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# taz.de -- Prozess wegen Massenmord in KZ: Experte bezweifelt Erinnerungslücke
> Im Verfahren gegen einen 101-jährigen Angeklagten schildert ein Zeuge den
> unmenschlichen Alltag im Lager Sachsenhausen.
Bild: Prozess in einer Turnhalle: der 101-jährige Angeklagte im Prozess Ende F…
Brandenburg dpa | Im Prozess gegen einen mutmaßlichen ehemaligen
SS-Wachmann des Konzentrationslagers Sachsenhausen hat ein psychiatrischer
Sachverständiger die mögliche Verdrängung der Beteiligung an den
NS-Verbrechen durch den Angeklagten bezweifelt. Der 101-jährige Angeklagte
hat eine Tätigkeit in dem KZ während des Zweiten Weltkriegs in dem Prozess
bislang energisch bestritten.
Falsche Erinnerungen seien zwar bei allen Menschen ein bekanntes Phänomen
und hätten oft den Zweck, nach traumatischen oder beschämenden Erlebnissen
ein positives Selbstbild zu erhalten, erläuterte der Sachverständige am
Freitag dem Gericht. Solche falschen Erinnerungen könnten sich im Alter
verfestigen, je länger die Ereignisse zurücklägen. Dies betreffe aber
kurze, abgegrenzte Vorfälle. Eine falsche Erinnerung für einen Zeitraum
über mehr als drei Jahre sei kaum denkbar, erklärte der Sachverständige.
In dem Prozess vor dem Landgericht Neuruppin ist der 101-Jährige aus
Brandenburg/Havel angeklagt, als damaliger Wachmann in dem KZ von 1942 bis
1945 Beihilfe zum Mord an mindestens 3.518 Häftlingen geleistet zu haben.
Das Verfahren wird aus organisatorischen Gründen in einer Sporthalle in
Brandenburg/Havel geführt.
Der Angeklagte hat in dem Verfahren bislang bestritten, überhaupt in dem
Lager gewesen zu sein. Stattdessen will er in der fraglichen Zeit als
Landarbeiter bei Pasewalk (Mecklenburg-Vorpommern) gearbeitet haben. Die
Tätigkeit eines SS-Wachmanns mit seinem Namen, Geburtsdatum und Geburtsort
ist aber durch viele Dokumente belegt. Auch seine Mutter und sein Vater
hatten in Briefen an deutsche Behörden angegeben, dass ihr Sohn bei der SS
in Oranienburg diene.
## Überlebender sagt aus
Am Freitag schilderte in dem Prozess auch erneut ein Überlebender aus
Frankreich den unmenschlichen Lageralltag. Der 98-jährige Marcel Suillerot
aus der Nähe von Dijon sagte dem Gericht in einer Videovernehmung, dass er
1943 als 20-Jähriger mit vielen weiteren französischen Gefangenen in das KZ
gekommen sei, nachdem er in Frankreich Flugblätter gegen die deutschen
Besatzer verteilt habe. „Die SS-Männer sagten uns: ‚Ihr geht durch das Tor
in das Lager hinein und durch den Schornstein wieder hinaus‘“, berichtete
er.
Suillerot berichtete, dass er anfangs gemeinsam mit anderen Häftlingen
Zementsäcke schleppen musste. „Wer einen Sack fallen ließ, wurde wegen
Sabotage von den Wachleuten tot geschlagen“, berichtete der 98-Jährige. Bei
stundenlangen Appellen in extremer Kälte seien Kameraden erfroren. In den
Baracken hätten sehr schlechte hygienische Bedingungen geherrscht. Wegen
geringer Anlässe seien Mithäftlinge grausam misshandelt und erhängt worden,
berichtete der Überlebende.
Im April 1945 wurde Suillerot mit Tausenden anderen Häftlingen von der SS
auf den Todesmarsch in Richtung Norden geschickt. Wer nicht mehr
weiterlaufen konnte, sei von den Wachleuten getötet worden. Von 32.000
Häftlingen hätten nur 18.000 den Marsch überlebt, berichtete der
98-Jährige. In der Nähe von Schwerin seien die Überlebenden von
sowjetischen Soldaten befreit worden.
## Prozess vor Abschluss
Der seit Oktober laufende Prozess steuert nach Angaben von
Gerichtssprecherin Iris le Claire auf einen Abschluss zu. Die
Beweisaufnahme könne möglicherweise in der kommenden Woche abgeschlossen
werden. In diesem Fall könnten am 24. März die Plädoyers von
Staatsanwaltschaft, Verteidigung und den fünf Nebenkläger-Vertretern
beginnen. Ein Urteil sei dann im April zu erwarten.
11 Mar 2022
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