# taz.de -- Antiziganismusbeauftragter über sein Amt: „Es beschränkt sich n… | |
> Mehmet Daimagüler bekämpft Antiziganismus. Die Diskriminierung von Sinti | |
> und Roma hänge auch mit dem nicht aufgearbeiteten Völkermord zusammen. | |
Bild: Protest von ehemaligen Bewohner:innen eines geräumten Camp in Berlin, in… | |
taz: Herr Daimagüler, Sie sind der erste Beauftragte der Bundesregierung | |
gegen Antiziganismus. Es gibt schon eine Antirassismusbeauftragte, sie | |
wurde nur kurz vor Ihnen berufen. Warum braucht es Sie? | |
Mehmet Daimagüler: Die Minderheit der Sinti und Roma lebt seit | |
Jahrhunderten in Deutschland. Es gibt keinen Lebensbereich, in dem diese | |
Menschen keine Spuren hinterlassen haben, egal ob Kunst, Kultur, Wirtschaft | |
oder Gesellschaft. Zugleich sind sie bis heute mit einem tief sitzenden | |
Antiziganismus konfrontiert. Es ist gut, das Engagement auf verschiedene | |
Bundesressorts zu verteilen: im Kanzleramt die | |
[1][Antirassismusbeauftragte], im Bundesinnenministerium der | |
Antisemitismusbeauftragte und ich im Bundesfamilienministerium. Ich fände | |
es schwierig, all die Phänomene, die natürlich Parallelen, aber eben auch | |
Unterschiede haben, einfach unter einem Dach zusammenzufassen. Am Ende des | |
Tages ist es auch eine Ressourcenfrage: Man kann sich nicht zerreißen. Und | |
letztlich beraten wir alle die Bundesregierung und werden dabei | |
zusammenarbeiten. | |
Was sind die Besonderheiten des Antiziganismus? | |
Die Hetze und Ächtung, die Sinti und Roma erfahren, beschränkt sich lange | |
nicht auf Rechte und Nazis, sondern ist gesellschaftlich akzeptiert, das | |
zeigen Bevölkerungsumfragen seit Jahren sehr eindrücklich. Es gibt eine | |
große Selbstverständlichkeit, mit der die übelsten Verhaltensweisen | |
gerechtfertigt werden. Menschen dieser Minderheit werden ständig pauschal | |
mit Verwahrlosung und Kriminalität in Verbindung gebracht und so unter | |
polizeilichen Generalverdacht gestellt. Die heutigen Diskussionen um | |
Sippen- und [2][Clankriminalität] erinnern sehr unheilvoll an frühere | |
Zeiten, in denen dieses Konstrukt der kriminellen Minderheit geprägt wurde. | |
Aus der Verfolgungs- und Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten ergibt | |
sich zudem eine besondere Verantwortung gegenüber Sinti und Roma und der | |
Bekämpfung des Antiziganismus. | |
Während des NS-Völkermords an den Sinti und Roma wurden zwischen 220.000 | |
und 500.000 Menschen ermordet. Welche Bedeutung hat das für die | |
Lebensrealität der Menschen heute? | |
Wie sind wir mit dem Völkermord an diesen Menschen umgegangen? Die Wahrheit | |
ist: gar nicht. Das Gerede von einer Stunde null ist ja in vieler Hinsicht | |
falsch, aber gerade mit Blick auf Sinti und Roma ist es in geradezu | |
grotesker Weise falsch. In Brandenburg an der Havel findet derzeit ein | |
[3][Prozess gegen einen ehemaligen SS-Wachmann des KZ Sachsenhausen] statt. | |
Ich vertrete eine Nebenklägerin. Sie ist Sintezza, ihr Vater wurde dort | |
ermordet. Ihre Berichte von der damaligen Verfolgung sind schlimm. Was mich | |
aber noch mehr erschüttert hat, ist, wie es nach dem Krieg weiterging. | |
Und zwar? | |
Ausgerechnet Polizeibeamte, die an der Verfolgung von Sinti und Roma | |
mitgewirkt haben, wurden später von Gerichten bei | |
Opferentschädigungsverfahren als Zeugen gehört. Und natürlich beteuerten | |
sie, die Menschen seien nicht aus rassistischen Gründen, sondern zur | |
Kriminalitätsbekämpfung ins Lager gekommen – mit der Folge, dass die | |
Entschädigungsanträge von Betroffenen abgelehnt wurden. Polizeibehörden | |
haben die Repressionen und Sondererfassung gegen die Minderheit nach 1945 | |
fortgesetzt. Das Konstrukt von Sinti und Roma als Kriminelle hat Eingang | |
gefunden bis tief in die Gesellschaft. | |
Das hat auch viel damit zu tun, die eigene Verantwortung von sich zu | |
weisen. Damit Staat und Gesellschaft unschuldig sein können, müssen die | |
Opfer schuldig sein. | |
Es passierte also eine Schuldumkehr. | |
Ja, und das zieht sich durch bis heute. Es ist auch ein ganz gemütlicher | |
Weg, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Da geht ein Kommunalpolitiker | |
hin und beklagt, Sinti und Roma [4][würden in Schrottimmobilien wohnen]. | |
Als ob die Menschen es sich aussuchen, so zu leben. Aber statt zu schauen, | |
welche wohnungspolitischen Maßnahmen helfen könnten oder wie man | |
kriminellen Vermietern den Riegel vorschiebt, wird den Opfern die | |
Verantwortung zugeschoben. | |
Noch immer ist [5][Antiziganismus in Polizeibehörden] ein großes Problem. | |
