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# taz.de -- Rassismus als Propagandawerkzeug: Da läuft was falsch
> Seit Kriegsbeginn wird von Angriffen auf russischsprachige Menschen in
> Deutschland berichtet. Aber darunter mischen sich Falschmeldungen.
Bild: Screenshot aus dem Film von Olessja P. auf Telegram
Das Gespräch dauert gut 30 Sekunden, als das Wort zum ersten Mal fällt.
„Das ist Rassismus“, sagt eine aufgebrachte Frauenstimme. „Was Sie jetzt
machen mit Kindern, das ist Rassismus.“ Die Frau, die das ruft, filmt die
Szene unbemerkt mit ihrem Smartphone. Sie steht in einem Jugendklub in
einem kleinen Ort in Nordrhein-Westfalen und stellt zwei Mitarbeiterinnen
zur Rede. Die Kamera zeigt die meiste Zeit den Fliesenboden. Kurz schwenkt
sie zu den Gesichtern der beiden Mitarbeiterinnen und zu dem 13-jährigen
Jungen, um den es in dem Streit geht.
Lucas, ihr Sohn, sei aus dem Jugendzentrum rausgeworfen worden, behauptet
die Sprecherin. Weil er russischstämmig ist? „Deutschland wacht auf! Was
haben unsere Kinder damit zu tun? Nur weil die russische Wurzeln haben,
werden die diskriminiert“, steht als Texteinblendung über dem Video. Mit
Schrei-Emoji.
Was in dem Jugendtreff genau passiert ist, bevor die Videoaufnahme beginnt,
darüber gibt es verschiedene Versionen. Der Jugendklub sagt: Der Junge habe
sich positiv zum Krieg in der Ukraine geäußert. Die Mutter sagt: Ihr Sohn
habe nur die Wahrheit über den Krieg gesagt.
Fest steht: Die knapp achtminütige Sequenz hat eine enorme Kraft
entwickelt. Sie hat sich rasend schnell in sozialen Netzwerken und
Messengerdiensten verbreitet. Sie hat Menschen dazu gebracht,
Google-Bewertungen, Onlinekommentare und E-Mails zu verfassen, in denen die
Mitarbeiterinnen des Jugendklubs „Unmenschen“ genannt werden, die
„irgendwann mal dafür böse bezahlen“ werden. Die Jugendorganisation der A…
hat das Video aufgegriffen und die russische Botschaft in Berlin. Harry
Lause, der Leiter des Jugendtreffs, sagt: „Der Hass hat uns überrollt.“
Der Krieg in der Ukraine ist auch ein Krieg um Informationen und
Wahrheiten. [1][Soldaten posieren in Tiktok-Videos], in Whatsapp-Gruppen
kursieren Aufnahmen von Vandalismus in russischen Supermärkten, aus
Telegram-Kanälen von Coronaleugner*innen sind Putin-Fanklubs
geworden. Dabei geht es auch immer wieder um „Russophobie“. In den sozialen
Netzwerken werden Hunderte Meldungen geteilt, kommentiert und geliked, die
zeigen sollen, wie russische Institutionen und russischsprachige Menschen
beleidigt oder angegriffen werden. Russische Lkw-Fahrer*innen berichten,
dass ihre Lkws auf deutschen Raststätten beschmiert werden;
Betreiber*innen von russischen Restaurants, dass sie von Gästen
beschimpft wurden.
Und es stimmt ja auch: Menschen, die Wurzeln in der ehemaligen Sowjetunion
haben, wie Spätaussiedler*innen, jüdische Kontingentflüchtlinge,
Russ*innen und russischsprachige Deutsche, erfahren Diskriminierung. Seit
dem Beginn des Kriegs in der Ukraine gehen bei den Behörden mehr Meldungen
über Angriffe ein. Allein die Berliner Polizei zählt seit dem 24. Februar
57 Übergriffe auf russische Institutionen und Personen. Darunter sind vor
allem Sachbeschädigung und Graffiti. Das Bundeskriminalamt gehe von rund
500 strafrechtlich relevanten Delikten mit Bezug zum Ukrainekrieg aus,
berichtete die „Tagesschau“, darunter seien vor allem Beleidigungen und
Drohungen im Internet. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier warnt vor
Hetze gegenüber russischen Menschen.
