# taz.de -- Polizeigewalt in Tschechien: Der ungeklärte Tod | |
> Stanislav Tomáš starb nach einem brutalen Einsatz der Polizei. Am | |
> Wochenende wurde der tschechische Rom beerdigt. | |
Bild: Am 24. Juli 2021 wird der tschechische Rom Stanislav Tomáš in Teplice b… | |
TEPLICE UND PRAG taz | Der Vormittag fängt gerade erst an, doch die Sonne | |
brennt schon mit gleißenden Strahlen auf den Schlossplatz von Teplice | |
herab. Das Weiß der barocken Kirche Johannes der Täufer sticht an diesem | |
heißen Samstag im Juli besonders aus dem Blau des Sommers hervor. Auf dem | |
Platz kommt der Tag nur langsam in Gang, es ist Wochenende und Urlaubszeit. | |
Das Brautmodengeschäft hat noch geschlossen, die Sonnenschirme im Vorgarten | |
des noblen Hotels Prince de Ligne haben sich vom Gleißen der Sonne noch | |
nicht aus der Ruhe bringen lassen. Der moderne Einkaufstempel ums Eck gähnt | |
vor Leere, die Straßencafés der angrenzenden Fußgängerzone sind nur | |
spärlich besetzt. | |
Umso mehr fallen die Polizisten auf, die an sämtlichen neuralgischen | |
Punkten stehen oder parken, die zum Schlossplatz führen. Ob eine solche | |
Polizeipräsenz in Teplice üblich sei, mag der Polizist nicht sagen, der vom | |
Rand des Platzes aus die Kirche im Auge behält. | |
Vor dem Gebäude steht eine dunkelrote Limousine mit geöffnetem Kofferraum. | |
Aus der Kirche erklingt melancholische und doch sehr lebendige Musik. Die | |
Beerdigung von Stanislav Tomáš ist ruhig und würdevoll. Wenn die Polizei | |
Protest statt Pietät erwartet hat, dann deswegen, weil Tomáš' Tod | |
internationale Aufmerksamkeit erregt hat. | |
Stanislav Tomáš ist am 19. Juni nach einem Polizeieinsatz gestorben. Es | |
gibt ein kurzes Video davon. Ein Polizist drückt sein Knie minutenlang in | |
den Nacken von Stanislav Tomáš. Der stirbt kurze Zeit später in einem | |
Krankenwagen. Zeugenaussagen zufolge hatte Tomáš sich zuerst mit einem Mann | |
gestritten, um seine Aggressionen dann gegen sich selbst zu richten. | |
Videoaufnahmen zeigen, wie Tomáš vor dem Polizeieinsatz immer wieder brutal | |
den Kopf gegen ein Autofenster geschlagen hat. Laut Autopsiebericht soll | |
Tomáš zu diesem Zeitpunkt eine hohe Dosis Methamphetamin im Blut gehabt | |
haben, „Piko“ sagt man in Tschechien dazu. Dessen langjähriger Konsum soll | |
diesem Bericht zufolge auch schon die Herzkranzgefäße von Stanislav Tomáš | |
zerstört haben. | |
Im Hinblick auf den brutalen Polizeieinsatz, der an den Tod George Floyds | |
in den USA im Mai 2020 erinnerte, warf die offizielle Version vom Tod durch | |
Herzversagen durch langfristigen Drogenverbrauch die Frage auf, ob nicht | |
auch Polizeigewalt einen Anteil an Tomáš' Tod hatte. Innenminister Jan | |
Hamáček wie auch Ministerpräsident Andrej Babiš sahen keinen Bedarf, die | |
Situation zu entschärfen. Die beiden Politiker bedankten sich öffentlich | |
bei der Polizei für ihren Einsatz und betonten, drogeninduzierte Gewalt | |
stelle eine Gefahr für die Öffentlichkeit dar. | |
Internationale NGOs, der Zentralrat der Sinti und Roma, Amnesty | |
International und der Europarat forderten unabhängige Untersuchungen. Auch | |
die Menschenrechtsbeauftragte der tschechischen Regierung, Helena Válková, | |
eine Anwältin und ehemalige Justizministerin, sprach sich für eine weitere | |
