugendzentrum | |
geschmissen. Ihm wurden sein Ehrenamt im Jugendrat und sein Dienst an der | |
Theke entzogen. Positionen, in denen er das Jugendzentrum vertritt. Der | |
Grund? „Weil das Volksverhetzung ist“, sagt die Mitarbeiterin. Wenn ein | |
Junge sage, die Ukraine sei selbst schuld am Krieg und dort würden keine | |
Frauen und Kinder getötet, sei das eine Grenze. | |
Die Kamera läuft weiter, alle reden durcheinander. Fallen sich ins Wort. | |
„Habt ihr schon gelesen, was in Berlin abgeht?“, kiekst Lucas mit hoher | |
Stimme. „Die Lehrer gehen auf die Schüler los.“ So wie jetzt hier auch. Das | |
sei Diskriminierung, Olessja P. ruft: „Wissen Sie, wie viele Kinder im | |
Donbass gestorben sind? Von ukrainischen Bomben. Die haben drauf | |
geschrieben: Das ist für eure Kinder, Donbass! Und jetzt müssen unsere | |
Kinder leiden?“ | |
Es ist kein Zufall, dass es so oft um Kinder geht, wenn in Telegram-Kanälen | |
und auf Facebook-Seiten über „Russophobie“ gesprochen wird. Kinder und | |
Jugendliche sind am deutlichsten als unschuldige Opfer markierbar. | |
Bei Telegram ruft eine Gruppe mit dem Namen „GOR – Zivilschutz der | |
Russischsprachigen“ dazu auf, russische Kinder zu verteidigen. Eine | |
Onlinepetition von russischen Müttern fordert die Zivilgesellschaft auf, | |
russische Kinder vor Diskriminierung in der Schule zu schützen. Einige der | |
Aufrufe haben es aus dem Internet auf die Straße geschafft. In Dresden und | |
Berlin haben Menschen gegen die Diskriminierung von russischen Kindern | |
protestiert. Unter dem Namen „Demokratie, Stopp Krieg, keine Propaganda in | |
der Schule“ fanden Kundgebungen an der Frauenkirche in Dresden und vor dem | |
Brandenburger Tor statt. In beiden Städten waren unter den Teilnehmenden | |
auch Mitglieder der Nachtwölfe, einer prorussischen, nationalistischen | |
Motorradgang. | |
Demonstrationen, bei denen Nationalist*innen solche Stimmungen | |
ausnutzen, gab es in Deutschland schon 2016 – im Fall „Lisa“. Das | |
13-jährige Mädchen aus einer deutsch-russischen Familie war auf dem | |
Schulweg in Berlin-Marzahn verschwunden. Als sie nach 30 Stunden wieder | |
auftauchte, erzählte sie ihren Eltern, sie sei von drei „Südländern“ | |
festgehalten und vergewaltigt worden. Die Geschichte verbreitete sich | |
schnell, wurde ein großes Thema im russischen Fernsehen. Die NPD und ein | |
Pegida-Ableger meldeten Demonstrationen an, der russische Außenminister | |
schaltete sich ein. | |
Als klar wurde, dass sich Lisa wegen Schulproblemen bei einem Bekannten | |
versteckt hatte, [6][war die Geschichte von den vergewaltigenden | |
Flüchtlingen schon in der Welt und verschwand nie mehr ganz]. Für Wladimir | |
Putin, der sich deutlich von Angela Merkels Flüchtlingspolitik abgrenzen | |
wollte, war das nützlich. | |
## Das Video aus dem Jugendtreff in Hövelhof ist keine Fälschung | |
Der Jugendtreff bestätigt, dass der Vorfall stattgefunden hat. Aber auch | |
reale Vorfälle haben eine Funktion in Desinformationskampagnen. | |
Kurz nachdem Olessja P. das Video hochgeladen hat, wird es in einem großen | |
Telegram-Kanal gepostet. „Wahnsinn!!“, steht darunter. „Russischer Junge | |
wird aus Jugendhaus Hövelhof ausgeschlossen, weil er sich entgegen dem | |
Mainstream-Narrativ zum Ukrainekonflikt geäußert hat.“ | |
Der Kanal „Servus Deutschland“ existiert seit Herbst 2020, knapp 17.500 | |
Abonnent*innen folgen ihm. Bis zum Ukrainekrieg ging es darin vor allem | |
um Corona: die „Tötungsmaschine“ Impfung, Beleidigungen und Gewaltfantasien | |
gegenüber Politiker*innen. Mittlerweile geht es in der Gruppe auch um den | |