## Doch nicht alle Meldungen, die kursieren, sind tatsächlich wahr.
Am vergangenen Wochenende [2][verbreitete sich das Video einer Frau], die
behauptete, in Euskirchen sei ein 16-jähriger Junge von ukrainischen
Geflüchteten erschlagen worden. Weil er Russisch gesprochen habe. Das
Verbrechen gab es nicht, das stellte die Bonner Polizei schnell klar. Das
Bundesinnenministerium [3][warnte bei Twitter auf Russisch vor dem Fake].
Die Nachricht vom erschlagenen Russen in Euskirchen stand zuerst auf einer
Nachrichtenseite aus Russland. Die Frau, die daraus das Video gemacht hat,
hat sich mittlerweile entschuldigt und das Video gelöscht.
Bei Facebook kursierte die Meldung, [4][dass bei Hamburg die Busse eines
Unternehmens zerstört worden seien, angeblich weil der Besitzer russische
Wurzeln habe]. Zwar wurden tatsächlich Busscheiben zertrümmert, aber den
russischstämmigen Besitzer gibt es nicht. Der Zusammenhang sei frei
erfunden, sagt das Unternehmen der „Tagesschau“. Auch die Polizei sieht
kein politisches Motiv. [5][Bei Whatsapp wurde eine Sprachnachricht zigfach
weitergeleitet], in der behauptet wird, in Kehl seien ältere
russischsprachige Frauen beim Dolmetschen von ukrainischen Geflüchteten
angegriffen worden. Die Nachricht erweist sich als Fake.
## Aber was ist mit dem Video aus dem Jugendtreff?
Hövelhof ist eine kleine Stadt in Nordrhein-Westfalen, eine halbe Stunde
nördlich von Paderborn. Dort steht das Haus der offenen Tür, kurz HoT:
Mittags verbringen die Kinder aus den benachbarten Schulen hier ihre Pause,
ab 14 Uhr öffnet das Haus für die Jugendlichen aus dem Ort. Vier
Sozialarbeiter*innen arbeiten hier, 35 Stunden in der Woche ist
geöffnet. Der Instagram-Account zeigt den Alltag: Für den HipHop-Kurs
wurde gerade eine Spiegelwand gebaut, die Umwelt AG entwirft
Insektenhotels. „Wir wollen den Kindern ein zweites Zuhause sein“, sagt
Harry Lause, der Leiter des Hauses, am Telefon.
Gepostet wird das Video aus dem Jugendzentrum am 3. März zuerst auf dem
Tiktok-Kanal von Olessja P. Bis zum Krieg in der Ukraine ist sie dort kaum
aktiv. Seit Anfang März teilt sie Videos, in denen Wladimir Putin als „Der
beste Mann und President“ gefeiert wird oder in denen behauptet wird,
ukrainische Frauen hätten vor, russische Kinder zu töten.
## Auf eine Gesprächsanfrage der taz reagiert Olessja P. nicht.
Das Originalvideo aus dem Jugendtreff hat sie gelöscht. Mittlerweile
ermittelt die Polizei gegen den illegalen Mitschnitt. Aber die Stiefmutter
des Jungen, Julia P., hat es auf ihrem Instagram-Account gepostet. Dort
steht es immer noch, von dort wurde es weiterverteilt, zu Facebook und
Telegram.
Sie wolle nachfragen, wegen ihres Sohns, was da abgehe, spricht Olessja P.
in dem Video die Mitarbeiterin des Jugendklubs an. Warum er rausgeflogen
sei. Die Mitarbeiterin antwortet: Lucas wurde nicht aus dem Jugendzentrum
geschmissen. Ihm wurden sein Ehrenamt im Jugendrat und sein Dienst an der
Theke entzogen. Positionen, in denen er das Jugendzentrum vertritt. Der
Grund? „Weil das Volksverhetzung ist“, sagt die Mitarbeiterin. Wenn ein
Junge sage, die Ukraine sei selbst schuld am Krieg und dort würden keine
Frauen und Kinder getötet, sei das eine Grenze.