Klärung aus. Die Familie von Stanislav Tomáš versuchte über einen Anwalt | |
eine zweite Autopsie gerichtlich durchzusetzen. | |
„Es gibt einfach noch zu viele Unklarheiten“, meint Roman Vasko und zuckt | |
die Schultern. Der Endvierziger ist zu Hause in der Roma-Community in | |
dieser Ecke Nordböhmens. Der gelernte Installateur kommt hier viel rum, als | |
Manager für einen mittelständischen Developer aus der Nachbarregion | |
verwaltet er mehrere Mietshäuser und Bauvorhaben. „Wer bei mir säuft oder | |
Drogen nimmt, fliegt“, sagt er. Mit Drogen meint er Piko, andere spielen | |
kaum eine Rolle. Sein älterer Bruder ist ebenfalls an Piko zugrunde | |
gegangen. „Der starb auch an Herzversagen“, murmelt Roman. | |
## Behörden lehnen zweite Autopsie ab | |
In Tomáš’ Fall mag Roman nichts ausschließen. Selbst fragt er sich ja, was | |
die Polizei hätte machen sollen, konfrontiert mit dem geballten | |
Adrenalinausschuss, den nur eine Überdosis Piko auszulösen vermag. Wenn er | |
von Unklarheiten spricht, dann, weil der Fall einfach zu schnell abgehakt | |
wurde, weil Fragen nach Fehlern vonseiten der Polizei zu entschieden | |
ausgeschlossen wurden. Die von vielen Seiten geforderte zweite Autopsie | |
haben die tschechischen Behörden als überflüssig abgelehnt. | |
„Vielleicht hätte es ja gereicht, unsere Bedenken einfach mal ernst zu | |
nehmen“, meint Roman. So zeige die Mehrheitsgesellschaft nur wieder einmal | |
mehr ihre Geringschätzung. Die nagt am meisten, sagt Roman, die | |
abschätzigen Blicke: „Am schlimmsten ist die mittlere, gutbürgerliche | |
Klasse.“ | |
Die Mitschülerinnen und Mitschüler seiner Kinder zum Beispiel, von denen | |
die beiden ältesten inzwischen studieren. Oder die, die ihm automatisch | |
absprechen, so zu sein wie jeder andere auch. „Mein Chef hat meiner Frau | |
und mir mal ein Wochenende in einem Prager Fünf-Sterne-Hotel geschenkt. An | |
der Rezeption haben sie nicht mal nachgeschaut und gesagt, wir seien im | |
falschen Hotel. Mein Chef musste erst anrufen und klären, dass unser | |
Aufenthalt nicht nur reserviert, sondern auch bezahlt war.“ | |
Geboren und aufgewachsen ist Vasko in Chanov. Der Stadtteil gilt in | |
Tschechien als symbolischer Ort für alles, was beim Zusammenleben von Roma | |
und Mehrheitsgesellschaft schiefläuft. Es gehört zu Most, einer | |
Nachbarstadt von Teplice. Wie alle der schätzungsweise etwa 250.000 Roma, | |
die in Tschechien leben, hat Vasko seine Wurzeln in der Ostslowakei. „Meine | |
Eltern sind den 60er Jahren hierher übergesiedelt“, erzählt Vasko. „Wegen | |
der Arbeit“. | |
Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen die Roma in mehreren Siedlungswellen aus | |
der Ostslowakei nach Böhmen und Mähren. Sie sollten helfen, die | |
Grenzgebiete des Landes neu zu besiedeln, die durch Vertreibung ihrer | |
deutschsprachigen Bevölkerung zwischen 1945 und 1947 entvölkert wurden. | |
Außerdem hielten es die Verantwortlichen damals für einfacher, die Roma aus | |
ihren Siedlungen zu zwingen, als diese mit Strom oder Wasser zu versorgen. | |
„Mein Großvater war noch ein richtiger Zigeunerbaron“, lacht Vasko. Aber er | |
meint es ernst. Er ist stolz auf seine Familiengeschichte, darauf, dass | |