Krieg in der Ukraine, meist mit prorussischem Framing. Das Video von | |
Olessja P. ist nicht das einzige, das dort gepostet wurde und | |
Russenfeindlichkeit beweisen soll. Aber es ist eines, das bei vielen | |
Nutzer*innen verfängt. | |
Nur zwei Minuten, nachdem das achtminütige Video in dem Kanal gepostet | |
wurde, teilt eine Nutzerin darunter die Website des Jugendzentrums. | |
„Schreibt denen alle – je mehr, desto besser, dass sie Rassisten sind.“ | |
Andere posten die Mailadresse und die Telefonnummer, ein Foto des | |
Eingangsportals des Hauses. Mehrere rufen dazu auf, dem Jugendzentrum | |
schlechte Bewertungen bei Google zu geben. | |
## Bei Facebook passiert dasselbe. „Brauchen wohl eine gute Bewertung. | |
Zwinkersmily“, schreibt jemand unter das Video | |
Es folgen antisemitische, holocaustrelativierende Bewertungen wie: „Die | |
Leiterin sowie alle Mitarbeiter werden sich vor den Nürnberger Tribunalen | |
verantworten müssen. Jeder dieser Unmenschen wird danach nicht mehr in den | |
Berufszweig tätig sein, nach dem Urteil“ – „Ich bin entsetzt über das | |
Verhalten dieser Pädagogen“ – „Es werden russische Schüler diskriminier… | |
weil sie die Wahrheit sagen. So was gab es zuletzt im Dritten Reich. | |
Diskriminierung, Unterdrückung der Meinungsfreiheit. Ekelhaft.“ | |
Harry Lause, Chef der Einrichtung, ahnt von all dem nichts, als er am | |
Freitag in sein Büro kommt. Am Tag zuvor war im Jugendzentrum das Gespräch | |
mit der Mutter und dem Jungen eskaliert. | |
Die Vorgeschichte des Videos erzählt Harry Lause so: Der Jugendliche komme | |
seit Jahren in das Jugendzentrum. Er sei sehr engagiert gewesen. Für einen | |
kleinen Lohn habe er an der Theke Cola und Chips verkauft. Außerdem war er | |
als ehrenamtliches Mitglied in den Jugendrat gewählt worden, eine Gruppe | |
aus sechs Jugendlichen, die bei wichtigen Entscheidungen einbezogen wird. | |
Ein paar Tage vor dem Video hätten sich Jugendliche und Erwachsene im | |
Jugendzentrum über den Krieg in der Ukraine unterhalten. Der Junge habe | |
sich da positiv zum Krieg in der Ukraine geäußert, sagt Lause am Telefon. | |
„Das konnten wir so nicht stehen lassen“, sagt Harry Lause. „Einen | |
Angriffskrieg zu rechtfertigen steht den Werten, die wir hier vertreten, | |
absolut entgegen.“ | |
Schon vor dieser Diskussion hatten die Mitarbeiter*innen intern | |
besprochen, wie sie mit dem Thema Krieg umgehen. Wie reagieren sie auf | |
Kinder, die Angst haben? Welche Aussagen sind rote Linien? Die sah das Team | |
in der Diskussion mit dem Jungen überschritten. | |
Gemeinsam hätten die Mitarbeiter*innen entschieden, dem Jungen seine | |
Arbeit an der Theke und seine Position im Jugendrat zu entziehen. „Die | |
Entscheidung ist uns nicht leicht gefallen, weil das ein toller Junge ist, | |
der eine super Tendenz hat. Aber durch sein Ehrenamt repräsentiert er das | |
Haus ja auch nach außen“, sagt Lause. In einem ruhigen Gespräch hätten sie | |
ihm das mitgeteilt. Hausverbot habe er nicht erhalten, er könne weiter in | |
das Jugendzentrum kommen, dort auch weiter seine private Meinung äußern. | |
## Kurz darauf kam der Junge mit seiner Mutter zurück in den Jugendtreff | |
und das Video entstand | |
Nachdem das Video online geht, gehen überall Kommentare ein: auf dem | |
Instagram-Profil des Jugendklubs, auf seiner Website, bei Google. E-Mails | |
kommen. 10. 20. 40. Am Ende sind es rund 60. Einmal hat Lause 73 verpasste | |
Anrufe auf dem Telefon. Unter den Menschen, mit denen er telefoniert hat, | |
waren einige, die wirklich reden wollten, andere hätten ihn beschimpft. | |
Einige dieser Mails kann man immer noch in dem Telegram-Kanal nachlesen. | |
