| # taz.de -- Luisa Neubauer über Klima und Krisen: „Es ist Zeit für Systemfr… | |
| > Wenn der Koalition der gesellschaftliche Frieden in Deutschland wichtiger | |
| > sei als die Menschen in der Ukraine, solle sie das sagen, fordert | |
| > Neubauer. | |
| Bild: „Warum zum Henker wagt die Regierung kein Tempolimit?“, fragt Luisa N… | |
| taz: Frau Neubauer, am Freitag findet der [1][zehnte globale Klimastreik | |
| von Fridays for Future] statt. Haben wir derzeit nicht andere Probleme? | |
| Luisa Neubauer: Wir streiken, gerade weil wir auch andere Probleme haben. | |
| Es gibt heute keine singulären Krisen mehr. Es ist Zeit, das anzuerkennen | |
| und die Systemfragen anzugehen. Nie war es offensichtlicher, dass wir eine | |
| Energiewende brauchen. Trotzdem müssen wir dafür kämpfen, weil wir sehen, | |
| dass die Regierung selbst jetzt zu allen Irrationalitäten bereit ist. | |
| Welche Systemfragen meinen Sie – den Kapitalismus abschaffen? | |
| Wenn man – wie Wirtschaftsminister Robert Habeck – von Putins Gas wegwill | |
| und dafür nach Katar reisen muss, steht man vor einer Systemfrage. Hier wie | |
| da finanzieren wir die Gegner der Demokratie und erhöhen das Risiko eines | |
| Klimakollapses. Um sich davon zu befreien, muss man die großen Hebel | |
| umsetzen und die Systeme – Energie, Mobilität, Landwirtschaft und so weiter | |
| – humanisieren, demokratisieren und dekarbonisieren. | |
| Nachrichten über zu viel Wärme in der [2][Arktis], globale Emissionsrekorde | |
| oder den [3][IPCC-Bericht] dringen zurzeit kaum durch. Wer soll sich | |
| aktuell für den Streik interessieren? | |
| Uns geht es nicht darum, dass sich Menschen für den Klimastreik | |
| interessieren, sondern dass Menschen die Klimakrise als das wahrnehmen, was | |
| sie ist: die größte Bedrohung der Menschheit. Und dass sie entsprechend | |
| handeln. Dafür ist der Streik nur ein Vehikel. | |
| Mit den 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr sind für die kommenden | |
| Monate andere Themen gesetzt als das Klima. | |
| Es ist Krieg und erst mal logisch, dass auch über Militärausgaben | |
| diskutiert wird. Aber was sollte uns davon abhalten, gleichzeitig das große | |
| Ganze in den Blick zu nehmen? Ein paar Stimmen, die sich gekränkt fühlen, | |
| wenn sie keine alleinige Diskurshoheit mehr haben? Tja. Eine brennende | |
| Frage ist: Wie sichern wir Demokratien? Wir brauchen Unabhängigkeit von | |
| Autokraten und Energieunabhängigkeit. Und es gibt ja keine Regel, laut der | |
| man in einem Krieg, der durch den Verkauf fossiler Energien finanziert | |
| wird, nicht über die Transformation von Energiesystemen sprechen kann. | |
| Bei einigen Kohlekraftwerken [4][wurde jetzt schon die Laufzeit | |
| verlängert]. Ist es richtig, wie Robert Habeck sagt, im derzeitigen | |
| Ausnahmezustand nicht an Klima-Deadlines festzuhalten, sondern flexibel zu | |
| reagieren? | |
| Ich möchte sehen, wie Robert Habeck das den Leuten erklärt, die vor der | |
| Klimakatastrophe auf der Flucht sind. Wie sollen die flexibel sein? Ja, wir | |
| werden uns mit sehr harten Energiedebatten auseinandersetzen müssen. Aber | |
| ich ermuntere uns, sorgfältig auseinanderzuhalten, wo wir von Machbarkeit | |
| und wo von Politik reden. Ich verstehe, dass man das vermischen möchte, | |
| wenn man eine grüne Regierung ist und die Illusion aufrechterhalten will, | |
| dass man alles tue, was möglich sei. Aber das darf uns nicht davon abhalten | |
| zu gucken, wer diesen Krieg finanziert, was Putin stark macht und welche | |