Die Kamera läuft weiter, alle reden durcheinander. Fallen sich ins Wort.
„Habt ihr schon gelesen, was in Berlin abgeht?“, kiekst Lucas mit hoher
Stimme. „Die Lehrer gehen auf die Schüler los.“ So wie jetzt hier auch. Das
sei Diskriminierung, Olessja P. ruft: „Wissen Sie, wie viele Kinder im
Donbass gestorben sind? Von ukrainischen Bomben. Die haben drauf
geschrieben: Das ist für eure Kinder, Donbass! Und jetzt müssen unsere
Kinder leiden?“
Es ist kein Zufall, dass es so oft um Kinder geht, wenn in Telegram-Kanälen
und auf Facebook-Seiten über „Russophobie“ gesprochen wird. Kinder und
Jugendliche sind am deutlichsten als unschuldige Opfer markierbar.
Bei Telegram ruft eine Gruppe mit dem Namen „GOR – Zivilschutz der
Russischsprachigen“ dazu auf, russische Kinder zu verteidigen. Eine
Onlinepetition von russischen Müttern fordert die Zivilgesellschaft auf,
russische Kinder vor Diskriminierung in der Schule zu schützen. Einige der
Aufrufe haben es aus dem Internet auf die Straße geschafft. In Dresden und
Berlin haben Menschen gegen die Diskriminierung von russischen Kindern
protestiert. Unter dem Namen „Demokratie, Stopp Krieg, keine Propaganda in
der Schule“ fanden Kundgebungen an der Frauenkirche in Dresden und vor dem
Brandenburger Tor statt. In beiden Städten waren unter den Teilnehmenden
auch Mitglieder der Nachtwölfe, einer prorussischen, nationalistischen
Motorradgang.
Demonstrationen, bei denen Nationalist*innen solche Stimmungen
ausnutzen, gab es in Deutschland schon 2016 – im Fall „Lisa“. Das
13-jährige Mädchen aus einer deutsch-russischen Familie war auf dem
Schulweg in Berlin-Marzahn verschwunden. Als sie nach 30 Stunden wieder
auftauchte, erzählte sie ihren Eltern, sie sei von drei „Südländern“
festgehalten und vergewaltigt worden. Die Geschichte verbreitete sich
schnell, wurde ein großes Thema im russischen Fernsehen. Die NPD und ein
Pegida-Ableger meldeten Demonstrationen an, der russische Außenminister
schaltete sich ein.
Als klar wurde, dass sich Lisa wegen Schulproblemen bei einem Bekannten
versteckt hatte, [6][war die Geschichte von den vergewaltigenden
Flüchtlingen schon in der Welt und verschwand nie mehr ganz]. Für Wladimir
Putin, der sich deutlich von Angela Merkels Flüchtlingspolitik abgrenzen
wollte, war das nützlich.
## Das Video aus dem Jugendtreff in Hövelhof ist keine Fälschung
Der Jugendtreff bestätigt, dass der Vorfall stattgefunden hat. Aber auch
reale Vorfälle haben eine Funktion in Desinformationskampagnen.
Kurz nachdem Olessja P. das Video hochgeladen hat, wird es in einem großen
Telegram-Kanal gepostet. „Wahnsinn!!“, steht darunter. „Russischer Junge
wird aus Jugendhaus Hövelhof ausgeschlossen, weil er sich entgegen dem
Mainstream-Narrativ zum Ukrainekonflikt geäußert hat.“
Der Kanal „Servus Deutschland“ existiert seit Herbst 2020, knapp 17.500
Abonnent*innen folgen ihm. Bis zum Ukrainekrieg ging es darin vor allem
um Corona: die „Tötungsmaschine“ Impfung, Beleidigungen und Gewaltfantasien
gegenüber Politiker*innen. Mittlerweile geht es in der Gruppe auch um den
Krieg in der Ukraine, meist mit prorussischem Framing. Das Video von
Olessja P. ist nicht das einzige, das dort gepostet wurde und
Russenfeindlichkeit beweisen soll. Aber es ist eines, das bei vielen
Nutzer*innen verfängt.