sein Großvater unter dem tschechischen General Ludvík Svoboda gegen die | |
Nazis gekämpft hat und später als eine Autorität unter den Roma im | |
äußersten Osten der Slowakei galt. Ein „Baron“ war er deswegen natürlich | |
nicht. „Aber ein Zigeuner“, betont Vasko. Genauso wie er. Mit der | |
Bezeichnung Rom kann er nichts anfangen, er verbindet sie mit einem Verlust | |
kultureller Identität. | |
„Siebzig bis achtzig Prozent unserer Leute hier sind irgendwie kaputt, die | |
sind aufgewachsen fern von Bildung und ohne Perspektiven“, sagt Vasko und | |
ärgert sich darüber. „Wozu das führt, konnten wir ja jetzt gerade sehen, | |
bei diesem ganzen Theater um die Beerdigung von Stanislav“, brummt er mit | |
leichtem Zynismus in der Stimme. „Da haben wir die halbe Welt auf uns | |
aufmerksam gemacht, und dann das.“ | |
## Obskure Prediger tauchen auf | |
Der brutale Tod von Stanislav Tomáš hat nicht nur international für Aufruhr | |
gesorgt, sondern auch ein absurdes Phänomen innerhalb der | |
tschechoslowakischen Roma-Gesellschaft an die breitere Öffentlichkeit | |
gebracht: sogenannte Laifer. Laifer wie in life auf Facebook. Dahinter | |
verbergen sich selbsternannte Prediger, die sich in stundenlangen | |
Livestreams auf Facebook als Retter und Erlöser stilisieren, oder, wie | |
einst Mel Gibson als William Wallace im Film „Braveheart“, den Kampf um | |
Freiheit beschwören. | |
Kurz nach Tomáš’ Tod begannen sie, um die Schwester des Verstorbenen zu | |
kreisen und die Sache an sich zu reißen. Tomáš solle in einem weißen Sarg | |
beerdigt werden, der extra aus Amerika eingeflogen werde, Kostenpunkt | |
umgerechnet 7.000 Euro, die aus Spendengeldern finanziert werden sollten. | |
Mit solchen und weiteren Phantasmagorien hatten „Laifer“ es geschafft, die | |
Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und gleichzeitig Aktivistinnen und | |
Aktivisten und Organisationen, die sich um die Belange der Verbliebenen | |
kümmern wollten, zu verdrängen. Etwas über 6.000 Euro an Spendengeldern | |
sollen laut Berichten geflossen sein. Angekommen sind sie nicht, wie die | |
tschechischen Zeitungen kurz vor Tomáš’ Beerdigung mehr oder weniger | |
höhnisch berichteten. | |
„Je mehr wir auf Bildung setzen, desto irrelevanter werden solche falschen | |
Prediger“, sagt Stefan Balog. Der 28-Jährige leitet seit über fünf Jahren | |
das Stipendienprogramm der NGO Romea in Prag. „Seit 2016 haben wir etwa 360 | |
Stipendien an Roma und Romnija vergeben, die hier an Universitäten und | |
Hochschulen studieren“, sagt Balog. Seine Mutter ist Olas-Romni, sein Vater | |
stammt aus der Slowakei, Balog ist Prager. „Ich bin hier in einer | |
Multikultigesellschaft aufgewachsen, spreche Rominja und bin mir meiner | |
Kultur und Tradition bewusst“, erzählt Balog, der an der Prager | |
Karls-Universität Genetik studiert hat. Seine Berufung hat er darin | |
gefunden, dazu beizutragen, dass auch Roma außerhalb der Prager Blase | |
genauso normal leben wie er. | |
„Meine rosa Brille habe ich an der Uni abgesetzt, als mir ein Kommilitone | |
erzählte, wie oft ihm sein Studentenausweis nicht abgenommen wird, weil er | |
ein Rom ist.“ Ein Rom, so das übliche Stereotyp, kann unmöglich an einer | |
Uni studieren. Der kann höchstens musizieren, so fasst Stepan Balog die | |