| politischen Konsequenzen gezogen werden müssen, wenn wir das anerkennen. | |
| Sie fordern den kompletten Boykott russischer Energieträger. Das würde eine | |
| [5][schwere Wirtschaftskrise auslösen und sich auch auf arme Länder | |
| auswirken]. | |
| Der russische Gasimport ist sehr schwer zu ersetzen, das stimmt. | |
| Kurzfristig muss man sich fragen, was wir stattdessen reduzieren können. | |
| Für soziale Gerechtigkeit braucht es soziale Politik. Das heißt aber nicht, | |
| dass man denjenigen, die sich das leisten können, nichts abverlangen darf. | |
| Die Bundesregierung tut so, als gäbe es ein Recht auf Energieverschwendung. | |
| Warum zum Henker traut sie sich nicht, ein Tempolimit zu verabschieden? | |
| Wenn sie den privilegiertesten Teil der Gesellschaft, der am meisten | |
| Energie verbraucht, mit einer Handvoll Maßnahmen zum kollektiven | |
| Energiesparen auffordert … | |
| … dann wäre das immer noch keine Transformation des Energiesektors, sondern | |
| eine Individualisierung der Verantwortung. | |
| Man würde zunächst akut Spannung aus der Situation nehmen. Wir sehen doch | |
| gerade, wie sich Menschen organisieren, eine wehrhafte Demokratie gestalten | |
| und ernst genommen werden wollen. Wenn die Regierung stattdessen meint, das | |
| Tempo auf der Autobahn sei wichtiger als die Solidarität mit den Menschen, | |
| die in Mariupol vor den Bomben fliehen, muss sie dazu stehen und das nicht | |
| mit einem pseudosozialen Frieden verteidigen. Den Frieden hier und die | |
| Ukraine gegeneinander auszuspielen, finde ich das Allerletzte. | |
| Die Politiker*innen sollen also an den guten Willen der | |
| Bürger*innen appellieren? | |
| Nein, sie sollen ehrlich zugeben, dass wir kein Recht auf | |
| Energieverschwendung haben. Und dass jeder Liter Öl, den wir unnötig | |
| verbrauchen, Putin zugutekommt. Es braucht einen Plan und eine Strategie. | |
| Ich war nicht dabei, als es 1973 die autofreien Sonntage gab, aber ich habe | |
| von niemandem gehört, dass er das als schwarzen Tag erinnert. | |
| Ist Habecks Prioritätensetzung ein Verrat der Grünen an der Klimabewegung? | |
| Ach, ehrlicherweise kann ich hier mit dem Begriff des Verrats nicht so viel | |
| anfangen. Was wir gerade sehen, ist, dass die klimafreundlichste Regierung, | |
| die wir jemals hatten, vor offensichtlichen Systemfragen steht und | |
| scheinbar nicht bereit ist, sie ehrlich und zukunftsgewandt zu beantworten, | |
| um langfristig Lebensgrundlagen zu bewahren. | |
| Welche Konsequenz ziehen Sie daraus? | |
| Wir stellen fest: Am Ende des Tages steht und fällt alles nicht damit, wer | |
| gerade regiert, sondern damit, was wir als Zivilgesellschaft damit machen. | |
| Wann kommt der endgültige Bruch der Klimabewegung mit den Grünen? | |
| Was soll denn dann folgen – sollen wir auf den Tisch hauen und sagen „Das | |
| war’s jetzt“? Dass die Grünen nicht der parlamentarische Arm der | |
| Klimabewegung sind, wissen alle Beteiligten. Darum geht es auch nicht. | |
| Es braucht Parteien, die ernsthaft und integer die ökologischen Fragen ins | |
| Parlament und die Regierung tragen. Das sollten so viele Parteien sein wie | |
| möglich. Ich finde es absurd, die größte Katastrophe der Menschheit auf | |
| eine Frage zwischen einer Partei und einer Bewegung zu reduzieren. | |
| Wie kann Fridays for Future zukünftig Druck ausüben? Die | |
| Mobilisierungskraft hat über die Jahre abgenommen, Gesellschaft und Politik | |
| haben sich an die Klimaproteste gewöhnt. | |
| Im Gegensatz zu jedem anderen Politikfeld braucht die Klimapolitik | |
| permanent eine externe Erinnerung daran, dass es sie überhaupt gibt. Das | |