Die Verfasser haben sie dort selbst veröffentlicht. Einer schreibt, die | |
Mitarbeiter*innen des Jugendklubs ließen sich einspannen von „rot-grün | |
indoktrinierten Schlafschafen“, die „mit Hilfe der Politmarionetten und | |
von Rothschild bezahlten Lügenmedien momentan die New World Order mit | |
vorantreiben“. | |
Dass reale Ereignisse instrumentalisiert werden und Tatsachen verdreht, | |
beobachtet Sergej Prokopkin, Rechtsanwalt und Jurist, momentan regelmäßig. | |
„Wenn jemand auf der Straße beschimpft wird, heißt es später im russischen | |
Staatsfernsehen: ‚Auf deutschen Straßen werden alle Russ*innen | |
beschimpft.‘ “ Die russische Regierung spiele sich als Beschützer auf. „… | |
Nachricht dahinter lautet: ‚In Europa seid ihr nicht sicher, nur der Kreml | |
kann euch schützen.‘ “ | |
Prokopkin setzt sich gegen Antislawismus in Deutschland ein. Er hält | |
Vorträge, postet Informationen auf seinen Onlinekanälen und richtet seine | |
Aufrufe auch an die russischsprachige Community. | |
Viele der aktuell kursierenden Vorfälle in den sozialen Medien stuft | |
Prokopkin als Desinformationskampagne Russlands ein. „Die russische | |
Botschaft wendet gezielt Falschinformationen an als Teil seiner hybriden | |
Kriegsführung, um für Chaos und Verunsicherung in der russischsprachigen | |
Community zu sorgen“, sagt Prokopkin am Telefon. | |
Schon die Frage, wer welchen Begriff benutzt, ist politisch. Die | |
Bezeichnung „Russophobie“, den die russische Regierung verwende, sei | |
ungenau. Er gäbe vor, nur russische Menschen würden diskriminiert. „Die | |
russischsprachige Community ist divers, nicht alle, die Russisch sprechen, | |
stammen aus Russland.“ Prokopkin verwendet daher den Begriff | |
[7][Antislawismus], auch um sich von dem durch Putin und Lukaschenko | |
gesetzten Narrativ zu distanzieren. „Antislawismus gibt es seit | |
Jahrhunderten, er ist real. Diese Form der Diskriminierung betrifft aber | |
nicht nur russischsprachige Menschen, sondern alle, die als ‚Slaw*innen‘ | |
gelesen werden.“ Und das sind viele: In Deutschland leben rund 3,5 | |
Millionen Menschen mit Migrationshintergrund aus der ehemaligen | |
Sowjetunion. Das macht sie zur größten Einwanderungsgruppe. | |
Wer nach dem Begriff Russophobie sucht, findet schnell die Akteur*innen, | |
die Putins Erzählung verbreiten oder von ihr profitieren wollen. | |
Unter dem Video aus Hövelhof schaltet sich auch die AfD ein. Die Junge | |
Alternative Paderborn, die Jugendorganisation der AfD, schreibt, sie werde | |
sich „drum kümmern“. „Das wäre gut“, schreibt ein anderer Nutzer dazu. | |
„Schon allein für die Kinder.“ | |
Die AfD besetzt das Themenfeld bewusst. Mehrere AfDler haben | |
Interessenvereinigungen für Russlanddeutsche gegründet: In | |
Nordrhein-Westfalen gibt es die Gruppe „Russlanddeutsche für die AfD“. Ein | |
Vertreter der AfD im Kreis Westfalen-Lippe, also jenem, in dem auch das | |
Jugendzentrum steht, Denis Pauli, hat im vergangenen Jahr den „Zentralrat | |
der Russlanddeutschen“ gegründet. Im Jahr 2018 haben Abgeordnete der AfD | |
den Internationalen Volksrat der Russlanddeutschen gegründet. Sein | |
Vorsitzender ist der in Kasachstan geborene ehemalige Bundestagsabgeordnete | |
Waldemar Herdt. | |
Die Vereine rufen im Internet dazu auf, ihnen zu melden, wenn russische | |
Menschen in Deutschland diskriminiert werden. Mehrere Mitglieder von | |
Landes- und Kreisverbänden der AfD warnen in den sozialen Medien vor | |
„Russophobie“. | |
Auch das russische Staatsfernsehen berichtet seit dem Angriff auf die | |
Ukraine vermehrt von angeblichen Überfällen auf russische | |