Vorurteile zusammen, die er bis heute mitbekommt. | |
Dabei gebe es schon einige Tausend Roma, die an tschechischen Hochschulen | |
studieren. „Wir haben viele Jurastudenten oder angehende Ärzte, das ist | |
wichtig. Viele glauben ja auch, wenn ein Rom studiert, dann Sozialarbeit. | |
Das ist Quatsch.“ | |
Die Zukunft der Roma sieht Balog positiv, deshalb arbeitet er auf sie hin. | |
„Unsere Stipendiaten dienen als Beispiel für die Mittelschüler und | |
Grundschüler. Für viele Kinder, für die Bildung von zu Hause aus fremd und | |
fern war, die in den Schulen deswegen bis heute in spezielle Klassen | |
gesteckt werden“, sagt Balog. Und wenn sie aus dem Milieu rauskommen, dann | |
erwartet sie die Diskriminierung auf den Wohnungsmarkt. „Das ist für viele | |
eine fast unüberwindliche Hürde“, sagt Stefan Balog. | |
Die Mehrheitsgesellschaft macht es den Roma schwer. Den Teufelskreis | |
durchbrechen können sie aber durch Bildung, meint Balog. Denn „Wenn sie mal | |
einen Titel vor dem Namen haben, dann sind sie auch in der Gesellschaft | |
angekommen.“ | |
## Der Priester redet von Barmherzigkeit | |
Bei der Beerdigung von Stanislav Tomáš in Teplice hat der Priester mit | |
seiner Predigt begonnen. „Es wird kein Schmerz mehr sein“, sagt er. Der | |
Sarg, von zwei Blumengebinden in Herzform umgeben, ist schneeweiß, wie auch | |
das Gesteck, das ihn schmückt. Die Fotoapparate und Kameras, mit denen die | |
Gäste sich eben noch um den Sarg geschart haben, in dem der einbalsamierte | |
Leichnam von Tomáš offen zur Schau gestellt wurde, sind aus Pietät | |
verstummt. Die Filmenden und Fotografierenden haben sich in den | |
Eingangsbereich der Kirche zurückgezogen. | |
Der Priester erzählt viel von der Barmherzigkeit, die Tomáš jetzt bei Gott | |
finden wird. Über sein Leben erzählt er nichts. Nach der kurzen Predigt | |
wird der Sarg durch das Kirchenschiff getragen, vier Musiker schreiten | |
voran und spielen noch, als der Sarg schon in der dunkelroten Limousine | |
liegt. Sie spielen ihm ein letztes Ständchen, umgeben von Trauergästen und | |
ein paar Neugierigen, die schon zuvor ein Selfie vor dem offenen Sarg | |
gemacht hatten. | |
Die NGO Romea, die mit ihrer Webseite und in den sozialen Medien auch bei | |
vielen Roma als Diskussionsplattform beliebt ist, überträgt die Trauerfeier | |
live ins Internet. Daneben sind sämtliche tschechische Nachrichtensender | |
vertreten. | |
Als die Limousine losfährt, laufen die Musiker ihr voraus und lenken sie in | |
langsamen Schritten über den Schlossplatz, der noch immer verschlafen unter | |
der gleißenden Julisonne liegt. Die rund 40 Trauergäste schreiten langsam | |
hinterher, unter den Klängen der „Schicksalsmelodie“ aus „Doktor Schiwag… | |
Am Rand des Schlossplatzes angekommen, dort, wo die Polizei die Kirche seit | |
Beginn der Beerdigung im Auge behält, nimmt die Limousine Fahrt auf und | |
biegt nach rechts in Richtung Einkaufszentrum zum nächsten Kreisverkehr. | |
Von dort führt der Weg des Autos aus der Altstadt von Teplice heraus zum | |
Friedhof der Stadt, wo Stanislav Tomáš endlich seine letzte Ruhe finden | |
darf, fünf Wochen nach seinem Tod. | |
26 Jul 2021 | |
## AUTOREN | |
Alexandra Mostyn | |
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