| ist zwar eine komplett abstruse Scheinlogik, aber solange man gute | |
| Klimapolitik sehen will, wird man Druck machen müssen. Ein Teil davon | |
| müssen Massen auf der Straße sein. Das hat auch damit zu tun, dass sich | |
| immer irgendein Politiker in die Hose macht, wenn er daran denkt, dass man | |
| der Gesellschaft ein paar kleine Klimamaßnahmen zumutet. | |
| Aber was kann FFF noch erreichen? In den Talkshows sitzen Sie schon lange, | |
| Greta Thunberg hat schon vor den Vereinten Nationen in New York gesprochen, | |
| die Zahlen auf der Straße sind nicht mehr zu toppen. Eine Klimapolitik, die | |
| 1,5 Grad erreicht, folgt daraus zwar nicht, aber das haben Sie | |
| offensichtlich nicht in der Hand. | |
| Die Geschichte, dass wir einmal Menschen mobilisiert haben und die Politik | |
| davon jetzt jahrelang zehren kann, funktioniert ja so nicht. In dem | |
| Augenblick, in dem wir nicht mehr auf die Straße gehen, erwächst das | |
| Narrativ: Die Leute wollen es nicht mehr. Dem stellen wir uns | |
| ununterbrochen entgegen. Der Zuspruch sinkt auch nicht. Das | |
| Klimabewusstsein der Leute ist nach wie vor hoch. Wir sprechen immer | |
| weitere Teile der Gesellschaft an, für die Klima vorher kein Thema war. | |
| Gleichzeitig wird die Pendlerpauschale erhöht und Neuwagen sind immer noch | |
| beliebter, je größer sie sind. | |
| Was erwartet man? So, wie sich der saarländische Ministerpräsident Tobias | |
| Hans (CDU) kürzlich mit der Handykamera vor eine Tankstelle gestellt und | |
| eine Spritpreisbremse gefordert hat, weil bei 2,12 Euro für Diesel | |
| wirklich ein Punkt erreicht sei – genau so wurde in den vergangenen | |
| Jahrzehnten doch Verkehrspolitik gemacht. Jahre der populistischen | |
| Glorifizierung von teuren und unsozialen Abhängigkeiten vom eigenen Auto | |
| haben Folgen. Man kann nicht erwarten, dass sich diese Einstellungen ohne | |
| massive Aufklärung und eine neue politische Ehrlichkeit ändern, schon gar | |
| nicht von jetzt auf gleich. Mit 17 wollte ich unbedingt einen Roadtrip | |
| durch Europa machen. Ich dachte, ich wäre dann frei, weil mir das alle | |
| amerikanischen Teenie-Filme vorgemacht haben. Die Fossilität prägt uns und | |
| dringt in unsere Träume ein. | |
| Kleine Teile der Bewegung haben sich entkoppelt und damit sehr viel | |
| Aufmerksamkeit erreicht. Ist die „letzte Generation“ mit ihren | |
| Autobahnblockaden ein Zeichen dafür, dass die Bewegung sich doch | |
| radikalisieren muss? | |
| Es ist gut und wichtig, dass die Klimabewegung wächst und sich | |
| diversifiziert. Die Zeit, in der die gesamte Klimabewegung zusammen mit den | |
| Grünen und den Ökoverbänden in eine Ecke gedrängt wurde und sich alle einig | |
| sein mussten, ist vorbei. Diejenigen, die unbeteiligt am Rand stehen und | |
| kommentieren, die Klimabewegung habe dieses oder jenes falsch gemacht, | |
| würde ich als Allererstes fragen: „Wo warst du in diesem Augenblick?“ | |
| Luisa Neubauer ist am [6][30.04. auch beim taz lab 2022], dem | |
| Jahreskongress der taz, dabei. Unter dem Motto „Klima und Klasse“ | |
| diskutiert sie um 10 Uhr mit Marie-Agnes Strack-Zimmermann, moderiert von | |
| Barbara Junge. | |
| 24 Mar 2022 | |
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| [4] https://www.sueddeutsche.de/muenchen/muenchen-heizkraftwerk-nord-umstellung… | |
| [5] /Debatte-um-Energieboykotte/!5839853 | |
| [6] /programm/2022/tazlab2022/de/events/1193.html | |
| ## AUTOREN | |
| Katharina Schipkowski | |
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