Staatsbürger*innen in Europa. Ein Beitrag des staatlichen Kanals | |
Rossija 24 setzt die „Russophobie“ im Westen mit der Verfolgung von | |
Jüdinnen und Juden im Dritten Reich gleich. | |
In dem Telegram-Kanal, in dem das Video aus dem Jugendklub geteilt wurde, | |
hat jemand die Mailadresse [email protected] in die Kommentare | |
gepostet. „Sofort melden solche Vorfälle“, hat die Person dazu geschrieben. | |
Die Botschaft hat die E-Mailadresse sechs Tage nach Kriegsbeginn | |
eingerichtet. Dort können sich alle melden, die gemobbt, belästigt, bedroht | |
oder angegriffen wurden. Allein in den ersten drei Tagen seien „mehrere | |
hundert Nachrichten“ eingegangen, heißt es bei der Botschaft. In loser | |
Reihenfolge veröffentlicht sie nun Listen mit angeblichen Vorfällen. Sechs | |
Listen gibt es bislang, mit jeweils etwa 10 bis 20 Vorfällen. Die wenigsten | |
lassen sich überprüfen. Die meisten, die sich überprüfen lassen, stellen | |
sich als falsch oder zumindest nicht ganz richtig heraus. | |
Der Vorfall in Hövelhof landet schließlich auch auf der Website der | |
russischen Botschaft. „In einem Jugendzentrum der Stadt Hövelhof | |
(Nordrhein-Westfalen) wurde ein 13-jähriger Jugendlicher von der Ausübung | |
seiner Freiwilligenaufgaben abgesetzt, weil er sich weigerte, die in | |
Deutschland dominierende Meinung zu den Entwicklungen in der Ukraine zu | |
unterstützen“, steht dort jetzt. | |
Fünf Tage dauert die Empörungsflut im Jugendzentrum in Hövelhof an. | |
Mitarbeiter*innen der Gemeinde unterstützen die Sozialarbeiter*innen, | |
löschen Kommentare im Netz, beantworten Anfragen. | |
## In Hövelhof leben 16.000 Menschen, jeder hier kennt das Jugendhaus | |
Das Video wird zum Stadtgespräch. Besonders für die Kinder habe ihm das | |
leid getan, sagt Lause. In das Jugendzentrum kämen viele Kinder mit | |
russischem Hintergrund, sie seien von der Aufregung stark verunsichert | |
gewesen. In den ersten Tagen nach dem Video seien weniger Kinder gekommen | |
als sonst. „Wir arbeiten seit 20 Jahren daran, den Kindern und Jugendlichen | |
Halt zu geben. Wir haben einen guten Ruf, die Leute im Ort vertrauen uns“, | |
sagt Lause. „Nach dem Video hat es sich so angefühlt, als sei das alles | |
über Nacht weggewischt worden.“ | |
Er lerne daraus, wie zerrissen die Kinder selbst sind. „Eines hat mir | |
gesagt: Ich habe zwei Herzen in meiner Brust. Ich weiß selbst nicht, was | |
ich über diesen Krieg glauben soll.“ | |
Einen Tag nachdem Olessja P. das Video aus dem Jugendzentrum hochgeladen | |
hat, veröffentlicht sie ein weiteres Video. Mit Sonnenbrille läuft sie | |
durch ein Wohngebiet, spricht an der Kamera vorbei. Sie bedankt sich für | |
die Unterstützung. „Allerdings, mein Video ist irgendwie falsch | |
rübergekommen“, sagt sie. Sie habe niemanden aufgefordert, Leute zu | |
bedrohen oder zu beleidigen. „Leute bitte, Hass gegen Hass, das bringt | |
überhaupt nichts.“ | |
295-mal wurde dieses Video bisher angesehen. Ihr Video vom Streit im | |
Jugendzentrum dagegen inzwischen mehr als 70.000-mal. | |
26 Mar 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Inszenierung-des-Kriegs-auf-Tiktok/!5838205 | |
[2] /Fake-Video-ueber-vermeintliche-Toetung/!5840206 | |
[3] https://twitter.com/BMI_Bund/status/1505883533377683461 | |
[4] https://www.tagesschau.de/faktenfinder/angriffe-russen-fake-ukraine-101.html | |
[5] https://www.fr.de/politik/ukraine-krieg-konflikt-russland-anfeindungen-prop… | |
[6] /Kommentar-Fall-Lisa/!5269808 | |
[7] /Antislawischer-Rassismus-in-Deutschland/!5758259 | |
## AUTOREN | |
Anne Fromm | |
Luise Strothmann | |
Sonja Smolenski | |
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