Da wird mal in Pressemitteilungen hervorgehoben, die Tatverdächtigen seien | |
Roma, mal steht in der Zeitschrift der Bundespolizei, Roma würden ihren | |
Kindern ein Wertesystem vermitteln, „das für die meisten Europäer kaum | |
vorstellbar erscheint“. Wie kann so etwas heute noch sein? | |
Wenn es um Sinti und Roma geht, verwandeln sich manche Polizeibeamte in | |
Hobbyethnologen. Auf pseudowissenschaftliche und pseudokriminalistische Art | |
wird da der allergrößte rassistische Schmu verbreitet. Auch dafür ist einer | |
der Gründe die fehlende Aufarbeitung des Völkermords. Damals beteiligte | |
Polizisten haben nicht nur ihren Dienst weitergeführt, sondern haben auch | |
Lehrbücher geschrieben, in denen diese Stereotype rauf und runter | |
vermittelt werden. Ein im Grunde genommen unerträglicher Zustand. Zu selten | |
habe ich in meiner anwaltlichen Tätigkeit Positivbeispiele erlebt, die | |
zeigen, dass wir es in Polizei und Justiz nicht mit einem geschlossenen | |
diskriminierenden Block zu tun haben. | |
Aber Sie haben sie erlebt? | |
Ich habe die Nebenklage bei einem Prozess in Baden-Württemberg vertreten. | |
Vier junge Nazis hatten eine Wohnwagensiedlung angegriffen. Die Polizei ist | |
von erster Sekunde an einem politischen, antiziganistischen Verdacht | |
nachgegangen. Der Staatsanwalt hat den Umstand in seiner Anklageschrift | |
betont, das Gericht hat der Nebenklage Raum gegeben und klar festgehalten: | |
Es handelte sich um eine rassistische und antiziganistische Tat. Es darf | |
aber nichts mit Glück zu tun haben, ob Betroffene vom Staat ernst genommen | |
werden. Das muss die Regel sein, und dafür brauchen wir Aus- und | |
Weiterbildung in Polizei und Justiz und eine selbstkritische | |
Auseinandersetzung. Das sind langwierige Prozesse, und dafür brauchen wir | |
auch dringend eine bessere Datenbasis. Die seit Jahren diskutierte Studie | |
zu Rassismus in der Polizei etwa muss diesen Teilbereich genau untersuchen. | |
Andere Dinge müssen sofort eingestellt werden, wie etwa die ethnische | |
Zuschreibung von Kriminalitätsphänomenen in Polizeistatistiken. | |
Was können Sie als Beauftragter denn bei solch gravierenden Missständen | |
ausrichten? | |
Wenn der Beauftragte sich alleine um das Thema kümmert, wird er krachend | |
scheitern. Was mir Zuversicht gibt, ist, dass wir jetzt eine | |
Bundesregierung haben, die das Thema ernst nimmt. Damit haben wir eine | |
gesellschaftliche Konstellation, die tatsächlich Lösungsansätze entwickeln | |
kann – so etwas gab es in den letzten Jahrzehnten nicht. Als Beauftragter | |
kann ich Aufmerksamkeit schaffen und dazu beitragen, dass Sinti und Roma in | |
ihrer politischen Arbeit, die sie seit Jahren machen, gestärkt werden. Auch | |
über den Haushalt. Wir müssen eine Realität schaffen, in der Sinti und Roma | |
öffentlich zu ihrer Identität stehen können, ohne | |
[6][Ausgrenzungserfahrungen] zu erleben. Elementar wichtig ist dabei: Wenn | |
über Sinti und Roma gesprochen wird, dann müssen Sinti und Roma mit am | |
Tisch sitzen. | |
Wie wird Ihre Position denn im Haushalt ausgestattet sein? | |
Das ist eine sehr gute Frage und wird noch Gegenstand von Gesprächen sein. | |
Da die Bundesregierung das Thema wie gesagt wichtig nimmt, gehe ich davon | |
aus, dass sich das auch in Zahlen ausdrücken wird. | |
Nun sind Sie selber nicht aus der Community. Ist das nicht ein Problem? | |
Beide Modelle haben Vor- und Nachteile. Niemand kennt die Community so gut | |
wie jemand aus der Community, und niemand weiß so gut, was die Menschen | |
erduldet haben und noch erdulden. Ich selber empfand es in den 1990er | |
Jahren als schmerzhaft, wenn auf Podien Biodeutsche sagten, sie könnten die | |
Rassismuserfahrungen der Menschen nachempfinden. Nein, können sie nicht. | |
Als Außenstehender kann man sich dem Schmerz nur annähern. Gleichzeitig | |
kann ein Nichtmitglied in dieser Funktion deutlicher machen, dass | |
Antiziganismus kein Problem der Sinti und Roma ist, für das sie selbst nach | |
innen Lösungsvorschläge finden müssen. Sondern, dass das Problem unsere | |
gesamte Gesellschaft betrifft und von dieser gelöst werden muss. | |
22 Mar 2022 | |
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[1] /Neue-Beauftragte-der-Bundesregierung/!5833992 | |
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[4] https://www.belltower.news/reportage-eine-roma-community-in-berlin-wird-bal… | |
[5] /Antiziganismus-bei-der-Polizei/!5629656 | |
[6] /Antiziganismus-in-Berlin/!5790273 | |
## AUTOREN | |
Dinah Riese | |
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