Nur zwei Minuten, nachdem das achtminütige Video in dem Kanal gepostet
wurde, teilt eine Nutzerin darunter die Website des Jugendzentrums.
„Schreibt denen alle – je mehr, desto besser, dass sie Rassisten sind.“
Andere posten die Mailadresse und die Telefonnummer, ein Foto des
Eingangsportals des Hauses. Mehrere rufen dazu auf, dem Jugendzentrum
schlechte Bewertungen bei Google zu geben.
## Bei Facebook passiert dasselbe. „Brauchen wohl eine gute Bewertung.
Zwinkersmily“, schreibt jemand unter das Video
Es folgen antisemitische, holocaustrelativierende Bewertungen wie: „Die
Leiterin sowie alle Mitarbeiter werden sich vor den Nürnberger Tribunalen
verantworten müssen. Jeder dieser Unmenschen wird danach nicht mehr in den
Berufszweig tätig sein, nach dem Urteil“ – „Ich bin entsetzt über das
Verhalten dieser Pädagogen“ – „Es werden russische Schüler diskriminier…
weil sie die Wahrheit sagen. So was gab es zuletzt im Dritten Reich.
Diskriminierung, Unterdrückung der Meinungsfreiheit. Ekelhaft.“
Harry Lause, Chef der Einrichtung, ahnt von all dem nichts, als er am
Freitag in sein Büro kommt. Am Tag zuvor war im Jugendzentrum das Gespräch
mit der Mutter und dem Jungen eskaliert.
Die Vorgeschichte des Videos erzählt Harry Lause so: Der Jugendliche komme
seit Jahren in das Jugendzentrum. Er sei sehr engagiert gewesen. Für einen
kleinen Lohn habe er an der Theke Cola und Chips verkauft. Außerdem war er
als ehrenamtliches Mitglied in den Jugendrat gewählt worden, eine Gruppe
aus sechs Jugendlichen, die bei wichtigen Entscheidungen einbezogen wird.
Ein paar Tage vor dem Video hätten sich Jugendliche und Erwachsene im
Jugendzentrum über den Krieg in der Ukraine unterhalten. Der Junge habe
sich da positiv zum Krieg in der Ukraine geäußert, sagt Lause am Telefon.
„Das konnten wir so nicht stehen lassen“, sagt Harry Lause. „Einen
Angriffskrieg zu rechtfertigen steht den Werten, die wir hier vertreten,
absolut entgegen.“
Schon vor dieser Diskussion hatten die Mitarbeiter*innen intern
besprochen, wie sie mit dem Thema Krieg umgehen. Wie reagieren sie auf
Kinder, die Angst haben? Welche Aussagen sind rote Linien? Die sah das Team
in der Diskussion mit dem Jungen überschritten.
Gemeinsam hätten die Mitarbeiter*innen entschieden, dem Jungen seine
Arbeit an der Theke und seine Position im Jugendrat zu entziehen. „Die
Entscheidung ist uns nicht leicht gefallen, weil das ein toller Junge ist,
der eine super Tendenz hat. Aber durch sein Ehrenamt repräsentiert er das
Haus ja auch nach außen“, sagt Lause. In einem ruhigen Gespräch hätten sie
ihm das mitgeteilt. Hausverbot habe er nicht erhalten, er könne weiter in
das Jugendzentrum kommen, dort auch weiter seine private Meinung äußern.
## Kurz darauf kam der Junge mit seiner Mutter zurück in den Jugendtreff
und das Video entstand
Nachdem das Video online geht, gehen überall Kommentare ein: auf dem
Instagram-Profil des Jugendklubs, auf seiner Website, bei Google. E-Mails
kommen. 10. 20. 40. Am Ende sind es rund 60. Einmal hat Lause 73 verpasste
Anrufe auf dem Telefon. Unter den Menschen, mit denen er telefoniert hat,
waren einige, die wirklich reden wollten, andere hätten ihn beschimpft.
Einige dieser Mails kann man immer noch in dem Telegram-Kanal nachlesen.
Die Verfasser haben sie dort selbst veröffentlicht. Einer schreibt, die
Mitarbeiter*innen des Jugendklubs ließen sich einspannen von „rot-grün
indoktrinierten Schlafschafen“, die „mit Hilfe der Politmarionetten und
von Rothschild bezahlten Lügenmedien momentan die New World Order mit
vorantreiben“.
Dass reale Ereignisse instrumentalisiert werden und Tatsachen verdreht,
beobachtet Sergej Prokopkin, Rechtsanwalt und Jurist, momentan regelmäßig.
„Wenn jemand auf der Straße beschimpft wird, heißt es später im russischen
Staatsfernsehen: ‚Auf deutschen Straßen werden alle Russ*innen
beschimpft.‘ “ Die russische Regierung spiele sich als Beschützer auf. „…
Nachricht dahinter lautet: ‚In Europa seid ihr nicht sicher, nur der Kreml
kann euch schützen.‘ “
Prokopkin setzt sich gegen Antislawismus in Deutschland ein. Er hält
Vorträge, postet Informationen auf seinen Onlinekanälen und richtet seine
Aufrufe auch an die russischsprachige Community.
Viele der aktuell kursierenden Vorfälle in den sozialen Medien stuft
Prokopkin als Desinformationskampagne Russlands ein. „Die russische
Botschaft wendet gezielt Falschinformationen an als Teil seiner hybriden
Kriegsführung, um für Chaos und Verunsicherung in der russischsprachigen
Community zu sorgen“, sagt Prokopkin am Telefon.
Schon die Frage, wer welchen Begriff benutzt, ist politisch. Die
Bezeichnung „Russophobie“, den die russische Regierung verwende, sei
ungenau. Er gäbe vor, nur russische Menschen würden diskriminiert. „Die
russischsprachige Community ist divers, nicht alle, die Russisch sprechen,
stammen aus Russland.“ Prokopkin verwendet daher den Begriff
[7][Antislawismus], auch um sich von dem durch Putin und Lukaschenko
gesetzten Narrativ zu distanzieren. „Antislawismus gibt es seit
Jahrhunderten, er ist real. Diese Form der Diskriminierung betrifft aber
nicht nur russischsprachige Menschen, sondern alle, die als ‚Slaw*innen‘
gelesen werden.“ Und das sind viele: In Deutschland leben rund 3,5
Millionen Menschen mit Migrationshintergrund aus der ehemaligen
Sowjetunion. Das macht sie zur größten Einwanderungsgruppe.
Wer nach dem Begriff Russophobie sucht, findet schnell die Akteur*innen,
die Putins Erzählung verbreiten oder von ihr profitieren wollen.
Unter dem Video aus Hövelhof schaltet sich auch die AfD ein. Die Junge
Alternative Paderborn, die Jugendorganisation der AfD, schreibt, sie werde
sich „drum kümmern“. „Das wäre gut“, schreibt ein anderer Nutzer dazu.
„Schon allein für die Kinder.“
Die AfD besetzt das Themenfeld bewusst. Mehrere AfDler haben
Interessenvereinigungen für Russlanddeutsche gegründet: In
Nordrhein-Westfalen gibt es die Gruppe „Russlanddeutsche für die AfD“. Ein
Vertreter der AfD im Kreis Westfalen-Lippe, also jenem, in dem auch das
Jugendzentrum steht, Denis Pauli, hat im vergangenen Jahr den „Zentralrat
der Russlanddeutschen“ gegründet. Im Jahr 2018 haben Abgeordnete der AfD
den Internationalen Volksrat der Russlanddeutschen gegründet. Sein
Vorsitzender ist der in Kasachstan geborene ehemalige Bundestagsabgeordnete
Waldemar Herdt.
Die Vereine rufen im Internet dazu auf, ihnen zu melden, wenn russische
Menschen in Deutschland diskriminiert werden. Mehrere Mitglieder von
Landes- und Kreisverbänden der AfD warnen in den sozialen Medien vor
„Russophobie“.
Auch das russische Staatsfernsehen berichtet seit dem Angriff auf die
Ukraine vermehrt von angeblichen Überfällen auf russische
Staatsbürger*innen in Europa. Ein Beitrag des staatlichen Kanals
Rossija 24 setzt die „Russophobie“ im Westen mit der Verfolgung von
Jüdinnen und Juden im Dritten Reich gleich.
In dem Telegram-Kanal, in dem das Video aus dem Jugendklub geteilt wurde,
hat jemand die Mailadresse [email protected] in die Kommentare
gepostet. „Sofort melden solche Vorfälle“, hat die Person dazu geschrieben.
Die Botschaft hat die E-Mailadresse sechs Tage nach Kriegsbeginn
eingerichtet. Dort können sich alle melden, die gemobbt, belästigt, bedroht
oder angegriffen wurden. Allein in den ersten drei Tagen seien „mehrere
hundert Nachrichten“ eingegangen, heißt es bei der Botschaft. In loser
Reihenfolge veröffentlicht sie nun Listen mit angeblichen Vorfällen. Sechs
Listen gibt es bislang, mit jeweils etwa 10 bis 20 Vorfällen. Die wenigsten
lassen sich überprüfen. Die meisten, die sich überprüfen lassen, stellen
sich als falsch oder zumindest nicht ganz richtig heraus.
Der Vorfall in Hövelhof landet schließlich auch auf der Website der
russischen Botschaft. „In einem Jugendzentrum der Stadt Hövelhof
(Nordrhein-Westfalen) wurde ein 13-jähriger Jugendlicher von der Ausübung
seiner Freiwilligenaufgaben abgesetzt, weil er sich weigerte, die in
Deutschland dominierende Meinung zu den Entwicklungen in der Ukraine zu
unterstützen“, steht dort jetzt.
Fünf Tage dauert die Empörungsflut im Jugendzentrum in Hövelhof an.
Mitarbeiter*innen der Gemeinde unterstützen die Sozialarbeiter*innen,
löschen Kommentare im Netz, beantworten Anfragen.
## In Hövelhof leben 16.000 Menschen, jeder hier kennt das Jugendhaus
Das Video wird zum Stadtgespräch. Besonders für die Kinder habe ihm das
leid getan, sagt Lause. In das Jugendzentrum kämen viele Kinder mit
russischem Hintergrund, sie seien von der Aufregung stark verunsichert
gewesen. In den ersten Tagen nach dem Video seien weniger Kinder gekommen
als sonst. „Wir arbeiten seit 20 Jahren daran, den Kindern und Jugendlichen
Halt zu geben. Wir haben einen guten Ruf, die Leute im Ort vertrauen uns“,
sagt Lause. „Nach dem Video hat es sich so angefühlt, als sei das alles
über Nacht weggewischt worden.“
Er lerne daraus, wie zerrissen die Kinder selbst sind. „Eines hat mir
gesagt: Ich habe zwei Herzen in meiner Brust. Ich weiß selbst nicht, was
ich über diesen Krieg glauben soll.“
Einen Tag nachdem Olessja P. das Video aus dem Jugendzentrum hochgeladen
hat, veröffentlicht sie ein weiteres Video. Mit Sonnenbrille läuft sie
durch ein Wohngebiet, spricht an der Kamera vorbei. Sie bedankt sich für
die Unterstützung. „Allerdings, mein Video ist irgendwie falsch
rübergekommen“, sagt sie. Sie habe niemanden aufgefordert, Leute zu
bedrohen oder zu beleidigen. „Leute bitte, Hass gegen Hass, das bringt
überhaupt nichts.“
295-mal wurde dieses Video bisher angesehen. Ihr Video vom Streit im
Jugendzentrum dagegen inzwischen mehr als 70.000-mal.
26 Mar 2022
## LINKS
[1] /Inszenierung-des-Kriegs-auf-Tiktok/!5838205
[2] /Fake-Video-ueber-vermeintliche-Toetung/!5840206
[3] https://twitter.com/BMI_Bund/status/1505883533377683461
[4] https://www.tagesschau.de/faktenfinder/angriffe-russen-fake-ukraine-101.html
[5] https://www.fr.de/politik/ukraine-krieg-konflikt-russland-anfeindungen-prop…
[6] /Kommentar-Fall-Lisa/!5269808
[7] /Antislawischer-Rassismus-in-Deutschland/!5758259
## AUTOREN
Anne Fromm
Luise Strothmann
Sonja Smolenski
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